Newsletter Nr. 19 / Mai 2020

Newsletter Nr. 19/Mai 2020:
Brennende Themen. Ideen, Inspirationen und Projekte
aus Kirche und Diakonie. 

Seele & Sorge – Impulse, Workshops, Beratung
Cornelia Coenen-Marx: Engagement mit Profil
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THEMENÜBERSICHT IN DIESEM NEWSLETTER

BESONDERE ZEITEN  ★ GERECHTIGKEIT  NATION UND FAMILIE?  WO GEMEINSCHAFT WÄCHST    LAND OHNE HELD*INNEN?    AUFRÄUMEN UND STIFTEN GEHEN    DIE RICHTUNG ÄNDERN. BEWUSST.    NEUE FORMATE FÜR SEELE UND SORGE 


Auf Pfingsten zu … Hand in Hand?!
Besondere Zeiten im Zeichen der Pandemie

In vielen Briefen und Botschaften sehe ich momentan das Motiv von kleinen Figürchen, die sich an der Hand halten. Der französische Künstler Saype hat es sogar in eine Landart-Malerei aufgenommen. In diesem 3-D-Gemälde, das er auf eine Wiese in den Schweizer Alpen gemalt hat, sieht es so aus, als säße ein überlebensgroßes Mädchen im Kreis solcher Papierfiguren. Die Botschaft: Jetzt kommt es auf Solidarität und Gemeinschaft an – gerade wenn wir uns nicht an der Hand halten können. Für mich ist es zugleich ein Pfingstbild. Es erinnert an die Ikonen, auf denen die Jünger Jesu mit Maria um einen Tisch sitzen – wie in einem Netzwerk verbunden. Und über der Mitte, wo die verschiedenen Fäden zusammenkommen, sieht man eine Taube von oben herabschweben, den Heiligen Geist. Ja, wir brauchen diesen Geist der Gemeinschaft – gerade jetzt! Den Geist eines neuen Anfangs. Schöpfergeist nennt ihn die Pfingstliturgie. In der Mai-Ausgabe von „Zeitzeichen“ erinnert Michael Welker an die Geistausgießung, von der schon der Prophet Joel geträumt hat: Dieser Geist, der Frauen wie Männer, Kinder und Alte erreicht, sei „keine verstiegene Angelegenheit, sondern eine Kraft, die Menschen befähigt, nach Gerechtigkeit zu streben“. Ich wünsche mir dafür: Ein weltweites Netzwerk, stärker als die Zerreißproben der Globalisierung. Eine Bewegung in Quartier und Nachbarschaft – konfessionsüberschreitend, offen für alle Engagierten. Die Tischgemeinschaft der Freunde und Freundinnen Jesu. Kurz vor Ostern, als die Kirchen geschlossen waren, wurde in beiden Kirchen wieder heftig gestritten, wie diese Gemeinschaft aussehen kann, wieder mit dem Fokus auf der Eucharistie. Doch, so betont beispielsweise auch der World Council of Churches and Regional Ecumenical Organizations: Gemeinschaft ist mehr. Für uns war es so, als wir Ostern mit Kerze, Weihrauch und Liturgie aus dem (katholischen) Kloster Münsterschwarzach gefeiert haben – vor dem heimischen Bildschirm. Auch ich glaube an die immer wieder Grenzen überschreitende Kraft des Geistes, der unsere gesetzten Linien manchmal verweht wie der Wind das in den Sand Geschriebene. Weil es darum geht, Gemeinschaft zu erfahren und neu zu entdecken.

Wie steht es um Gemeinschaft und Gerechtigkeit?

„Wenn Menschen in schweren Zeiten soziale Nähe und Hilfe erfahren, kann das die negativen Auswirkungen der Krise abfedern. Es geht um Dinge wie Nachbarschaftshilfe, ob Freunde oder Familien sich um einander kümmern, wie eng diese Bindungen in einer Gesellschaft sind. Diese sozialen Faktoren werden gern unterschätzt, sie entscheiden aber maßgeblich darüber, ob es uns gutgeht oder nicht. Sie kommen direkt hinter den Faktoren Gesundheit und finanzielle Lage“, sagte Jan-Emmanuel De Neve, Ökonom in Oxford, in einem Interview der FAS. „Wie steht’s ums Glück?“ hatte die Interviewerin den Text überschrieben. Viele haben in den letzten Jahren auf die neuen gesellschaftlichen Risse aufmerksam gemacht, die Erosion des Zusammenhalts als großes Problem beschrieben. In den letzten Wochen haben wir die Bedeutung von Gemeinschaft noch einmal ganz neu gespürt. In der schmerzlichen Sehnsucht nach unseren Lieben, im Vermissen der Kolleginnen und Kollegen, dem Leiden unter abgesagten Gottesdiensten, geschlossenen Gaststätten und Clubs. Aber auch in den vielen Quartiersinitiativen, die gerade neu entstanden sind, den Einkaufshilfen, Telefonketten und Briefaktionen in Nachbarschaften und Kirchengemeinden.

Wie unter einer Lupe zeigt Corona die unterschiedlichen Aspekte von Gemeinschaft, wie in einem Prisma zeigen sich die vielen Elemente und Farben, die das moderne Leben bestimmen – nicht immer fügen sie sich gut zusammen, oft gibt es Brüche: Familie, Singles und Nachbarschaft, Einsamkeit, Alter, Engagement und Pflege, Gesundheitssystem und Hospiz. Themen, denen ich jetzt in meinem Buchprojekt zur „Neuentdeckung der Gemeinschaft“ noch einmal nachgehe. Nachdem Vorträge und Workshops bis zum Sommer abgesagt sind, kann ich mir mehr Zeit zum Schreiben und Nachdenken nehmen. Dabei fällt mir auf, dass sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und neue Konzepte, über die sich Betroffene und Fachleute schon lange einig sind, für einen Großteil der Bürger*innen offenbar noch keineswegs selbstverständlich sind. Überkommene Strukturen entfalten ihre Lenkungswirkung, alte Bilder tun ein Übriges dazu. Überdeutlich wird das für mich beim Thema Hospizarbeit: So lange haben wir darüber nachgedacht, was es bedeutet, in Würde zu sterben. Trotzdem dominiert in der Corona-Krise das Bild der Hochleistungs- und Apparatemedizin. Die Pflegeheime – chronisch unterversorgt mit Personal und Schutzmaterial – mussten sich abriegeln, um ihre Bewohnerinnen und Bewohner zu schützen. Zugehörige, Seelsorgende, Ehrenamtliche fanden keinen Zugang mehr. Was Sterben in Würde bedeutet – Palliativmedizin, Selbstbestimmung und liebevolle Begleitung –, scheint vergessen, wenn es ums Überleben in der Pandemie geht. Das klingt an in dem Statement von Wolfgang Schäuble, der daran erinnert, dass nicht einfach das Leben, sondern die Würde des Menschen ganz oben in unserem Grundgesetz steht. Jenseits von Corona haben verschiedene Urteile und eine Gesetzesinitiative zur Sterbehilfe in den Niederlanden gerade großes Erschrecken ausgelöst. Wie stehen sie zur Selbstbestimmung jedes Menschen, wie sie mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen für die Rechte von Behinderten 2006 (hier der deutsche Gesetzestext) endlich gesetzlich verankert wurden? In einem der Fälle in den Niederlanden ging es um eine demenzkranke Frau, der eine Ärztin in den Tod half. Wie viel Glück die Frau verpasst haben mag, schildert Chantal Louis in ihrem Buch Ommas Glück. Das Leben meiner Großmutter in ihrer Demenz-WG. Das Leben in einer Wohngruppe lässt sich im Übrigen auch leichter schützen als das Miteinander in einer großen stationären Einrichtung. Ganz ähnlich wirken überkommene Bilder beim Thema Alter: Seit langem dominiert in Wissenschaft und Medien das Bild des aktiven Alterns. Autonomie, Freiheit, neue Aufbrüche stehen im Mittelpunkt. Mit Corona kehrt ein anderes Altersbild zurück: Menschen ab sechzig oder siebzig werden vor allem als hilfebedürftig gesehen, als Risikogruppe, die geschützt werden muss – notfalls in einer verlängerten Quarantäne. Die Selbstbestimmung, um die so viele Jahre gerungen wurde, scheint unter einer durchaus ambivalenten Fürsorge aus dem Blick zu geraten. Dagegen hat sich glücklicherweise nun schon erheblicher Widerstand geregt, unter anderem der kluge Essay von Arnd Henze über „Einsames Sterben – vollmundiges Schweigen“ und die
Petition des BIVA-Pflegeschutzbundes, der fordert, Besuche in Pflegeheimen zu erlauben. Auch Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie, argumentierte in diesem Sinne. Glücklicherweise sind nun einige Lockerungen beschlossen worden. Doch den Blick auf die psychosoziale Situation der Bewohner*innen müssen wir uns bewahren. Barbara Wackernagel-Jacobs und Margaret Heckel, die mit ihren Filmen, Büchern und Vorträgen sowie ihrer politischen Arbeit selbst schon lange wichtige Impulse zum Thema Neue Altersbilder geben, haben einen Appell geschrieben: Es gibt keine Altersfalle, sondern nur Altersdiskriminierung. Ich habe mich in meinem neuesten Blog ebenfalls mit dem Thema beschäftigt. Spürbar werden die Folgen dann nicht nur für die Älteren: Jetzt fehlen sie an den Tafeln, bei der Hausaufgabenhilfe, als Mentor*innen, Leihomas und -opas, Lesepat*innen. War eigentlich im Blick, dass es gerade die Älteren sind, die unsere Zivilgesellschaft tragen? 

Wenn es drauf ankommt: Nation und Familie? 

Auch beim Thema Familie dominieren alte Bilder: Frauen übernehmen wieder den größeren Teil der Sorgearbeit; die substanzielle Bedeutung von Kita, Schule, Sportverein und Gleichaltrigen für den Alltag und die Entwicklung der Kinder wurde bei der Diskussion um den Umgang mit der Epidemie lange ausgeklammert; die Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie werden notorisch unterschätzt. Homeoffice und Homeschooling gleichzeitig – das ist kaum möglich. Und die Perspektive der Kinder kommt so gut wie gar nicht vor. Dass aber Kinder nicht einfach nur Teil ihrer Familie sind, sondern Persönlichkeiten mit eigenen Rechten, müsste uns eigentlich klar sein, seit Janusz Korczak, der später sein Leben für die jüdischen Kinder im Warschauer Ghetto gab, „Das Recht des Kindes auf Achtung“ schrieb, übrigens schon 1928. Müsste uns klar sein, denn auch die Teilhabe der Kinder, ihr Recht auf Bildung auch jenseits der formalen, prüfbaren Qualifikationen hatte, so scheint es, lange keine starke Lobby. Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern dagegen hat der Welt gezeigt, was es heißt, Kinder als Bürger*innen ernst zu nehmen. In einer Videobotschaft erläutert sie, dass der Osterhase systemrelevant ist!
„Wenn es drauf ankommt: Nation und Familie“ titelte „Christ in der Gegenwart“ kürzlich (13/2020). Aber was für eine Familie meinen wir? Wo die Alleinerziehenden quasi ausgeblendet bleiben, für die die Situation besonders schwierig ist, herrscht wohl kaum ein aktuelles Bild von Familie vor. Insgesamt wird in dieser Krise unterschätzt, wie viele Menschen in unserer Gesellschaft allein leben. Bei den Älteren sind es immerhin 44 Prozent. Die Frage, ob man zu Ostern wenigstens Freunde treffen könnte, wurde deshalb nach den Wochen mit Ausgangsbeschränkungen für viele sehr dringlich. Und wie sieht es mit Europa aus? Wer alt ist, allein lebt und pflegebedürftig wird, ist vielfach auf Haushaltshilfen angewiesen – seit langem kommen sie aus Osteuropa. Wie vernetzt wir in Europa sind, was es aber auch bedeutet, dass rund 3.000 Frauen für die Pflege und Versorgung dieser Menschen nach Deutschland und in andere westliche Länder ein- und auspendeln und ihre eigenen Familien zurücklassen, das wurde wohl manchen erst bewusst, als jetzt die Grenzen geschlossen wurden. Die hochmobile und multioptionale „Singlegesellschaft“ zeigt ihre Schattenseiten in wachsender Einsamkeit – nicht nur bei den Älteren – und in massiver Ungleichheit. Die von verschiedenen Seiten, unter anderem von der AG Familie (dem Zusammenschluss der Familienverbände) geforderten Unterstützungen für Familien (unter anderem Lohnentschädigung für Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen, sowie Ausgleich für das entfallende Essen in Kita und Schulen; vgl. auch den Beitrag bei epd sozial) wären hier immerhin ein kleiner Ausgleich. Zugleich aber wird Gemeinschaft neu entdeckt: in Wahlverwandtschaften, Genossenschaften, Caring Communities. Das EKD-Zentrum Frauen und Männer arbeitet schon eine Weile an der Situation von Singles mit dem Ziel, diese marginalisierte Lebensform mit all ihren Potenzialen in den Fokus zu rücken, gerade auch in den Kirchengemeinden. Denn Familie ist mehr als biologische Verwandtschaft – familiäre Netzwerke kann es auch unter guten Freund*innen und christlichen „Geschwistern“ geben – wenn wir Autonomie und Verschiedenheit schätzen. Ich wünsche mir, dass auf zivilgesellschaftlicher Ebene noch viel mehr Miteinander entsteht. Dass Corona uns nicht auseinandertreibt, wie die geschlossenen Grenzen vermitteln könnten, sondern uns erneut die Dringlichkeit des Zusammenhalts verdeutlicht – auch in Europa. (Interessant finde ich übrigens, wie unterschiedlich die Auswirkungen der Epidemie in Ost- und Westeuropa sind. Auch hier wirkt sie aus meiner Sicht wie ein Prisma, das unterschiedliche Lebensweisen, aber auch Politikstile besonders deutlich werden lässt, wie der Guardian beschreibt.) Über alle Unterschiede und Grenzen, auch über den Kalten Krieg hinweg schweigen in den meisten Ländern Europas seit 75 Jahren, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende von Nationalsozialismus und Faschismus, die Waffen. Trotz Corona wird dies am Wochenende vom 8./9. Mai gefeiert. Organisationen sowie Einzelkünstlerinnen und -künstler in Deutschland und Österreich laden ein zum Glänzenden Stream, zu zahlreichen Aktivitäten im Internet und zu Auftritten in den Stadträumen. Da werden die Schönheit und die Kraft der Vielen sicherlich in ihren großen Potenzialen erlebbar.

Wo Gemeinschaft wächst: Tag der Nachbarn, Sozialforum, Wohnschule 

Vor Ort, im Stadtteil ist glücklicherweise manches einfacher als in den globalen Zusammenhängen. Und ich freue mich daran, wie diese Chancen mehr und mehr genutzt werden, wie die Nachbarschaftsbewegungen in der Krise wachsen. Normalerweise – jenseits von Corona – ist am 29. Mai der Tag des Nachbarn. Und dieses Mal? „Der Tag der Nachbarn ist jetzt“, heißt die Corona-Aktion auf Nebenan.de. Sehr früh hat die Internetplattform daran gearbeitet, nachbarschaftliche Netzwerke aufzubauen – und erlebte in der Krise einen Boom. Auch viele Kirchengemeinden beteiligen sich an kleinen nachbarschaftlichen Netzen und Einkaufshilfen. Ein Überblick auf der Website der EKHN zeigte neulich ein geradezu exponenzielles Wachstum! Hier und da gelingt es, solche Initiativen strategisch in der Quartiersarbeit zu verankern. Ein Beispiel dafür ist Schöneck in Hessen. Dort wurde über mehrere Jahre ein starkes Netzwerk, das Sozialforum, entwickelt. Im neuen Kraftorte-Interview berichtet Steffen Merle davon. Das spannende Interview reflektiert zugleich, wie mit solchen Netzwerken die starren Grenzen einer durchfunktionalisierten Gesellschaft überwunden werden können. Und wie im diakonischen Handeln Gottes treibende Kraft spürbar wird. Was professionelles Quartiersmanagement bewirken kann und welche Herausforderungen gerade damit verbunden sind, zeigen auch die drei Beispiele, die Anja Reichert-Schick auf der Website der Akademie Bad Boll vorstellt.
Sabrina Jankowski von der Freiwilligenagentur Garbsen hat darüber nachgedacht, wie der Freiwilligentag in diesem Jahr gestaltet werden kann. Üblicherweise beteiligen sich an diesem Tag Ehrenamtliche an den unterschiedlichsten Mitmachaktionen. Ihre Idee: Wenn es wieder möglich ist, soll ein großes Fest für alle Freiwilligen gefeiert werden, die sich in der Corona-Krise engagieren. Denn diese Zeit, sagt sie, sei wie ein großer Freiwilligentag. Mir leuchtet das ein: All das großartige Engagement, das wir in diesen Tagen beobachten, verdient eine große, festliche Würdigung! (Hier zur Orientierung die von der Bundesregierung erlassenen Regelungen für ehrenamtliches Engagement unter den Bedingungen der Corona-Epidemie.)
Um Einsamkeit zu überwinden und Gemeinschaft zu ermöglichen, spielen immer auch Wohnkonzepte eine Rolle. Gerade Menschen am Beginn der dritten Lebensphase haben sich in den letzten Jahren damit beschäftigt, was nötig ist, um selbstbestimmtes Wohnen im Alter zu gestalten. Ein Hinweis in diesem Zusammenhang: Die Melanchthon-Akademie, Köln bietet mit unterschiedlichen Partnern verschiedene Veranstaltungen zu einer „Wohnschule“ an, darunter mit dem WQ4-Verein zur Förderung der Quartiersentwicklung, Düsseldorf eine Multiplikatoren-Schulung 2020. Speziell für alte Menschen im ländlichen Raum hat das Haus Kirchlicher Dienste in Hannover – übrigens insgesamt sehr aktiv im Bereich der Altenhilfe – ein Projekt gestartet, das es alten Menschen ermöglichen soll, in ihrem Zuhause zu bleiben: Das vernetzte Dorf bringt die Menschen in den Dörfern zusammen und organisiert Kontakt und Unterstützung auch zwischen den Generationen. Wo Digitalisierung genutzt werden kann, um bürgerschaftliches Engagement zu unterstützen, für diese Frage hat das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement nun das Forum Digitalisierung ins Leben gerufen – eine kreative Plattform, passend zu dieser Zeit!

Systemrelevant und unterbezahlt – Wohl dem Land, das keine Helden braucht!

Europaweit klatschen jetzt abends Menschen auf den Balkonen – für die Alltagshelden, die Leben retten – wobei: Zumeist sind es ja Heldinnen. Die Corona-Krise hat daran erinnert, dass Pflege systemrelevant ist. Und daran, dass Pflegende meistens Frauen und schlecht bezahlt sind. Eigentlich ist das alles nicht neu. Aber jetzt spricht man über eine Anhebung des Mindestlohns für Menschen im Pflegeberuf. Außerdem soll eine Corona-Zulage ausgezahlt werden. Wenn es auch sicher ein wichtiger Schritt ist, dass mit dem abendlichen Balkonklatschen diese oft übersehene Arbeit einmal Anerkennung findet – der Heldinnenstatus ist beunruhigend. Denn auch Ärzt*innen und Pflegekräfte sind Menschen, sind verletzlich, auch sie haben nur begrenzte Kräfte. Ich denke an ein Foto, das durch die Medien ging: von einer Krankenschwester in Italien, die nach langem Dienst total erschöpft an ihrem PC eingeschlafen ist. „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, heißt es in Bertolt Brechts „Leben des Galilei“. Die Maßnahmen für gute Pflege sind nüchtern: Pflege braucht eine gute Ausbildung, ordentliche Tarife und ausreichend Personal – seit Jahren Baustellen in unserem Land. Und sie braucht Schutz. Wo Menschen abverlangt wird, sich selbst zu riskieren, ohne Schutzkleidung, fehlt der Wohlfahrtspolitik die Fürsorge. Eine der großen Held*innen der Pflege, Florence Nightingale, deren 200. Geburtstag wir am 12. Mai feiern, hat aus freien Stücken viel riskiert, um die Pflege zu einem anerkannten Beruf zu machen. Aber noch immer geht es um den gesellschaftlichen Stellenwert dieser Arbeit. Dass die Fußballbundesliga einen ausgearbeiteten Hygieneplan mit regelmäßigem Testen vorlegen konnte, um schnell wieder viel Geld zu verdienen, während in Pflegeheimen, Kindergärten, Schulen noch immer Schutzkleidung und Testmaterial fehlen, zeigt überdeutlich, welches Gewicht wir Kindern, Alten und Kranken beimessen – und denen, die für sie sorgen. Mehr dazu am 17. Mai um 8.35 im DLF in meiner Sendung über „Die Lady mit der Lampe“ oder bei den aktuellen Texten auf meiner Website. Der Deutsche Pflegerat ermöglicht auf seiner Website einen umfassenden Blick auf die Probleme, die durch Corona gerade besonders deutlich werden.
Zu den dringenden pflegepolitischen Anliegen zählt auch die Forderung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen bagso, die auf die pflegenden Angehörigen schaut und eine bessere Unterstützung für sie verlangt.
Wie wichtig es dabei ist, geschlechterbewusst auf die Sorgearbeit zu sehen, ist in diesen Wochen noch einmal sehr klar geworden. Websites wie Care-Slam oder Netzwerk-Care-Revolution auf Facebook zeigen seit langem Initiativen und Modelle. Jetzt erschien in Bayern eine Broschüre mit dem Titel „Zukunftsfaktor: geschlechterbewusst sorgen“, die in sehr gebündelter Form die bedeutenden Ergebnisse des Forschungsverbunds For Gender Care zusammenfasst – ein echter Augenöffner und zugleich eine wichtige Argumentationsgrundlage für politische Forderungen.

Hülle und Fülle – aufräumen und stiften gehen

Was auch jetzt noch möglich ist

Weil es jetzt so zentral ist, über Pflege und hospizliche Arbeit nachzudenken, hat die Messe „Leben und Tod“ sich entschlossen, in diesem Jahr ein virtuelles Angebot zu machen. Ich habe mich gern beteiligt und meinen Vortrag zur Selbst-Für-Sorge eingestellt. Am 8. Mai kann man die Messe online live erleben.
Trotzdem hoffe ich, dass es im Herbst und Winter wieder gelingt, ganz unmittelbar am Thema zu arbeiten – mit Menschen aus den Dörfern und Städten rund um Schwäbisch Gmünd. Dort wird im nächsten Frühjahr das Kloster-Hospiz der Franziskanerinnen eröffnet. Zusammen mit der fachlichen Leitung Angelika Daiker möchte ich daran arbeiten, das Gespräch über Tod, Trauer und Sterben in der Region zu eröffnen und miteinander zu schauen, ob und wie die Corona-Krise unser Denken verändert hat. Im Kloster-Hospiz ist unter dem Thema „Hülle und Fülle“ eine Ausstellung über palliative Mäntel geplant – die dann auch virtuell zugänglich sein wird (dazu unten auch noch ein Buchtipp).

Wir können auch in diesen besonderen Zeiten vieles gemeinsam bewegen. Es braucht allerdings neue Techniken und handwerkliche Fantasie. So habe ich eine neue Webcam gekauft, mich auf einer Plattform eingemietet, und bereite neue Webangebote vor. Ab Juni finden Sie ein neues Angebot auf meiner Website „Oma trotzt Corona. Die Krisenexpert*innen“. An jedem ersten Mittwoch im Monat von 17:00 bis 17:45 Uhr lade ich Sie zu einer virtuellen Gesprächsrunde ein: Mir geht es darum, bei den stärkenden Erfahrungen Älterer anzuknüpfen. Menschen über sechzig sind ja nicht in erster Linie schutzbedürftig – sie bringen vielfältige Expertisen gerade im Umgang mit Krisen mit. Wie kann es gelingen, diese Ressourcen zu nutzen: für uns selbst, aber auch für die Menschen, mit denen wir leben? Zu jeder Sitzung lade ich zudem einen Experten oder eine Expertin zum Thema ein. Dr. Kristin Bergmann, Leiterin des Referates für Chancengerechtigkeit der EKD und Geschäftsführerin der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Altenarbeit (EAfA), Martina Jakubek, Referentin für Alters- und Generationenarbeit im Amt für Gemeindedienst in Nürnberg, Inken Richter-Rethwisch von der Projektstelle „Alternde Gesellschaft und Gemeindepraxis“ im Haus kirchlicher Dienste hier in Hannover und die Coach Petra Schuseil haben schon zugesagt. „Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein“, zitiert Inken Richter-Rethwisch Psalm 92,15 in der Signatur ihrer E-Mails!
Die ersten Termine für unsere Gesprächsrunde sind der 3. Juni, 1. Juli, 5. August und 3. September. Wenn Sie Lust haben, dabei zu sein, melden Sie sich doch bitte per Mail. Wir schicken Ihnen dann weitere Informationen.
Auch Annegret Zander von der Fachstelle zweite Lebenshälfte in Kurhessen-Waldeck plant am 21. August ein Webinar zu diesem Thema, an dem ich teilnehmen werde. Vielleicht engagieren Sie sich bei ähnlichen Modellen? Wenn Sie sich inspirieren lassen möchten oder einfach neugierig sind, wie Menschen im Netz Lebensmut vermitteln und gute Ideen weitergeben, dann schauen Sie doch mal bei den Sinnfluencer*innen. Viele weitere gute Ideen und Gedanken zum Umgang mit der Corona-Krise – darunter auch Anke Scholls wunderschönes Bilderbuch für Kinder zum Thema Corona – finden Sie auf meiner Website unter Meine Tipps.
Und dann gab Corona auch Zeit zum Aufräumen und Aussortieren. Von der Schwedin Margareta Magnusson habe ich ein neues Wort gelernt: döstädning. bedeutet Tod, städning heißt aufräumen. Den eigenen Besitz schon zu Lebzeiten zu verkleinern, biete eine schöne Gelegenheit, in Erinnerungen zu schwelgen. Außerdem gilt: „Je weniger Zeug man hat, desto mehr Zeit bleibt fürs Leben.“ Fast jede*r dritte Deutsche ab fünfzig Jahren (28 Prozent) ist bereit, das eigene Erbe oder einen Teil davon einer gemeinnützigen Organisation zugutekommen zu lassen (so eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) vom Januar). Das sind siebzehn Prozentpunkte mehr als im Jahr 2013. Bei den Kinderlosen sind es mit 51 Prozent sogar mehr als die Hälfte – auch das eine neue Entwicklung in der Singlegesellschaft. Im vergangenen Jahrzehnt wurden in Deutschland insgesamt 2,6 Billionen Euro vererbt. Das Zitat von Magnusson finden Sie in ihrem oben verlinkten Buch und auch auf der Website Das Prinzip Apfelbaum, auf der Sie auch in einem interessanten Magazin blättern können: Aus eigenen Erfahrungen das Leiden anderer mindern. Verantwortung für die Zukunft übernehmen, statt sich der Angst zu überlassen – boomende Stiftungen zeigen, dass die Zivilgesellschaft Verantwortung übernimmt, gerade jetzt in der Transformation. Das wurde sehr deutlich in einem „Stiftungs-Impact“ beim Erich-Schmidt-Verlag kurz vor dem Corona-Lockdown. Darauf wird es ankommen, wenn alles wieder ins Laufen kommen soll.

Die Richtung ändern. Bewusst.

„Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie […] Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt“, schrieb der Zukunftsforscher Matthias Horx am 23. März. Er hofft auf eine Renaissance von Büchern und Spaziergängen, das Ende der globalen Just-in-Time-Produktion. Inzwischen sind andere Töne zu hören und zu lesen. So meinte der BILD-Chefredakteur Julian Reichelt, unsere Wirtschaft sei „schon jetzt so massiv und teilweise irreparabel geschädigt, dass unsere Regierung sich kaum noch erlauben kann, zuzugeben, in ihrer Schärfe überzogen zu haben“. Die Kämpfe haben begonnen: Kämpfe um Prioritäten, Interessen, Zukunftsbilder – und natürlich um die Deutung der Wirklichkeit. Ist Corona ein Memento der Transformation? Was unbedingt eine grundlegende Rolle spielen muss beim neuen Anfang „danach“, ist eine nachhaltige, ressourcenschonende Lebens- und Wirtschaftsweise. Besonders prägnant formulieren das in meinen Augen die Transformateure in ihrem aktuellen Papier, in dem sie auf überzeugende Weise soziale und ökologische Fragen miteinander verbinden. Ich finde es deshalb äußerst ermutigend, wie Hartmut Rosa diesen Moment fasst: „Wie es jetzt weitergeht, vermag kein soziologisches, ökonomisches oder zukunftswissenschaftliches Modell vorherzusagen, denn es hängt nicht von unserem Wissen, sondern von unserem Handeln ab. Dass wir Interaktionsketten nicht fortsetzen (oder wieder in Gang bringen) müssen, sondern neu anfangen, kreativ werden können: Dies ist nach Hannah Arendt das Spezifikum menschlicher Handlungsfähigkeit. Sie nennt es Natalität.“
Um wirklich nachdenken zu können über Zukunftsbilder, Gegenwartserfahrungen und über unser Framing der Wirklichkeit, brauchen wir Zeiten des Rückzugs. In diesen Tagen und Wochen des unfreiwilligen Rückzugs habe ich mich noch einmal mit Otto Scharmers „Theorie U“ beschäftigt. Er setzt auf solche Zeiten, in denen ein Sichtwechsel möglich wird – und manchmal brauchen wir dafür einfach nur ein Training, einen Workshop oder ein Coaching. Dabei geht es darum, nicht nur bekannte Thesen „downzuloaden“ und was man ohnehin schon immer gedacht hat, auf die Situation anzuwenden, sondern tatsächlich zu einer neuen Wirklichkeitsdeutung zu kommen. Das gelingt aber nur, wenn wir bereit sind, Unsicherheit, Nichtwissen und Ängste auszuhalten.
„Während meiner ersten Schweigeexerzitien hat mir mein Begleiter als Übung aufgegeben, ich sollte einen Tag alleine nur mit Proviant im Rucksack einfach mal losziehen“, schreibt Rosemarie Meding, Äbtissin des Klosters Marienwerder in Hannover, in ihrem Corona-Rundbrief. „Es war ein Abenteuer! Ich habe gemerkt: auch wenn der Weg noch weit und nicht vorgezeichnet ist, ist es wichtig, nicht ungeduldig oder kopflos draufloszumarschieren, sondern immer wieder innezuhalten. Es geht darum, im Innehalten mit allen Sinnen, mit Kopf, Herz und ‚Bauch‘ in der Gegenwart zu sein und dann den nächsten Schritt zu tun.“
Wer gerade nicht eine ganze Tageswanderung in seinem Alltag unterbringen kann, dem helfen vielleicht auch die kleinen Übungen zu Spirtualität und Aufmerksamkeit, zu denen die App der Evangelischen Landeskirche Hannover anregt.
Und wer mit anderen diskutieren will, wie das Neue in die Welt kommen kann, dem sei der digitale Social Summit empfohlen.

Neue Termine und neue Formate

Und wie geht es weiter mit Seele und Sorge? Ein paar Veranstaltungen habe ich ja bereits oben genannt. Sie finden die komplette Terminliste hier. Ich freue mich zugleich darüber, dass es auch mehrere besondere Tage des Innehaltens und Sich-neu-Ausrichtens geben wird. Vom 7. bis 12. Oktober biete ich mit Franz und Sylvia Grubauer und Susanne Seffner ein Retrait zum Thema „Sichtwechsel“ für Führungskräfte in der Evangelischen Akademie Berlin-Schwanenwerder an. Es wird darum gehen, sich jetzt in der Krise in einer kleinen Gruppe der eigenen Werte zu vergewissern, Störungen zu reflektieren, neue Strukturen zu planen. Unser Team bringt unterschiedliche Hintergründe mit – von der Organisationsentwicklung bis zur Körperarbeit. Für den 1. und 2. Oktober plane ich zusammen mit Frank Dölker von der Bundesakademie Kirche und Diakonie eine Denk-Werkstatt in Berlin, bei der wir Erfahrungen aus den Corona-Nachbarschaftsprojekten aufnehmen und nach den Learnings für die Quartiersarbeit fragen.
Vorausgehen soll ein Webinar zum gleichen Thema (Termin steht leider noch nicht fest). Und für 2021 habe ich drei Seminare zum Übergang in die dritte Lebenshälfte geplant: „Noch einmal ist alles offen“ – in Berlin, Hannover und Düsseldorf-Kaiserswerth. Wir werden jeweils zwei Tage zusammen sein, uns Zeit zum Nachdenken nehmen, gemeinsam Zukunftsideen entwickeln – und dabei immer wieder darauf achten, dass all die Ideen auch mit unserem Atem, mit unserem Körper zusammenstimmen.
Mehr zu den Angeboten, zu den genauen Daten, Orten und Preisen finden Sie auf meiner Website. Unter den Stichworten Vorträge und Workshops finden Sie auch weitere Themen und Angebote, für die Sie mich „buchen“ können. Wie sich das alles aus der Sicht der Teilnehmenden ausnimmt, lesen Sie hier. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit! Und was zurzeit analog nicht möglich ist, das können wir vielleicht gemeinsam im Web entwickeln. Das gilt auch für das Coaching, in dem ich Sie individuell oder in Gruppen dabei unterstütze, zu Ihren speziellen Fragestellungen neue Sichtweisen zu finden und neue Wege zu gehen (hier ein Überblick über einige mögliche Themen). Sprechen Sie mich einfach an!

Inspirierende Orte

Wie wesentlich Orte und Räume sind – auch das ist in diesen Wochen noch einmal sehr sicht- bzw. spürbar geworden. Die geschlossenen Kirchentüren zu Ostern haben vielen das Herz bluten lassen. Jüd*innen ging es so zu Pessach und Muslim*innen gerade jetzt im Ramadan. Dabei ist in meinen Augen das zentrale Thema nicht nur das Grundrecht auf Religionsfreiheit, das hier und da eingeklagt wurde – es geht auch um das einfache Gefühl, aus dem Zuhause ausgesperrt zu sein. Kirchenräume bieten Heimat und Geborgenheit – und zugleich das Gefühl von Weite. Deshalb bin ich froh, dass viele Kirchen wieder offen sind – selbst wenn die jetzt möglichen Gottesdienstformen (hier die von der EKD formulierten Eckpunkte einer verantwortlichen Gottesdienstgestaltung und hier eine Zusammenfassung der Regelungen in den verschiedenen Landeskirchen von evangelisch.de) nicht wirklich glücklich machen. Da lohnt es sich doch, die Kreativität und Fülle wahrzunehmen, die inzwischen im Netz gewachsen ist, darunter auch viele Angebote der EKD. Inzwischen können also, wenn auch mit Einschränkungen, wieder Gottesdienste gefeiert werden. Auch hier muss man schauen, mit welchen Ausgrenzungen dies wiederum verbunden ist, so der katholische Bischof Gerhard Feige aus Magdeburg. Klar ist: das Warten auf Gottesdienste mit der „ganzen Sonntagsgemeinde“ und auch mit gemeinsamem Singen wird vielen lang. Aber Warten, die Leere aushalten, das kann uns auch auf einen neuen Anfang vorbereiten. Für diese Zeit „danach“ möchte ich Ihnen zwei Orte ans Herz legen, die ich in der Zeit „davor“ noch kennenlernen durfte:
Mitte Februar hatte ich Gelegenheit, an einem Workshop im Christian Jensen Kolleg in Breklum in Nordfriesland teilzunehmen. Das ist auch einer dieser ruhigen, inspirierenden Orte, an denen man ihre bewegte Geschichte zu spüren meint – und wo man einander auf einer tieferen Ebene begegnen kann. Ich hoffe mit der dortigen Leitung, dass Tagungen bald wieder möglich sind.
Bei einer Besprechung in Stuttgart habe ich das atrium 7 kennengelernt, einen Ort, an dem sich Buchhandlung und Kunstausstellungen mit einer Auswahl an besonderem Kunsthandwerk und einem wunderschönen Café verbinden. Laut Website hat das atrium 7 seit dem 25. April wieder geöffnet.

In den letzten Wochen habe ich aber vor allem die Orte vor meiner Haustür (wieder)entdeckt: die aufblühenden Bäume am Berenbosteler See, den wir regelmäßig umrunden. Die herrlichen Buchenwälder und Wanderwege am Deister, wo gerade alle Zutaten zu leckeren Frühlingsgerichten wachsen, wie sie Susanne Ackstaller empfiehlt. Die Holzkirchen im Harz. Und vor allem: unsere Terrasse im Frühling, wo jetzt der Flieder blüht. Da sitze ich, schreibe oder lese und schaue immer wieder in den Himmel, der so blau ist wie lange nicht mehr. Was für eine Schönheit mitten in der Fragilität dieser Krise. Ich bin überrascht, wie sehr mich diese Schönheit anzieht, bin verwundert „vom Gewohnten, das plötzlich auch außergewöhnlich ist, und dem Außergewöhnlichen, das gleichzeitig gewöhnlich bleibt“, wie Maaike de Haart in ihrem Buch „Das Fenster nach Süden“ schreibt. In der Verwunderung, sagt sie, ist alles verletzlich und offen. Die Wirklichkeit leuchtet auf eine andere Weise auf, aber ebenso: Ein anderer Teil der Wirklichkeit leuchtet auf. 
Eigentlich wollten wir in diesem Frühjahr in Zeeland sein, an der holländischen Nordsee. Ein Buch für den Osterurlaub hatte ich mir schon zurechtgelegt: „Das verborgene Leben meiner Mutter“ von Adriaan van Dis. Es erzählt ein Stück holländische Kolonialgeschichte als Familiengeschichte, eingepackt in die Alterns- und Abschiedsgespräche zwischen Mutter und Sohn. Gespräche, die beiden gut tun, weil wir Jüngeren die Geschichten der vorigen Generation brauchen! Das wird leider unterschätzt, wenn von Besuchen bei Älteren die Rede ist. Hier mischen sich lange verborgene und verschlossene Erinnerungen mit Träumen und Alltagserfahrungen eines Schriftstellers. Auf dieser sehr persönlichen Ebene erzählt van Dis zugleich über schockierenden Alltagsrassismus. Ein Buch auch zur Aufarbeitung des Kolonialismus, die ja eben erst begonnen hat. Und die angesichts der dramatischen Ausbeutungsverhältnisse in den globalen Lieferketten ja um neue Debatten ergänzt wird. Das Lieferkettengesetz, mit dem in Deutschland Firmen verpflichtet werden sollen, auf die Einhaltung der Menschenrechte und arbeitsrechtlicher Standards sowie die Vermeidung von Umweltzerstörung durch ihre Zulieferer zu achten, ist leider noch immer nicht in Kraft (hier die Website der Initiative Lieferkettengesetz, der unter anderem auch Brot für die Welt, der DGB und Greenpeace angehören). Doch es gibt ja auch positive und lebendige Beispiele von grenzüberschreitender Zusammenarbeit. In der Flüchtlingsarbeit von MILAA, einer Tochter des Evangelischen Diakonievereins Zehlendorf, hat ein syrischer Schneider, der mit seiner Familie dort lebt, mehrere hundert Masken genäht, um alle Bewohner*innen der Einrichtung damit zu versorgen. Das Corona-Virus überschreitet alle Grenzen – in unseren Städten und weltweit. Aber unser Zusammenhalt kann das auch.

Ein paar Buchtipps

Auch in diesem Newsletter möchte ich Ihnen Bücher vorstellen: Bücher von Freunden und Freundinnen und guten Bekannten, die für meine momentanen Überlegungen wichtig sind.
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Seit ich Vorsteherin in der Kaiserswerther Diakonie war, habe ich mich mehr und mehr mit der Pionierin der modernen Krankenpflege beschäftigt, mit Florence Nightingale. In diesem Jahr, in das ihr 200. Geburtstag fällt, hat Nicolette Bohn eine äußerst lesenswerte Biografie dieser eindrucksvollen Frau vorgelegt: „Florence Nightingale. Nur Taten verändern die Welt“. Dabei greift sie auch auf Quellen aus der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth zurück. In meinen aktuellen Texten zu Florence Nightingale habe ich sehr von Nicolette Bohns Ausführungen profitiert.
Die Kirchenhistorikerin Ute Gause, die vor Jahren das Oral-History-Projekt der Kaiserswerther Diakonissen begleitet hat, zeichnet in ihrem neuen Werk „Töchter Sareptas. Diakonissenleben zwischen Selbstverleugnung und Selbstbehauptung“ die Biografien von drei Diakonissen aus der Diakonissenanstalt Sarepta nach. So gewinnen wir ein Bild von den Lebens- und Arbeitsverhältnissen wie von dem Selbstverständnis nicht zuletzt der typischen Gemeindeschwestern, die als Pionierinnen der Quartiersarbeit viele Jahrzehnte unserer Sozialgeschichte geprägt haben..

 

„Kirche im Quartier. Die Praxis“ ist ein Handbuch, das tatsächlich für die Praxis geschrieben wurde. Die Herausgeber Georg Lämmlin (neuer Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD) und Gerhard Wegner (sein Vorgänger) sowie die zahlreichen Autor*innen stellen eine Vielzahl von Projekten vor, in denen sich die Kirchengemeinden zu den sie umgebenden Sozialräumen geöffnet haben. Zugleich geben sie praktische Hinweise, wie die Kirche ihre Rolle als zivilgesellschaftlicher Akteur vor Ort gestalten kann. Ich habe für das Buch einen Beitrag über Ältere im Quartier geschrieben.

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„Ermöglichen. Kirche im Jahr 2030“ – unter diesem schwungvollen Titel zeigt Steffen Bauer, der Leiter der Ehrenamtsakademie der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, wie Kirche beispielsweise in den Feldern Partizipation und Kommunikation, aber auch Struktur und Leitung eine Ermöglichungskultur schaffen kann. Dabei legt er Wert darauf, seine Überlegungen stets aus theologischen Reflexionen über Wesen und Auftrag der Kirche abzuleiten.

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Steffen Merle, den ich bei der ungeheuer inspirierenden Veranstaltung des Sozialforums Schöneck kennenlernen durfte, die er mit organisiert hat, machte mich auf ein Buch seines Freundes Holger Böckel aufmerksam, in dem er auch seine eigenen semiotischen und systemtheoretischen Ansätze wiederfindet: „Spiritualität und diakonischer Auftrag“ richtet den Blick auf diakonische Unternehmen und fragt danach, wie beides, Spiritualität und diakonischer Auftrag, reformuliert werden können, damit diese Unternehmen auf dem Sozialmarkt bestehen und zugleich ihr eigenes, am Evangelium orientiertes Profil bewahren.

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„Hülle und Fülle“ haben Barbara Hummler-Antoni und Angelika Daiker, mit der ich in Schwäbisch-Gmünd zusammenarbeite, ihr Buch genannt – in dem es um Sterbebegleitung geht. Im Mittelpunkt des kleinen Bandes über „Palliative Spiritualität in der Hospizarbeit“ steht wirklich eine Hülle, nämlich der Mantel. In der Antike gab es ein Pallium, einen Überwurf für Sterbende. Die Autorinnen entdecken – ausgehend von künstlerischen Interpretationen des Mantels von Astrid J. Eichin – im Bild des Mantels den Schutz und auch etwas, unter dem Menschen sich verbinden können. Von hier aus berichten sie über wesentliche Erfahrungen aus der Sterbebegleitung, die dem Leben Fülle verleihen können. Eine Ausstellung zum Mantel kann man im Klosterhospiz Schwäbisch-Gmünd und demnächst auch online sehen.

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Meine Freundin Gesine Palmer ist Trauerrednerin. Ihr Buch „Tausend Tode. Über Trauer reden“ ist eine kluge, dabei sehr persönliche Reflexion über diese Arbeit, die sie als eine Art „Schamanerei“ interpretiert – als Hilfe, mit den Grenzen umzugehen, die der Tod setzt. Ihr wissenschaftlicher Hintergrund als Theologin, Judaistin und Religionswissenschaftlerin ist dabei immer wieder spürbar. Dieser weit ausgreifende Essay ist mit großer Entschiedenheit ein Buch für das Leben.

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Lamya Kaddor habe ich zuletzt im Berliner Studio des Deutschlandradios getroffen, als wir über Weihnachten sprachen und sie sehr anregend schilderte, wie wichtig dieses Fest auch für Muslime in Deutschland ist. Jetzt hat die Islamwissenschaftlerin und Leiterin des Forschungsprojekts „Islamfeindlichkeit im Jugendalter“ eine Sammlung von Aufsätzen zum Thema „Muslimisch und liberal. Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht herausgegeben: „Ein theologisch fundierter und längst überfälliger Aufruf gegen die Vernebelung der Vernunft“, wie es im Ankündigungstext heißt.

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Warum sind so viele Menschen empfänglich für Rechtspopulismus und die scheinbar einfachen Rezepte der AfD? Gustav Horn, der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Heinrich-Böll-Stiftung, damals auch Vorsitzender der EKD-Sozialkammer und jetzt Vorsitzender des SPD Wirtschaftsbeirats, sieht den Grund in gesellschaftlichen Problemen, die durch die jahrzehntelange liberale Politik verursacht wurden. In seinem neuen Buch „Gegensteuern. Für eine neue Wirtschaftspolitik gegen Rechts“ zeigt er zugleich auf, wie ein Politikwechsel aussehen kann.

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„Mit Hölderlins Dichtung übersteht man jede Zeit“, schreibt der Philosoph Christoph Quarch, früher Studienleiter beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. Seinem eigenen Buch über Hölderlin hat er darum auch den Titel gegeben „Zu sein, zu leben, das ist genug. Warum wir Hölderlin brauchen“.

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„Mein Kompass ist der Eigensinn: Grundlagen, Vorbilder & Nutzen. Ermutigung zum eigensinnigen Schreiben“ – mit diesem Buchtitel meiner Freundin Maria Almana möchte ich die Liste der Lesetipps beenden – denn es ist ein Buch, das zum eigenen Schreiben anregt. Der Titel ist Programm. Und so fühle ich mich sehr geehrt, dass Maria Almana darin auch einen Abschnitt meinem Neuaufbruch mit dem Unternehmen „Seele und Sorge“ gewidmet hat.

Fünf Jahre Seele und Sorge, fünf Jahre Newsletter

Dies ist nun schon der neunzehnte Newsletter. Den ersten schrieb ich im Mai 2015. Seit der Gründung von Seele und Sorge vor fünf Jahren ist auch der Newsletter immer weiter gewachsen – auch durch Ihre Anregungen! Ich freue mich, dass er eine Art Plattform werden konnte: für neue Quartiersideen, Projekte, für Bücher und Orte. Und so freue ich mich immer über Ihre Rückmeldungen! Und falls Sie wissen möchten, wer außer mir noch an den Newslettern (und auch an anderen medialen Auftritten von Seele und Sorge) mitarbeitet, schauen Sie doch mal bei meinen Kooperationspartnern: Ina Sartor sorgt für die besondere Gestaltung, Dagmar Deuring unterstützt mich bei den Texten. Bis zum Frühjahr 2019 hat meine Assistentin Katrin Rudolph das Büro von Seele und Sorge wunderbar organisiert – nun hat sie eine interessante Stelle im Haus kirchlicher Dienste. Im September 2019 hat Natalie Volborth die Arbeit im Seele und Sorge Büro mit Elan übernommen. Und es sind, werden Sie sehen, noch viele andere institutionelle und individuelle Kooperationspartner*innen, mit denen ich schon zusammenarbeiten durfte – für sie alle gilt: Zusammenarbeit macht stark. Und Freude!
Und nun noch ein Hinweis in eigener Sache: 
Kurzarbeit im Office von Seele und Sorge: Bis Ende August erreichen Sie Frau Volborth nur noch am Mittwochnachmittag von 14.30 bis 17.00 Uhr oder sonst per Mail an office@seele-und-sorge.de.
SCI
s.c.i.: Diese drei Buchstaben schrieb mein Großvater in kleiner Schrift unter seine Briefe – sub conditione jacobea. Er bezog sich damit auf einen Vers im Jakobusbrief des Neuen Testaments. Bei Jakobus 4,15 steht „Wenn der Herr will und wir leben, dann werden wir dies und das tun.“
Alles, was wir planen, steht in einem größeren Horizont, hieß das. Es hängt letztlich nicht von uns ab, ob es klappt. Ich finde, das passt wieder. Wir haben ja gerade erlebt, wie unsere Planungen über den Haufen geworfen wurden. Jetzt kommt es darauf an, weiterzudenken – und doch abzuwarten, was wirklich geht und gelingt. Wie kraftvoll das Warten sein kann und wie relativ die Zeit, davon handelt ein Gedicht, mit dem ich den Newsletter ausklingen lassen möchte:
Ebbe
Ich ziehe mich zurück und warte.
Das ist die Zeit, die nicht verloren geht:
Jede Minute verwandelt sich in Zukunft.
Ich bin der Ozean des Wartens,
wasserdünn umhüllt vom Augenblick.
Saugende Ebbe des Gemüts,
das die Minuten zählt und das die Flut
tief in ihrer Finsternis bereitet.
Es gibt keine Zeit. Oder gibt es nichts als die Zeit?
M. Vasalis (1909–1998)
Mit herzlichem Gruß – bleiben Sie gesund!

Ihre Cornelia Coenen-Marx
Seele und Sorge GBR
Impulse – Workshops – Beratung

In unregelmäßigen Abständen, etwa drei- bis viermal im Jahr, informiert der Newsletter über Aktivitäten von Seele und Sorge. Der nächste Newsletter erscheint voraussichtlich Ende August. Und vielleicht hören Sie dann gleich mal rein in meine Morgenandachten und das Wort zur Woche im Deutschlandfunk vom 14. bis 19. September.

Ich freue mich auch über eine persönliche Nachricht: 
coenen-marx@seele-und-sorge.de

Wenn Sie den Newsletter bestellen möchten, senden Sie mir bitte eine Mail an newsletter@seele-und-sorge.de .
Vielen Dank für Ihr Interesse.