Ihr müsst uns nicht schonen!


Text: Cornelia Coenen-Marx, 27.8.20, chrismon September 2020, chrismon Plus September 2020, Zur Rubrik: Standpunkt

Cornelia Coenen-Marx über Altersdiskriminierung während Corona

Standpunkt - Ihr musst uns nicht schonen!
c Anne-Marie Pappas

Anne-Marie Pappas Jeden Tag gehen 3000 Frauen und Männer in Deutschland in Rente. Viele sind fit und aktiv. Doch seit Corona gelten sie pauschal als schutzbedürftige „Risikogruppe“. Das nervt.

Mit knapp über 60 passte das Wort Ruhestand so gar nicht zu meinem Lebensgefühl. Trotzdem zwang mich eine Krankheit, beruflich kürzerzutreten. Aber vielleicht würde ich noch einmal ins Ausland gehen, eine Coachingausbildung machen oder ein Buch schreiben. Plötzlich war vieles möglich, wie damals nach dem Schulabschluss. Ich habe mich dann selbstständig gemacht und bin seitdem mit Vorträgen und Workshops quer durch Deutschland unterwegs. Lange Zug­reisen, unterschiedliche Menschen, Debatten – ich mag es, mich neuen Aufgaben zu stellen, auch wenn sie schwierig sind, und Entwicklungen zu begleiten.

17 Millionen Menschen in unserem Land sind über 65, jede/r Fünfte. An jedem Tag dieses Jahres kommen statistisch gesehen 3000 Männer und Frauen ins gesetzliche Rentenalter, und vielen geht es so wie mir. Wer heute in Rente geht, hat wahrscheinlich noch 20 gesunde und aktive Lebensjahre vor sich. Mehr als ein Drittel der 55- bis 69-Jährigen hat keine oder höchs­tens eine Erkrankung, und noch die Hälfte der 70- bis 85-Jährigen fühlt sich trotz der einen oder anderen Krankheit gesund.

Fit, aktiv – und ausgebremst

In keiner Altersgruppe ist die Beschäftigungsquote in den vergangenen Jahren so stark gestiegen wie bei den Rentnern – unmittelbar gefolgt von der Gruppe der 60- bis 65-Jährigen. Von den 65- bis 69-Jährigen arbeiteten 2018 17 Prozent. 2003 waren es nur knapp sechs Prozent. Bei den 60- bis 65-Jährigen sind es inzwischen 60 Prozent. Und das hat bei vielen sicher finanzielle Gründe. Aber eben nicht nur. Es geht auch darum, einen eigenen Beitrag zu leisten. Manche reisen mit „Ärzte ohne Grenzen“ in Krisengebiete, andere engagieren sich als Freiwillige bei den Tafeln, in Hospizdiensten oder als „Leihoma“ in der Nachbarschaft.

Doch der coronabedingte Lockdown hat viele der umtriebigen, engagierten, arbeitenden Menschen in der dritten Lebensphase völlig ausgebremst. So ging es auch vielen Jünge­ren, doch Menschen ab 65 können die verlorene Freiheit, den verpassten Aufbruch viel schwerer aufholen, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen die Zeit davonläuft. „Jetzt bin ich tatsächlich im Ruhestand“, schrieb ein Kollege. „Wir üben gerade das Altwerden“, eine Freundin aus der Schweiz.

Nach den individuellen Fähigkeiten fragen

Tatsächlich steigt die Sterbequote bei Covid-19 mit Alter und Vorerkrankungen deutlich an, und viele der Lockdown-Einschränkungen waren sinnvoll. Aber warum mussten über 65-Jährige in Istanbul pauschal in Quarantäne bleiben? Und warum diskutierte der Deutsche Ethikrat bei der Triage so sehr über die Relevanz des Alters? Dass sich Lehrerinnen und Lehrer über 60 vom Unterricht beurlauben lassen durften, war sicher gut gemeint, aber auch 35-Jährige können gefährdet sein, wenn sie zum Beispiel an Diabetes oder Asthma leiden.

Noch irritierender als der erzwungene Stillstand ist die Beobachtung, dass Menschen in der dritten ­Lebensphase seit Ausbruch der Pandemie nicht mehr nach ihren individuellen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Risiken gefragt werden, sondern dass vor allem kategorisch über sie gesprochen wird: Vielfältig Engagierten, fitten und weniger fitten Rentnern, Solo­selbstständigen, beruflich aktiven Menschen wie mir wurde pauschal das Etikett hilflos, schutzbedürftig, gefährdet angeheftet. Wir wurden zur „Risikogruppe“. Und die soll am besten zu Hause bleiben. Damit nicht genug: Wir sind angeblich auch noch schuld daran, dass die Wirtschaft in die Krise geraten und der Wohlstand gefährdet ist. Denn man habe das ja alles „für die Älteren“ getan.

Die Klischees kehren zurück

„Früher war klar: Kinder lernen, Erwachsene arbeiten, und die Alten ruhen sich aus. Aber das ist passé“, sagte die Gerontologin Ursula Staudinger vor ein paar Jahren. Doch jetzt kehren sie zurück, die längst überwunden geglaubten Bilder über die dritte Lebensphase, die Klischees von der beige gekleideten Kohorte, die auf Parkbänken sitzt, bestenfalls noch Radtouren und Spaziergänge unternimmt, aber ansonsten geschont werden muss und gesellschaftlich nicht mehr mitmischen kann.

Von über 60-Jährigen wird neuerdings gesprochen, als ginge es um 80-Jährige. Und von den 80-Jährigen, als wären sie allesamt pflegebedürftig. Persönlichkeitsentwicklung, Selbstbestimmung, Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten im Alter – alles, was wir in den vergangenen 30 Jahren von der Alternsforschung gelernt haben, scheint vergessen zu sein. Und das in einer Gesellschaft, in der Individualität zu Recht großgeschrieben wird.

Das kalendarische Alter sagt wenig aus

„Das kalen­da­ri­sche Alter sagt nichts über den Zustand und die Schutz­be­dürf­tig­keit der Men­schen“, schreiben die Wirtschaftsjournalistin Margaret Heckel und die Filmproduzentin und frühere saarländische Gesundheitsministerin Barbara Wackernagel-Jacobs in ihrem Appell „Neue Altersbilder“, den sie Mitte April ins Netz gestellt haben. Wie schutzbedürftig jemand ist, „kann nur eine indi­vi­du­elle Betrach­tung der Risi­ken, Vor­er­kran­kun­gen und Belast­bar­keit eines Men­schen leis­ten. Dies gilt für den Mitt­vier­zi­ger mit Dia­be­tes, die Mitt­sech­zi­ge­rin mit einer Krebs­­­dia­gnose wie für die Hoch­alt­ri­gen ­in schwie­ri­ger All­ge­mein­ver­fas­sung“, heißt es in dem Appell. Deshalb ­gebe es auch keine am kalendarischen Alter festzumachende „Altersfalle“, sondern höchstens Altersdiskriminierung.

Der Lockdown war auch kein ­Geschenk an die ältere Generation, sondern eine Maßnahme, um Zeit zu gewinnen und das Gesundheits­system auf einen Ansturm vorzube­reiten – zum Wohle aller. Deshalb sehen die Unterzeichner des Appells – in­zwischen sind es einige Hundert – wie auch ich keinen Grund, sich pauschal zugunsten Jüngerer zurückzuziehen. Denn sie werden in vielen Familien zur Unterstützung der nächsten Ge­neration gebraucht.

Über-55-Jährige tragen die Zivilgesellschaft

Auch die Zivilgesellschaft könnte sich einen solchen Rückzug auf ­Dauer nicht leisten. Denn die Tafeln, Bürger­busse, Mehrgenerationen­häuser, Dorfläden werden maßgeblich von den über 55-Jährigen getragen. Diese Generation ist gut ausgebildet, weltoffen und selbstbewusst. Viele stecken noch voll im Beruf. Und wenn sie sich ehrenamtlich engagieren, wollen sie genauso ernst genommen werden. Wer also bei einer Tafel mitarbeitet oder in der Leseförderung, sollte genauso selbstverständlich auf Corona getestet werden können wie die Lehrerinnen und Lehrer aus der „Risikogruppe“.

Statt uns gegenseitig in Schubladen von „jung“ und „alt“ zu stecken, sollten wir uns noch mehr vernetzen. Wir sind soziale Wesen und aufeinander angewiesen – nicht erst im Alter. „An Einsamkeit stirbt man bloß langwieriger als an Corona“, sagt Elke Schilling. Die 75-Jährige hat ihren Telefondienst ­“Silbernetz“, der sich an einsame ­Ältere richtet, in der Krise bundesweit aufgestellt. Sie hat sich vom Lock­down nicht abhalten lassen, ins Büro zu gehen.

Digitale Vernetzung hilft

Auch andere machten weiter als Lesepatin oder bei der Hausaufgaben­betreuung – jetzt eben per Tablet oder Smartphone. Ich selbst habe einen Teil meiner Workshops und Coaching­sitzungen ins Netz verlegt und ge­nieße mein Yogatraining per Zoom. Digital können wir die Grenzen unseres Körpers und unseres Wohnorts überschreiten – und die Klischees über das Alter überwinden. Das ist ­eine richtig gute Erfahrung.

Sorgende Gemeinschaften

Seit einigen Jahren entwickelt sich in Nachbarschaftsprojekten und Mehrgenerationenhäusern eine neue Gestalt des Sozialen: die Sorgenden Gemeinschaften. In der Corona-Krise gewann die Bewegung an Schwung: Überall wurden Einkaufsdienste angeboten und Telefonketten gebildet, Balkonkonzerte veranstaltet und ­Treffen im Pfarrgarten organisiert. Digitale Netzwerke wie nebenan.de und digitale-nachbarschaft.de ­wachsen stetig. „Ich für mich. Ich mit anderen für mich. Ich mit anderen für andere. Andere mit anderen für mich“ steht auf einer Postkarte, die ich bei einem Projekt für junge Alte in Stuttgart mitgenommen habe.

Genau: Hilfe ist keine Einbahnstraße. Aber was mir guttut und wie ich Kontakte pflege, will ich selbst entscheiden. Dass jemand für mich einkauft, nur weil ich Ü60 bin, finde ich merkwürdig. Vielleicht haben sich deshalb bei einigen Projekten mehr Helferinnen und Helfer gemeldet als Hilfebedürftige.