Salz der Erde, Licht der Welt.

Reformationstag 2020 in Hamburg-Rissen.

Wer öfter umgezogen ist, weiß, wo die ersten Anlaufstellen sind in der neuen Stadt. Die Läden, in denen man Putzmittel und Lebensmittel kaufen kann, muss man zuerst finden. Dann Arbeitsplatz, Schule und Kindergarten. Elektriker, Klempner und Ärztinnen muss man kennen und natürlich die Nachbarn. 33 Menschen braucht man, um sich an einem Ort zu Hause zu fühlen, habe ich neulich gelesen – Nachbarn gehören dazu, aber bald auch andere Mütter und Väter, Baby- und  Hundesitter und die nette Kellnerin in der Stammkneipe. 33 Menschen – im Schnitt dauert es ein Jahr, bis man die mit Namen kennt. Ob die Pfarrerin auch dazu gehört, wenn nicht gerade ein Kind getauft oder konfirmiert werden soll? Im Ausland bestimmt- da sind die deutschen Gemeinden kulturelle Heimat, Kontaktbörse und Netzwerk. Hier findet man, was gegen Heimweh hilft – Weihnachtplätzchen, einen Adventskranz oder Ostereier. Um zu wissen, was einem „Mach hoch die Tür bedeutet“ oder „ Geh aus mein Herz“ muss man wohl einmal in einer anderen Kultur gelebt haben.

Dass Familien über mehrere Generationen an einem Ort wohnen, ist seit langem keine Selbstverständlichkeit mehr. Junge Leute ziehen der Arbeit nach in die Städte –  zurück bleiben die Alten mit Wohneigentum, das sich in schrumpfenden Regionen kaum verkaufen lässt. Die meisten Menschen wohnen nicht an dem Platz, an dem sie arbeiten, viele wechseln Wohnort und Arbeitsplatz, aber auch Familienkonstellation mehrfach im Leben. Jedes dritte Paar in der ersten Berufsphase pendelt. Und fast 17 Millionen Deutsche sind Singles – 30 Prozent der Frauen und Männer im mittleren Alter. Wir haben Freiheit gewonnen; aber mit der Freiheit auch Einsamkeit und neue Unsicherheit. Wer häufig umzieht, verliert die alltägliche Einbettung in Familie und Nachbarschaft und damit auch den selbstverständlichen Zugang zu Kirche und Gemeinde.

In Großbritannien wurde Anfang letzten Jahres ein Ministerium gegen Einsamkeit gegründet. 75 Prozent der Landbevölkerung sind dort älter als 65 – sie leben in Gegenden, wo Post und Pub geschlossen sind und immer weniger Busse fahren. Herz-Kreislauf-Probleme oder Depressionen verschlechtern sich, wenn Menschen ihre Wohnung kaum noch verlassen. In der Corona-Krise wird uns das bewusst. Deshalb gibt es jetzt die Möglichkeit, soziale Angebote auf Rezept zu verschreiben. Ein Konzert, eine Wanderung mit anderen, ein Museumsbesuch. Wissenschaftler haben berechnet, dass auf diese Weise 20 Prozent Gesundheitskosten eingespart werden können.

Im Deutschland leben 46 Prozent der über 70- jährigen allein. Nur noch ein Viertel der befragten Älteren lebt mit den eigenen Kindern am gleichen Ort. Zwar haben die allermeisten Familien wöchentlich Kontakt zueinander – aber im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-jährigen immer seltener praktische Hilfe. Und fast 20 Prozent der befragten 70- bis 89-Jährigen geben an, in der Woche zuvor ihre Wohnung kaum verlassen zu haben.

Während der Corona-Krise ist in Witzenhausen „Dich schickt der Himmel“ entstanden- ein Projekt mit Einkaufshilfen, für das sich die Ev. Gemeinde mit der Stadt, den Pfadfindern und dem Kreisjugendring zusammengeschlossen hat. So kamen innerhalb von drei Tagen über 150 Ehrenamtliche und 230 Hilfesuchende zusammen. Menschen gerieten in den Blick, die lange zurückgezogen gelebt hatten – oft ohne Kontakt zur Kirchengemeinde. Alle freuten sich gleichermaßen über den Einkaufsdienst, die kurzen Besuche und den Gruß zum Sonntag. Solche „Sorgenetze“ wurden während der Covid-Krise auch an vielen anderen Orten aufgebaut; nun gilt es, weiter zu knüpfen. So wie hier im Johannesnetzwerk. Immerhin 25 Prozent der Bevölkerung  engagieren sich schon in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Engagement und Vertrauen schaffen ein Gefühl von Zugehörigkeit. „Es kann aber nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Selbstorganisation von Bürgern und Bürgerinnen ohne Hilfe „von außen“ auskommt“, heißt es im 7. Altenbericht. Das informelle Miteinander lebt von Wechselseitigkeit und Nähe; permanente Verfügbarkeit auch am Wochenende können Nachbarn nicht leisten. Umgekehrt werden professionelle, verlässliche Hilfsorganisationen nie die persönliche Qualität entwickeln, die wir aus Freundschaft und Nahbarschaft kennen.

Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem Begegnungen und Vernetzungen  möglich sind. Digitalisierung kann dazu beitragen. Die Internetplattform „Nebenan.de“ hatte 2019 fünf Jahre nach der Gründung bereits 1.450.000 Nutzer in 7.500 Nachbarschaften. Während der Corona-Krise erlebte die Plattform einen regelrechten Boom.  Aber auch Kirchengemeinden können Sorgende Gemeinschaften werden.  „Caring Communitys“ – das meint wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Das Interesse aneinander, das in Sorgenden Gemeinschaften spürbar wird, gilt dem ganzen Menschen- nicht nur dem Austausch von Waren und Dienstleistungen. Es geht um das „ Dazwischen“ in der Beziehung, sagt Hanna Arendt, „das gemeinschaftlichen Gewebe zwischen Menschen“.

Ich denke an das geistliche Zentrum für Menschen mit Demenz in Berlin. Dort hat ein Sozialunternehmer ein Tanzcafé für Demenzkranke eingerichtet hat. Mit Musik, die zurück in die goldenen 20er und 30er führt. Neben den wenigen Profis haben hier Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger und Ältere ihren Einsatzort gefunden. Einmal im Monat wird zusammen Gottesdienst gefeiert: einfach, sinnlich und sehr lebendig. Menschen geben Zeit und setzen Phantasie ein, um ihn vorzubereiten – und viele davon sehen darin ein Stück Lebenssinn, auch für sich selbst. Mit Musik, Bildern, Geruch, Geschmack und Bewegung werden alle Sinne angesprochen. Segen auch körperlich zu spüren durch Handauflegen und Salben ist nicht nur für Menschen mit Demenz oder Behinderung wichtig. Das haben sie auch in Stuttgart erfahren: Dort feiern Konfirmanden und ihre Familien einmal im Jahr Gottesdienst mit einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Da spürt man: Auch Menschen, die sonst wenig Gottesdiensterfahrung haben, können sich als Mitgestalter der biblischen Botschaft erleben. Da werden Energien wach, von denen wir vorher kaum etwas ahnten. Der Gottesdienst ist dann nichts mehr für Geübte und „Eingeweihte“- vielmehr weiht es Menschen ein, einen Gottesdienst in ihrer Sprache mit ihrer Erfahrung und in ihrer Sprache zu gestalten. Mit ihrer Musik oder auch in leichter Sprache. Und wenn sich alle einbringen können „zum Aufbau der Gemeinde“, dann erleben Menschen die Gemeinde wirklich als Haus mit offenen Türen.

25 Jahre ist es nun her, da stand ich mit anderen vor einer verrammelten Kirche. Wir waren auf der Suche nach Impulsen für die Kirche der Zukunft – im Osten Londons mitten in einem globalisierten Viertel mit Menschen aller Hautfarben und Religionen, in dem die Armut offensichtlich groß war. Der Bischof von London war der Meinung, diese Kirche werde nicht mehr gebraucht und sei auch nicht mehr zu finanzieren. Aber die Menschen, die wir trafen, waren ganz anderer Auffassung. Sie hatten eine Bürgerinitiative gegründet, um die Kirche zu erhalten. Dabei lebten viele von ihnen längst anderswo-  hier aber waren sie getauft und getraut worden waren, hier hatten auch ihre Kinder den Segen bekommen. Hier waren sie wer- und gehörten dazu. So etwas gibt man nicht einfach auf. Die Erfahrung von Identitätsverlust gehört zu den Bitterkeiten des Umbruchs.

Aber tatsächlich geht die Zahl der Taufen und Trauungen zurück. Kinderlose erleben nicht die Phase, in der sie ihre Kinder taufen und noch einmal neu über die Bedeutung des Glaubens nachdenken. Rituale, die  Familien und Kirchenmitgliedschaft über Generationen getragen haben, sind längst nicht mehr selbstverständlich. Je jünger die Befragten sind, desto seltener geben sie an, religiös erzogen worden zu sein. Von den Evangelischen ab 60 Jahren sagen das noch mehr als 80 Prozent von sich selbst, von den Kirchenmitgliedern unter 30 Jahren  nur noch jeder zweite.

Ein Grund: Familien sind in ihrer religiösen Orientierung nur noch selten homogen. Wir haben viele konfessionsverschiedene Paare, mehr und mehr interreligiöse Familien- und tatsächlich wird vielen die eigene Prägung erst in der Begegnung mit dem Partner, der Partnerin bewusst. Wenn es dann um Taufe oder Beschneidung geht, fühlen sich viele überfordert und allein gelassen. Und neben der unterschiedlich intensiven kirchlichen Bindung spielt auch das Gefühl eine Rolle,  nicht wirklich „dazuzugehören“ – als Patchwork- oder Trennungsfamilien, als Alleinerziehende oder gleichgeschlechtliche Partnerschaft. Auch Singles haben übrigens das Gefühl, bei den Angeboten nicht vorzukommen – genauso wie Menschen mit Behinderung oder Demenzkranke, Geflüchtete und sogar die engagierten Älteren, die die Gemeinde eigentlich tragen.

Aber wenn die alle am Rand stehen- wer ist dann eigentlich „die Gemeinde“- angesichts der Veränderung von Familien, wachsender Mobilität, konfessionellen Veränderungen und demographischen Wandel? Gemeinde ist das „Ensemble der Opfer“ hat der Theologe Ernst Lange gesagt, der in den 60er Jahren die erste Ladenkirche in Berlin gründete. Sie ist die Gemeinschaft der Verschiedenen, würden wir heute sagen; denn es ist normal, verschieden zu sein. In Mehrgenerationenhäusern lässt sich erleben, wie Menschen einander bereichern können. Gemeinden könnten so  ein Mehrgenerationenhaus sein, wo wir einander wahrnehmen, aufeinander hören, füreinander das sind, miteinander leben und glauben.  Eine Wahlfamilie. Die christliche Gemeinde hat ja mit Wahlfamilien angefangen – Christinnen und Christen, die sich mit ihrer Taufe aus den Herkunftsfamilien gelöst hatten wurden einander Brüder und Schwestern, Mütter und Väter – so wie bis heute Menschen Wahlfamilien bilden in Wohngemeinschaften, Mehrgenerationenhäusern oder auch an Mittagstischen.

Wie in den ersten Gemeinden sind heute Patenschaften wieder populär-  Lesepatenschaften, Mentoringprogramme und auch Taufpaten aus der Gemeinde. Wie in den ersten christlichen Gemeinden brauchen Kinder, Jugendliche und ihre Familien in einer säkularen und multireligiösen Umwelt überzeugte Christinnen und Christen an ihrer Seite. Großeltern brauchen  Unterstützung bei der Glaubensvermittlung an ihre Enkel. Neue Netzwerke können entstehen, wo Familien mit Kindern Paten-Großeltern finden, wo ältere Menschen ihre beruflichen Erfahrungen an junge Migranten weitergeben und Alleinerziehende ein hilfreiches Miteinander knüpfen. Die Gemeinden könnten eine Art „Kochschule des Glaubens“ sein, sagt Rüdiger Maschwitz. Was man früher in der Familie lernte:  – das Einkaufen, Zubereiten, Tischdecken, Tafeln- das lernt man heute in Kochschulen. Es ist an der Zeit, das Vorlesen und Beten, die Tischgemeinschaften und auch das Trauern in die Gemeinde zurück zu holen. Und es passiert ja auch schon.

Was Menschen brauchen, wenn sie auf der Suche nach Halt und Heimat sind, das kann man tatsächlich von den Auslandsgemeinden lernen. Da finden sich die Tischgemeinschaften und die Sorgenetze, von denen ich erzählt habe. Wenn wir als Christinnen und Christen in die Minderheit geraten, dann fühlen wir uns selbst ja schon ein bisschen wie Fremde im eigenen Land. Dann droht die Gefahr, dass wir uns abschneiden von den anderen – von Menschen, die in einem anderen Milieu leben, einen anderen Alltag haben. „ Viele Christen, die nur unter sich leben, haben keine Ahnung, wie das Christentum auf Menschen wirkt, die nicht glauben- das lässt sie einander fremd werden“, hat die französische Mystikerin Madeleine Delbrel schon vor 80 Jahren geschrieben. Sie beschreibt, wie schlimm es ist, wenn Suchende erleben, dass sie in der Gemeinde einen Fremdkörper bilden. Wo das geschieht, sind wir nicht Salz der Erde und Licht der Welt, wie Jesus es will. Die Gemeinde als Club- das kann nicht der Sinn der Sache sein.

„Als Kirchengemeinde sind wir zugleich Teil der Gemeinschaft vor Ort, sind in Vereinen, auf dem Markt, in Geschäften unterwegs, stolpern über dieselben Schwellen, beobachten wunderlich gewordene Nachbarn“, sagt Annegret Zander. Und trotzdem beteiligen sich Gemeinden noch zu selten an kommunalen Netzwerken. In den letzten Jahren waren viele damit beschäftigt, Fusionen in Gang zu bringen, Gebäude abzustoßen, das eigene Profil zu schärfen und neue Angebote zu konzeptionieren. Vielleicht wäre es wichtiger, rauszugehen und die eigene Nachbarschaft einmal aus der Perspektive der anderen sehen. Eine New Yorker Journalistin hat das getan. Ein ganzes Jahr lang hat sie jede Woche einen Stadtspaziergang mit einer fremden Person gemacht. Sie war unterwegs mit einer älteren Dame mit Rollator, mit einem Architekten und mit einem zweijährigen Kind. Sie hat einen Blinden begleitet und einen Arzt, der ihren Blick für die Entgegenkommenden schärfte. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie ihre Stadt neu entdeckte. Inzwischen gibt es Kirchenvorstandsmitglieder und Gemeindegruppen, die das gleiche tun; sie haben sich  auf den Weg gemacht haben, den Sozialraum zu erkunden. Und dabei jede Menge Herausforderungen entdeckt- und jede Menge Verbündete. Die Kirchen und Gemeindehäuser sind ein Schatz für die Menschen in unseren Stadtteilen.

„Wenn Gemeinden andere Akteure einladen und mit ihnen in den Austausch gehen, wenn sie fragen, was braucht dieser Ort, dann kommt etwas in Bewegung, sagt Peter Meißner von der Initiative Gemeinwesendiakonie in Hannover. „Und wenn sie sich auf die Haltung „Nicht für sondern mit den Menschen“ einlassen, dann zeigen sie, dass sie wirklich an den Lebenslagen vor Ort interessiert sind“.  Darauf kommt es an, wenn wir Salz der Erde sein wollen und Licht der Welt.