Nicht ohne die alten Menschen – Pflege und Engagement in der Krise

Nicht ohne die alten Menschen- Pflege und Engagement in der Krise

Cornelia Coenen-Marx

Wie unter einer Lupe zeigt Corona die Stärken und Schwächen unserer Gesellschaft- das Auseinanderdriften der sozioökonomischen Schichten, die Situation des Gesundheitssystems, die Probleme der Individualisierung. Wie in einem Prisma erkennen wir die vielen Elemente und Farben, die das moderne Leben bestimmen – nicht immer fügen sie sich gut zusammen, oft gibt es Brüche. Dabei fällt mir auf, dass sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und sozialpolitische Konzepte, die Betroffenen und Fachleuten selbstverständlich schienen, sich längst noch nicht in der Breite durchgesetzt haben. Überkommende Strukturen entfalten wieder ihre Lenkungswirkung, alte Bilder tun ein Übriges dazu. Überdeutlich wird das beim Thema Hospizarbeit: So lange haben wir darüber nachgedacht, was es bedeutet, in Würde zu sterben. Trotzdem dominiert in der Corona-Krise das Bild der Hochleistungs- und Apparatemedizin. Die Pflegeheime – chronisch unterversorgt mit Personal und Schutzmaterial – mussten sich abriegeln, um ihre Bewohnerinnen und Bewohner zu schützen. Zugehörige, Seelsorgende, Ehrenamtliche fanden keinen Zugang mehr. Was Sterben in Würde bedeutet, wie wichtig Selbstbestimmung, Palliativmedizin und liebevolle Begleitung sind, scheint plötzlich keine Rolle mehr zu spielen, wenn es ums Überleben in der Pandemie geht.

„Es geht nicht darum, dem Leben Jahre zu geben, sondern den Jahren Leben“, hieß es in den letzten Jahrzehnten. In Wissenschaft und Medien dominierte das Bild des aktiven Alterns in der dritten Lebensphase. Autonomie, Freiheit, neue Aufbrüche standen im Mittelpunkt – im zivilgesellschaftlichen Engagement, im Reisen und lebenslangen Lernen. Mit Corona kehrte nun plötzlich ein anderes Altersbild zurück: Menschen ab sechzig oder siebzig gelten plötzlich als Risikogruppe, die geschützt werden muss – notfalls in einer verlängerten Quarantäne. In Istanbul durften über 65- jährige lange nicht auf die Straße. In Spanien haben sie, seit die Ausgangsbeschränkungen gelockert sind, ihre eigenen Zeitkorridore. In Italien kam die gefürchtete Triage zur Anwendung – da zählten dann eben doch wieder die Jahre. Und auch in Deutschland hat es gedauert, bis man sich vergewisserte, dass unser Gesundheitssystem alle gleich behandeln will.

„Unsere Zukunft – nicht ohne die alten Menschen. Nein zu einem selektiven Gesundheitssystem“, ist der Appell zur Humanisierung unserer Gesellschaften überschrieben, den die Gemeinschaft St. Egidio Ende Mai in große Zeitungen setzte. Tatsächlich starb in allen Ländern Europas ein großer Teil der Corona-Toten in Pflegeeinrichtungen, es gab Länder, in denen sie bei den Sterberaten zunächst gar nicht mitgezählt wurden, und auch in Deutschland waren die Rahmenbedingungen in Pflegeeinrichtungen weit schlechter als im Krankenhaus. Aber europaweit wurde auf den Balkonen geklatscht – für die Alltagshelden in Medizin und Pflege, die, oft selbst schlecht versorgt mit Schutzkleidung und Tests, bedingungslos für andere einstanden. Die Corona-Krise hat daran erinnert, dass Pflege systemrelevant ist. Und daran, dass Pflegende meist Frauen, oft Migrantinnen und dabei schlecht bezahlt sind. Wenn es auch sicherlich ein wichtiger Schritt ist, dass mit dem abendlichen Balkonklatschen einmal diese sonst oft übersehene Arbeit Anerkennung findet, so ist doch der Heldinnenstatus beunruhigend. Denn auch Ärzt*innen und Pflegekräfte sind Menschen, sind verletzlich, auch sie haben nur begrenzte Kräfte. Ich denke an ein Foto, das durch die Medien ging: von einer Krankenschwester in Italien, die nach langem Dienst total erschöpft an ihrem PC eingeschlafen ist. „Wohl dem Land, das keine Helden braucht“, hat Bert Brecht geschrieben. Die Maßnahmen für gute Pflege sind zunächst nüchtern: Pflege braucht eine gute Ausbildung, ordentliche Tarife und ausreichend Personal – seit Jahren Baustellen in unserem Land. Und sie braucht Schutz. Wo Menschen abverlangt wird, sich ohne Schutzkleidung und Fürsorge um anderer willen zu riskieren, läuft etwas schief.

Das gilt erst recht für die ambulanten Pflegedienste, die von einem Haus ins andere unterwegs sind. Viele, die allein leben und pflegebedürftig sind, sind seit langem auf Haushaltshilfen aus Osteuropa angewiesen. Was es bedeutet, dass rund 300.000 Frauen für Pflege und Versorgung ein- und auspendeln und wie vernetzt wir längst in Europa sind, das wurde vielen erst bewusst, als t die Grenzen geschlossen wurden. Die Entwicklung einer hochmobilen und multioptionalen „Singlegesellschaft“ zeigt ihre Schattenseiten mit wachsender Einsamkeit in verschiedenen Altersgruppen. Neben den ganz Jungen sind besonders die Alten betroffen.

Auf diesem Hintergrund wird aber auch Gemeinschaft neu entdeckt: in Wahlverwandtschaften, Genossenschaften, Caring Communities. Ich freue mich daran, wie die Nachbarschaftsbewegungen in der Krise wachsen. Sehr früh hat die Nachbarschaftsplattform „Nebenan.de“ daran gearbeitet, nachbarschaftliche Netzwerke aufzubauen – und erlebte in der Krise einen Boom. Viele Kirchengemeinden beteiligen sich an kleinen nachbarschaftlichen Netzen und Einkaufshilfen. War dabei im Blick, dass diejenigen, die jetzt Einkaufshilfen bekamen, zuvor jahrelang für andere gesorgt hatten? An den Tafeln, bei der Hausaufgabenhilfe, als Tragkraft in den Familien fehlen sie, die jungen Alten, die Omas und Opas. Auch sie sind systemrelevant. Menschen über sechzig sind ja nicht in erster Linie schutzbedürftig – sie bringen vielfältige Expertisen gerade im Umgang mit Krisen mit. Wie kann es gelingen, diese Ressourcen auch in der Krise zu nutzen?

Der wichtige Gedanke, dass die Generation der alten Menschen ein Kapital darstellt, findet sich weiterhin in allen Kulturen“, heißt es in dem Appell von St. Egidio. „ Zu akzeptieren, dass ihr ein anderer Wert zukäme, zerreißt das soziale Netz der Solidarität zwischen den Generationen und spaltet die ganze Gesellschaft. Wenn wir von den Älteren reden, reden wir von der „Generation, die gegen die Diktaturen gekämpft. und Europa wieder aufgebaut hat.“ Die größere Verletzlichkeit und das fortgeschrittene Alter machen Ältere nicht einfach zu Hilfsbedürftigen- sie können auch größere Erfahrung und Empathie einbringen. Und sie haben ein Recht wie gute Pflege – wie jeder andere auch.

An jedem ersten Mittwoch im Monat sind Sie um 17.00 Uhr eingeladen zu einem Webmeeting zu diesen Fragen: „Oma trotzt CoronaDie Krisenexpert*innen“. Bei Interesse melden Sie sich gern unter coenen-marx@seele-und-sorge.de