Kann Kirche Ehrenamt? – Impuls beim Tag rheinischer Presbyter*innen

These 1: Kirche wird wieder „Ehrenamtskirche“.
Aber was können Berufliche tun, um Ehrenamtliche zu stärken? Was lernen beide Seiten voneinander? Und welche Rolle werden in Zukunft die Ämter spielen, die Arbeit bündeln und strukturieren– Pfarramt, Leitungsamt, Ehrenamt?

Kann Kirche Ehrenamt? Wer, wenn nicht wir, möchte man sagen. Was wäre die Reformation ohne das Priestertum aller Getauften, wie hätte sich unsere Gesellschaft entwickelt ohne CVJM, Frauenhilfe und Innere Mission? Unser Sozialstaat ohne die Engagierten in der Vereinen des  19. Jahrhundert? Bis heute sind etwa die Hälfte der Ehrenamtlichen  im Umfeld der großen Kirchen aktiv[1]. Sie engagieren sich in Kirchengemeinden, Jugendverbänden und Frauengruppen. Im Hospiz und an der Tafel, in Kindergartenräten oder bei Freizeiteinsätzen, in den Aufsichtsräten Diakonischer Einrichtungen. Vielleicht sind Sie überrascht? Tatsächlich werden in den kircheninternen Statistiken nur die Engagierten in den Gemeinden gezählt. Und das sind deutlich weniger. Aber der letzte Freiwilligensurvey der Bundesregierung zeigt: Die Zahl der Ehrenamtlichen ist auch in den Kirchen gestiegen, obwohl die Mitgliederzahlen zurückgehen. Und fast 49 aller Evangelischen sind freiwillig engagiert – gegenüber 43,6 % in der gesamten Gesellschaft- und sogar 66,7% von denen, die sich stark mit der Kirche verbunden fühlen. Und trotzdem: Wenn der Deutsche Engagementpreis vergeben wird, kommen die Kirchen selten vor.  Sie  gelten als verstaubte Institutionen mit einem veralteten Ehrenamtsbegriff – die Engagementszene setzt auf attraktive Projekte und das selbstbestimmte, neue Ehrenamt. Inzwischen vergibt die Kirche selbst Ehrenamtspreise mit durchaus pfiffigen Ideen.

Verglichen mit Sport, Feuerwehr, Parteien und Initiativen haben Ehrenamtliche bei uns noch immer besonders viele hauptamtliche Ansprechpartner. Gute Steuereinnahmen, ein starker Sozialstaat und die Refinanzierung von Jugend- und Sozialarbeiterstellen ließen die Zahl der Hauptamtlichen bis vor 20 Jahren stetig ansteigen- Kirche hat sich professionalisiert. Und die Ehrenamtlichen schätzen die Unterstützung  der beruflich Tätigen. Aber nur 30 Prozent der Freiwilligen haben das Gefühl, gleichberechtigte Partner*innen zu sein. Nach ihrem Eindruck werden sie oft als Helfer*innen gesehen, die die Hauptamtlichen entlasten. Nur bei Ehrenamtlichen in Leitungsfunktionen ist das anders:  Sie haben das Gefühl, geschätzt zu werden und ihre Fähigkeiten einbringen zu können.  Die  Engagierten an der Basis sind sich der Anerkennung in der Gemeinde nicht sicher.[2]

An wen denken Sie, wenn Sie vom Ehrenamt sprechen?  Die Ehrenamtlichen an der Basis- in Frauen- und Jugendarbeit, im Chor und Kindergottesdienst oder auch im Besuchsdienst. Die sich an der Tafel oder im Elternrat einbringen oder Hospizarbeit leisten? Viele sprechen da lieber von Freiwillig Engagierten. Oder denken Sie an die Ehrenamtlichen in der Leitung? Die  über Gemeindekonzepte, Finanzen, Personal entscheiden- die haben tatsächlich ein Amt im kirchlichen Sinne. Übrigens wurde der Begriff „Ehrenamt“ im 19. Jahrhundert wichtig, als die Städte immer mehr Aufgaben übernahmen und man zwischen beruflicher Arbeit und bürgerschaftlichem Engagement unterschied- in den Kommunen und auch in den Kirchen. Und wenn Sie an Hauptamtliche denken? Denken Sie an die Pfarrpersonen, die angesichts des Stellenabbaus wieder zu Generalisten werden? Oder an die Sozialpädagoginnen und Diakone, Küster und die Gemeindesekretärinnen, die gerade ein neues Selbstverständnis entwickeln: Sie sollen jetzt Ehrenamtlichkeit stärken, Dienstleister sein, auf Augenhöhe kooperieren. Nur, dass sie selbst erhebliche Existenzängste haben.

Pfarrer und andere Hauptamtliche, Ehrenamtliche und Engagierte- ist das das Gegenüber? Oder geht es um die Entscheider*innen im Presbyterium und die anderen, die umsetzen? Es ist wie auf dem Balancebrett– unterschiedliche Gruppen versuchen, das Gleichgewicht in der Gemeinde zu halten. Sobald sich jemand bewegt, verändert sich die Statik– wie bei einer Wippe auf dem Spielplatz oder einem Boot auf den Wellen. Lehnt sich einer rechts raus, muss der andere auf die linke Seite wechseln, wenn er nicht herunterfallen will. Wenn jemand einen Schatz auf das Boot wirft, um den alle rangeln, beginnt das Powerplay. Zwischen Pfarrerin und Kirchenvorstand. Zwischen Ehrenamtlichen im Kirchenvorstand und denen in der Gruppe 50plus. Um Geld, um Stellen, um Aufmerksamkeit. Manche denken, wir brauchten nur mehr Ehrenamtliche, wenn die Zahl der Hauptamtlichen zurückgeht. Andere wissen: die Strukturen müssen sich ändern. ´

Kann Kirche Ehrenamt? Wo, wenn nicht hier? Wenn  von der Dienstgemeinschaft von Haupt- und Ehrenamtlichen die Rede ist, wird an die Barmer Theologische Erklärung erinnert. Die Kirche als Gemeinschaft der Schwestern und Brüder. Haupt-und Ehrenamtliche auf Augenhöhe So heißt es zum Beispiel im Ehrenamtsgesetz der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau: In der Evangelischen Kirche ist es Aufgabe aller Getauften, am Bau des Reiches Gottes verantwortlich mitzuwirken. Deshalb ist ehren-, haupt- und nebenamtliche Arbeit gleichwertig. In der Zusammenarbeit prägen alle gemeinsam und gleichberechtigt Leben und Gestalt von Gemeinde und Kirche.“

So soll es sein. Ehrenamtliche machen aber auch  andere Erfahrungen: Hauptamtliche  bestimmen die Termine und delegieren die Aufgaben.  Ehrenamtliche werden mangelhaft informiert und haben das Gefühl, dass sie nicht wirklich gesehen werden- mit ihren beruflichen Belastungen, mit der Zeit, die sie einbringen. Klar, das gibt es auch in der Politik: Die Verwaltung gewinnt immer- man nennt es das Principal –Agent-Problem. Aber Kirche ist eben mehr als Verwaltung, es geht um geistliche Gemeinschaft. Vor 25 Jahren, beim Tag Rheinischer Gemeinden 1996, stand über dem Forum zu Haupt- und Ehrenamt: „Von der Spannung zwischen Theorie und Praxis“.  Machtfragen, Finanzfragen, Terminfragen, Genderthemen- das sind auch 25 Jahre später die Stolpersteine auf dem Weg. Aber vergessen wir nicht: auch in Barmen war tatsächlich nur von Brüdern die Rede.

Aber manchmal gibt es Sternstunden. Während der Flüchtlingskrise gab es kaum Spannungen zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen. Im Gegenteil. Ehrenamtliche haben deutlich gemacht, wie sehr sie auf hauptamtliche Strukturen angewiesen sind. Und Hauptamtliche haben sich für Fortbildung und Supervision von Ehrenamtlichen eingesetzt. Ob es eine Rolle spielt, dass es in diesem Arbeitsfeld noch keine festgeschriebenen Standards gab, keine eingefahrenen Konflikte und auch keine Ängste vor Stellenstreichungen? Die Flüchtlingskrise hat uns an unseren Auftrag erinnert. Es ging um grundlegende Überzeugungen. Dass es ein gemeinsames Ziel gibt, gehört zu den Geheimnissen guter Zusammenarbeit. Dass wir uns öffnen, lässt uns wachsen.

Was können wir tun, um uns aus falschen Frontstellungen zu befreien?  „Seitenwechsel“ zwischen beruflicher und ehrenamtlicher Tätigkeit  werden normaler. Diakonische Organisationen laden dazu ein- für einen Tag oder für vier Wochen. Große Unternehmen wie Ford oder Henkel haben schon vor Jahren die Förderung der Freiwilligkeit entdeckt – nicht zuletzt, um ihren Mitarbeitenden den Übergang in die Rente zu erleichtern. Und auch in Kirche und Diakonie arbeiten viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrer Freizeit oder nach dem Ende der Berufstätigkeit ehrenamtlich– oder sie haben als Jugendliche ein Freiwilliges Jahr absolviert. Noch zu selten werden solche Seitenwechsel fruchtbar gemacht- für die Personalentwicklung zum Beispiel. Wenn wir die traditionellen Hierarchien von Ämtern, Geschlechtern, bezahlten und unbezahlten Kräften überwinden wollen,  braucht es bewusste Perspektivwechsel. Seitenwechsel.


These 2: Kirche wird anders sein – und auch  Ehrenamt wird anders sein, wenn wir aus dem Lockdown herauskommen. Neue Initiativen wie Einkaufsnetze, Impfpat*innen, Telefondienste und Digitalpat*innen sind entstanden und haben das freiwillige Engagement stark gemacht. Zugleich zogen sich langjährig Engagierte zurück. Mittagstische und Gesprächsgruppen fielen aus. Leihomas und Besuchsdienste hatten es schwer. Manche wurden beklatscht, manche sind gekränkt.

Auch in der aktuellen Krise gibt es Sternstunden: Kirche digital. Kirche im Quartier. Kirche vielsprachig unterwegs. Wer sich auf Facebook oder Instagram umschaut, kann den Eindruck bekommen, dass gerade viele Gemeinden neue Welten entdecken. “ Dich schickt der Himmel“ in Hundelshausen beliefert morgen 125 Ältere mit einem Sonntagsteilchen und einer Andacht in der Tüte. Da haben evangelische Gemeinde, katholische Pfadfinder und die Stadt in kurzer Zeit ein großes Nachbarschaftsnetz aufgebaut. Eine Gemeinde in Stuttgart hat eine WhatsApp –Andacht organisiert – wer interessiert ist, kann sich einfach einloggen und bekommt mittags um 12 einen kleinen Impuls. Von Haupt- und Ehrenamtlichen. Und in Siegburg haben engagierte Schüler- und Ausbildungsmentoren im Lockdown auf digitale Arbeit umgestellt.

An vielen Orten sind der Kirche Engagierte zugewachsen, mit denen sie gar nicht gerechnet hätte. Menschen, die Augen im Kopf haben und sehen, was nötig ist – und was möglich ist. Das ist die Erfahrung, die ich vor langer Zeit im Wickrather Gemeindeladen gemacht habe: Kaum war das Quartierscafe fertig, fanden sich Menschen ein, die ihre Gaben einbringen wollten: Second-Hand-Kleider verkaufen, Pflegende Angehörige begleiten, Einkaufsdienste organisieren. Ehrenämter, die es vorher so nicht gab. „Ich kann nicht singen und reden“, schrieb mir eine Frau. „Aber das kann ich“. Seitdem weiß ich: Wer den Scheinwerfer neu ausrichtet, entdeckt neue Landschaften.

Während des Lockdowns sind allerdings auch Aufgaben und Ehrenamtliche im Schatten verschwunden. Mittagstische, Gesprächsrunden, Chore fielen aus. Leihomas konnten nicht zu ihren Patenkindern. Manche haben Alternativen entwickelt: Telefonkonferenzen, digitale Besuchsdienste. Andere fühlten sich alleingelassen, erschöpft, vergessen. „In der Kirchengemeinde haben wir zu Ostern eine Kerzenaktion für Alleinlebende durchgeführt mit einer Osterbotschaft, sagt eine ältere Freundin aus Hannover„ Das hat offenbar viele positive Reaktionen hervorgerufen. Aber danach haben wir von der Gemeinde nichts mehr gehört. Das war arg.“ Nicht wenige haben sich entschieden, das eigene Alter ernst zu nehmen und jetzt einfach aufzuhören. Nicht nur in der Kirche. Die Bedeutung der Zivilgesellschaft wurde während der Corona-Krise unterschätzt. Das gilt für die Vereine im Breitensport. Für die Schulbegleiter*innen und Lernpaten. Für die Mitarbeitenden an den Tafeln. Viele von ihnen waren älter- und galten plötzlich als vulnerable Gruppe.

Dabei sind es die 55- 69-jährigen, die sich im sozialen Ehrenamt am stärksten engagieren. Sie fahren die Bürgerbusse, arbeiten in den Dorfläden mit und sind die Initiatoren der Sorgenden Gemeinschaften.[3] Sie stellen auch den größten Teil der Ehrenamtlichen in den Kirchengemeinden, halten den Besuchsdienst aufrecht, organisieren Adventsfeiern. Sie sind häufig lange am Ort und bringen breite Lebenserfahrungen ein. Die Corona-Krise hat uns bewusst gemacht, welche Rolle die Großelterngeneration für die Familien spielt – gerade weil sie sich nicht mehr begegnen durften. Die Zeit für die Betreuung der Enkel und die Pflege der Eltern hat sich seit 1996 vervierfacht.[4] Die Frauen, die das betrifft, bildeten bis vor einigen Jahren den Kern des kirchlichen Ehrenamts.

In den Kirchen sind nach wie vor 70 Prozent der ehrenamtlichen Frauen. Bei einer Caritasuntersuchung 2007 waren 56 Prozent davon 60 Jahre oder älter. Und nur jede dritte berufstätig. Heute arbeiten die meisten mindestens in Teilzeit. Sie bringen ihre Kompetenzen aus der Arbeitswelt selbstbewusst ein. Und natürlich erwarten sie Wertschätzung, klare Vereinbarungen und geklärte Kompetenzen, Fortbildungsangebote und Mitsprachemöglichkeiten und auch Auslagenersatz. Aber die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Ehrenamt bleibt schwierig. Das bundesdeutsche Sozialsystem stützt das soziale Ehrenamt nach dem Hausfrauenmodell. Das soziale Engagement braucht eine grundlegende ökonomische Absicherung– zum Beispiel bei der Berücksichtigung von Versicherungszeiten. Und wir müssen über neue Zugänge zum Ehrenamt nachdenken-  für Männer und Frauen,  beim Einstieg in die Dritte Lebensphase. Und vorher zwischen Schule und Beruf. Denn die Schul- und Ausbildungsbedingungen haben auch das Ehrenamt in der Jugendarbeit verändert.

Die besten Zeiten für das Ehrenamt sind an den Schnittstellen des Lebens. Die beste Gelegenheit, Netze zu knüpfen, ist in den persönlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Arbeitslose, prekär Beschäftigte, Jugendliche in Arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Hartz-IV-Empfänger haben kaum Ressourcen für freiwilliges Engagement. Meist fehlt es nicht nur an Geld oder Bildung, sondern mehr noch an sozialen Netzen. Ehrenamt muss man sich leisten können. Jetzt, in der Kurzarbeit, haben sich einige ehrenamtlich oder für eine geringfügige Beschäftigung in Alten- und Pflegeheimen engagiert.  

Wenn der Lockdown vorüber ist, wird das Ehrenamt in der Kirche anders aussehen. Viele haben sich in diesen Monaten freiwillig engagiert – bei Einkaufsdiensten, als Impfpaten, in Pflegeheimen. Wenn der Alltag wieder beginnt, wird das zu Ende sein. Ganz so wie bei anderen ehrenamtlichen Projekten.

Ältere sind aus vertrauten Ämtern ausgeschieden. Aber die digitale Nachbarschaftsplattform Nebenan.de – meist von Älteren genutzt –boomt. Und während der Corona-Krise erlebte sie in ganz Deutschland einen zusätzlichen Aufschwung.Die Arbeit in Quartier und Nachbarschaft ist für die Kirchengemeinden eine große Herausforderung.

Wie sind unsere Konzepte nach dem Lockdown? Wie danken wir den kurzfristig Engagierten? Das gilt es, glaube ich, noch zu lernen. Wer überlegt mit den Älteren, ob und wie es weitergeht. Vielleicht ist es jetzt Zeit, eine Ehrenamtskoordination einzuführen? Und Mentorinnen und Mentoren. Und was ist mit denen, die sich Ehrenamt nicht leisten können? Da können wir viel lernen von der Diakonie, von Freiwilligenagenturen und auch von Henkel.


These 3: Ehrenamt organisiert sich zunehmend selbst- auch im Netz. Ehrenamtliche engagieren sich in unterschiedlichen Institutionen – sie brauchen dazu weder Kirche noch Religion. Christ*innen sind nicht nur in den Gemeinden engagiert, sondern auch in Vereinen, Schulen, vielfältigen Initiativen. Darin liegt eine oft übersehene Chance.

Ehrenamtlich ist meist in Strukturen verankert und darin verbindlich und verantwortlich – sei es formal im Sinne eines Wahlamtes, sei es in der festen Übernahme einer Aufgabe in einer Organisation oder in persönlichen Absprachen in Gruppen und Netzwerken.

Aber das verändert sich. Laut einer Allensbach – Untersuchung zum Engagement in der Flüchtlingshilfe von 2017 arbeiteten 40 Prozent der Engagierten in Gruppen, die sich ausschließlich zu diesem Zweck gegründet haben- ohne Rechtsform, mit flachen Hierarchien und einem hohen Maß an Beteiligungsmöglichkeiten.  23 Prozent haben sich auf eigene Faust und außerhalb aller Institutionen engagiert. Es dominierten junge Leute zwischen 20 und 30- und sie organisierten sich nicht zuletzt über die neuen Medien.[5] Mehr als je zuvor wurde schon in dieser Krise das „neue Ehrenamt“ für alle erkennbar: Es ist kurzfristig und projektorientiert. Nach einem Einsatz zieht man sich zurück, kann aber später auf das gewonnene Netzwerk“ zurückgreifen.

Die Ehrenamtlichen von heute „gehören“ keiner Organisation. Im Gegenteil: Sie sind es, die mit ihren Ideen nach den passenden Einsatzfeldern suchen und Innovationen vorantreiben.  Engagementagenturen, Freiwilligenbüros, Ehrenamtsmessen zeigen: Ehrenamt ist institutionsübergreifend. Inzwischen sind vierzig Prozent der Engagierten in der evangelischen Kirche auch an anderer Stelle aktiv. Immerhin 10 Prozent organisieren ihr Ehrenamt unabhängig von Trägern. Klammern hilft da nicht. Es geht darum, sich über die eigenen Stärken klar zu werden.

Es gab mal eine Werbung für ein Deodorant. „Mein Bac, Dein Bac, Bac ist für uns alle da“. Daran denke ich oft, wenn über Ehrenamtliche gestritten wird: Zwischen Kirche und Diakonie zum Beispiel. Meine Ehrenamtlichen, Deine Ehrenamtlichen. Tatsächlich gibt es da unterschiedliche Fortbildungsangebote, Einsatzfelder, manchmal auch unterschiedliche finanzielle Regelungen. Jahrelang hatte ich den Eindruck, Diakonie gehe professioneller mit dem Thema um: strukturierter, klarer in der Rollenverteilung. Weniger vereinnahmend. Aber jetzt mischen sich die Netzwerke; wir lernen voneinander. Aber hinter dieser Reibung steht eine gesellschaftliche Veränderung: Es gibt einen  Wettbewerb um die Ehrenamtlichen. Um ihre Zeit, ihr Wissen, ihre Kompetenz.

Aber Ehrenamtliche kann man nicht funktionalisieren. Auch  nicht mit den besten Zielvereinbarungen und Kontrakten. Sie haben keinen Job. Was Sie tun, das tun Sie aus eigener Motivation und Überzeugung. Denken Sie nur an die Ärztin Lisa Federle- mit ihrem Engagement beim Roten Kreuz hat sie gerade Tübingen zur Corona-Modellstadt gemacht. Es geht um Selbstwirksamkeit, neue Erfahrungen und Kontakte. Über das Ehrenamt entstehen neue Zugangsqualifikationen, werden neue Netze geknüpft. Und es geht um Sinn. Ehrenamtliches Engagement hilft Lebensübergänge zu gestalten – von der Schule in den Beruf, von der Erwerbstätigkeit in die dritte Lebensphase, von der Familienphase zurück in den Beruf. Hier suchen Menschen ihre Berufung“; sie wollen finden, was den Einsatz lohnt.

Wenn man betrachtet, aus welchem relativ begrenzten Reservoir sich kirchliches Engagement heute speist- es sind bestimmte soziale Schichten, Altersgruppen und Lebensstilmilieus sind unterrepräsentiert – dann kann man annehmen, dass hier ein großes Potential ruht.


These 4: Wo Vertrauen wächst, reden Menschen auch über Glauben und Lebenssinn. Nicht nur in der Kirche – auch beim Yoga, bei der Feuerwehr oder bei den Patenenkeln. Und beim Stadtteilfest mit Einheimischen und Zugewanderten. Es geht nicht um die Zukunft unseres Clubs. Wir interessieren uns auch für Leute, die nicht zu uns passen. Menschen um Gottes Willen Mut machen – zum offenen Leben mit Grenzen, zum Miteinander bei allen Unterschieden, zum Gottvertrauen, zum nächsten Schritt. Was kann die Kirche tun, um mit Engagierten ins Gespräch zu kommen? 

Ein alter kirchlicher Begriff ploppt plötzlich wieder auf: Berufung. Es geht darum, etwas zu finden, was Einsatz und Hingabe lohnt. Manche lassen sich auf einer Reise inspirieren, andere durchleben eine Krankheit oder landen in einer beruflichen Sackgasse und entdecken dann einen alten Traum, einen neuen Lebenssinn. Gebraucht werden, etwas Sinnvolles tun. Die Arbeit soll auch die eigene Seele füttern. Wo der Brotberuf das nicht bringt, kann es auch ein Nebenjob sein. Oder eben ein Ehrenamt. Freiwilliges Engagement lebt aus intrinsischer Motivation – äußerer Druck und monetäre Anreize passen nicht dazu.  „Würde ich dafür bezahlt, würde ich es nicht machen“, sagen viele.

Nicht alle, die sich heute engagieren, sind Kirchenmitglieder. Häufig hatten sie sich schon lange der Kirche entfremdet oder gehörten ohnehin nie dazu. Aber Engagement öffnet für spirituelle Erfahrungen. Immerhin zweiundzwanzig Prozent der ehrenamtlich Engagierten geben an, dass sie mit anderen über religiöse Fragen sprechen- bei den Nichtengagierten sind es weniger als 10 Prozent.

Aber auch Mitgliedschaft bedeutet nicht unbedingt, dass Menschen sich mit der Kirche identifizieren. Engagierte müssen gewonnen werden- durch Mentoring, Fortbildung und Supervision, durch Ehrenamtstage und Kinderbetreuung. Und auch durch Gespräche über Glaubensfragen. Das gilt nicht nur für  Telefonseelsorge, der Krankenhausseelsorge, der Hospizarbeit. Da ist klar – es braucht es eine  theologisch gegründete Weiterbildung. Aber wer an der Tafel hilft oder in der Flüchtlingsarbeit, wird ähnliche Fragen haben. Da geht es um Gerechtigkeit und eine andere Zukunft. Wie weit muss der Weg von der Tafel zum Gottesdienst sein?

Wenn man die Einsicht ernst nimmt, dass Glaube immer ein Prozess ist und dass Areligiosität auch unter Kirchenmitgliedern vorhanden ist, dann wird es absurd, ausschließlich zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft zu unterscheiden, sagt Hans-Martin Barth[6] . Das Engagement in der Gemeinde kann den Weg zur Mitgliedschaft ebnen. Deshalb sollten wir überlegen,  wie die Teilhabe von Interessierten aussehen kann. Was sie entscheiden können.

Es gibt eine hohe Verbundenheit mit der Kirche ohne aktive Praxis.  Es gibt aber auch eine hohe Verbundenheit mit dem christlichen Glauben und einer entsprechenden ehrenamtlichen Praxis bei deutlicher Distanz zur verfassten Kirche, sagt Heinz-Peter Hempelmann, der verschiedene Sinus-Studien verglichen hat. Das kirchliche Ehrenamt ist also nur ein Ausschnitt des Engagements von Christinnen und Christen, Deshalb liegen große Chancen darin, wenn die Kirche sich für die Engagierten in Vereinen, Schulen, Initiativen öffnet. Und damit für andere Ausschnitte der Gesellschaft.

Der Gemarker Pfarrer Paul Humburg sagte im Mai 1934 in der Barmer Stadthalle, die bekennende Gemeinde habe die Pflicht, darum zu ringen, als Gemeinde das Herz der Welt zu sein. Aber nicht der geographische Raum zähle, Erweckungslust und Veränderungsbereitschaft müssten Raum gewinnen. Denn die Kirche sei nicht dazu da, nur die eigene Gemeinschaft zu pflegen oder ein unverbindliches Christentum als Gesellschaftsreligion zu stützen.  Anknüpfend an Barmen sah Gollwitzer dann die Zukunft der Kirche in einer Personengemeinschaft auf lokaler und regionaler Ebene, in sozialen Netzwerken, die über die Parochie hinaus gehen, im Bekanntmachen des neuen Lebens- nicht nur in Worten, sondern auch in einem neuen Lebensstil. In der Volkskirche mit ihrem Vorrang des Amtes vor den Charismen sah er Elemente der falschen Kirche. Gleichwohl blieb sie für ihn der Ort, an dem die wahre Kirche Ereignis werden kann.

Vielleicht so, wie Renate Abesser sagt: „Ich sehe die Herausforderung besonders Menschen gegenüber, die sich nicht mehr einer Gemeinde verbunden fühlen. In dem Satz „Für meinen Glauben brauche ich keine Kirche“,  schwingt oft eine Enttäuschung über exklusive kirchliche Strukturen mit. Dahinter liegt meist die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit. Genau diese Menschen erreichen wir mit öffentlichen Angeboten zu drängenden (Lebens-)Themen und in krisenhaften Lebenssituationen – im besten Fall so, dass sie sich eingeladen fühlen, sich selbst zu engagieren.“


These 5: „Vereinsmeier“ sind wir nicht. Aber wir können von Vereinen lernen.
Zum Beispiel von Auslandsgemeinden. Da steuert die ehrenamtliche Leitung den ganzen Laden. Nach innen vom Profil bis zur Organisation und nach außen mit Projekten, die weit in die Gesellschaft hineinwirken. Als Gemeinde sind wir heute schon Teil der Zivilgesellschaft. Und zugleich noch immer öffentlich-rechtliche Institution. Das kann lähmen. Wie kann es gelingen, beides gut zu verknüpfen?

Ich erinnere mich an eine Kirchenvorstandssitzung morgens um 6.30 Uhr in Chicago: Bei Automatenkaffee plante die UCC-Gemeinde eine Mitgliederbefragung – mit hoher Professionalität. Ich denke auch an die ehrenamtliche Vorsitzende eines Altenzentrums, die mir Visitenkarte, Vorstellungsmappe und Flyer ihres Ehrenamtprogramms mitbrachte – 150 Ehrenamtliche waren dort „beschäftigt“. Das ist jetzt fast 30 Jahre her – und ganz langsam merke ich, das ist uns nicht mehr so fremd. Diese Leute leiteten mit großer Selbstverständlichkeit – und mit einer breiten beruflichen Erfahrung. So wie die Vorstandsmitglieder der Auslandsgemeinden, die selbsttragende Vereine sind.

 Ehrenamtliche sind eine Art „Quereinsteiger“ im kirchlichen Betrieb- Fachleute für Innovation in unserer Bürokratie. So wie Bürgermeister Claus Ruhe Madsen aus Rostock, der die städtische Verwaltung in der Krise auf dem Hintergrund seiner Möbelhaus-Erfahrungen veränderte. Auch unsere alte Amtskirche braucht Menschen, die die Organisation von außen sehen können, Menschen, die andere berufliche Erfahrungen und Kompetenzen einbringen- und damit Digitalisierung, Personalmanagement oder Immobilienplanung vorantreiben.

. Wo die Angst vor Stellenabbau übermächtig wird, entsteht eine Abwärtsspirale. Heute verstehen sich Hauptamtliche zunehmend als Initiator*innen, Assistenz und Gewährleister*innen ehrenamtlicher Arbeit. Aber alle Versuche, zivilgesellschaftliches Engagement zu kanalisieren, um es angesichts knapper Ressourcen effektiver zu gestalten, stoßen an Grenzen. Denn anders als im beruflichen Kontext, wo Hierarchie immer eine Rolle spielt, oder auf dem Markt, wo Wettbewerb und Effizienz zählen, geht es den Engagierten aber darum, sich persönlich einzubringen und sich mit dem eigenen Tun zu identifizieren. Sie wollen gehört werden, wenn die Dinge in die falsche Richtung laufen; wo das nicht geschieht, sind sie bitter enttäuscht. Umgekehrt gilt: Wo Basisinitiativen  stark sind, gelingt es trotz Finanzknappheit, Drittmittel heranzuziehen.

Nun sind ja die meisten Mitglieder der Gemeindeleitungen selbst ehrenamtlich – und in der Regel waren sie auch vorher schon ehrenamtlich engagiert. Das ist der Grund, warum sie angesprochen und dann auch gewählt wurden. Was ändert sich eigentlich mit ihrer Wahl – in ihrem Selbstverständnis? In ihrem Führungsverständnis? Eine Untersuchung zeigt: Gemeinschaftsbezogene Aspekte spielen weiterhin eine große Rolle-  übrigens gibt es da keine großen Unterschiede zwischen Ehren- und Hauptamtlichen. Schaut man aber auf die Bedeutung von Strategien und Zielsetzungen für die Gemeinde, dann zeigt sich: Daran sind vor allem die Hauptamtlichen interessiert –  und die Ehrenamtlichen, die eine Funktion in der Gemeinde- oder Kirchenleitung haben– interessanterweise noch mehr als Pfarrerinnen und Pfarrer.

Sie sind es also, die Ehrenamtlichen in den Presbyterien, die die Gemeindeentwicklung vorantreiben. Sie sind dafür zuständig, dass Strategie und Kommunikation zusammenpassen. Und dass Gemeinde Brücken baut zu den anderen Organisationen vor Ort. Und Sie wissen aus eigener Erfahrung: die besten Brückenbauer sind die ehrenamtlichen Gemeindemitglieder aus den Elternräten, den Sportvereinen, der Feuerwehr. Wie nutzen Sie jetzt die Erfahrungen, die Sie als „ganz normale Ehrenamtliche“ gemacht haben? Wie können Sie sie die Engagierten unterstützen?  Durch Informationen, durch Mentoring, durch Koordination? Ehrenamtskoordination ist eine Funktion der Gemeindeleitung- sie ist ganz eng verbunden mit der Arbeit im Presbyterium. Wie schafft man das, ohne sich zu überfordern? Am besten, das zeigt ein Modellversuch in Württemberg, mit einem  Team von Haupt- und Ehrenamtlichen-[7].

Krisen können wachrütteln und verkrustete Strukturen aufbrechen. Das erleben wir gerade- und wir haben es an der Flüchtlingskrise gesehen. Sie war eine Sternstunde der Ehrenamtlichen- und der Kirche. Denn da wurde sichtbar:  Engagement braucht Andockpunkte, anregende und begleitende Strukturen, fachliche Impulse und Unterstützung sowie einen fördernden Rahmen. Und die Kirchen sind stark und attraktiv, wo staatliche Strukturen noch fehlen, wenn es darum geht, mit neuen Herausforderungen umzugehen, wenn Problemlagen zunächst diffus erscheinen und alles darauf ankommt, flexibel neue Konzepte zu entwickeln. Kirche geht immer von unmittelbaren Erfahrung aus, nicht von festgelegten Strategien und refinanzierbaren Modulen. Das ist unsere Stärke. Kirchen haben eine lange Tradition im Ehrenamt. Darauf lässt sich aufbauen. Vielleicht auch mit den Stolpersteinen, die wir manchmal umdrehen müssen.


[1] Deutscher Freiwilligensurvey 2014

[2] So das SI-Gemeindebarometer von 2014

[3] Wiesbadener Institut für Bevölkerungsforschung, 2012

[4] Deutsches Zentrum für Altersfragen, Alterssurvey 2014

[5] Allensbach, April 2017

[6] Hans-Martin Barth, Konfessionslos glücklich, S 119

[7] Gerhard Hess, Paul-Stefan Ross: „Rahmenbedingungen systematischer Ehrenamtsförderung: Beobachtungen und Erkenntnisse aus der Evangelischen Landeskirche in Württemberg“ , in: Cornelia Coenen-Marx. Beate Hofmann (Hg). Zum Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamt in der Kirche, Stuttgart 2017