Es ist die Stunde der Pflege

„Pflege ist Kunst“, hat Florence Nigthingale gesagt und diesen Beruf revolutioniert – am 12. Mai wäre sie 200 Jahre alt geworden

Europaweit klatschen abends Menschen auf den Balkonen – für die Alltagsheldinnen, die Leben retten. Die Corona-Krise hat uns daran erinnert, dass Pflege systemrelevant ist. Und daran, dass Pflegende meistens Frauen und schlecht bezahlt sind. Die Versorgung von Kranken muss man klug angehen und gut ausstatten. Das wusste bereits Florence Nightingale, die legendäre „Lady with the lamp“.

Eigentlich ist das alles nicht neu. Aber jetzt spricht man über eine Anhebung des Mindestlohns für Menschen im Pflegeberuf. Außerdem soll eine Corona-Zulage her – 1500 Euro steuerfrei. Auch wenn das abendliche Balkonklatschen Anerkennung ausdrückt, der Heldinnenstatus ist beunruhigend. Ich denke an die Krankenschwester in Italien, die nach langem Dienst total erschöpft an ihrem PC eingeschlafen ist. „Wohl dem Land, das keine Helden braucht“, hat Bert Brecht geschrieben.

Eine der großen Heldinnen, eine Legende der Pflegegeschichte ist Florence Nightingale. Am 12. Mai wäre sie 200 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat die Weltgesundheitsorganisation 2020 zum weltweiten „Jahr der Pflege“ erklärt. Das war lange vor Corona. Aber plötzlich passt es erschreckend gut. Florence Nightingale, das ist die „Lady mit der Lampe“, die im Krimkrieg zwischen England und Russland nachts an den Betten der verwundeten und sterbenden britischen Soldaten saß. Sie ließ sich Briefe diktieren an Frauen, Mütter, Kameraden. Sie organisierte Finanztransfers, half Sterbenden, Abschied zu nehmen. Die Zustände in den Lazaretten waren katastrophal. Die Männer lagen in blutigen Uniformen unter schmutzigen Decken, obwohl die Vorratslager voll mit warmer Kleidung waren. Siebenmal mehr Soldaten sind im Krimkrieg an ansteckenden Krankheiten gestorben als an kriegsbedingten Verwundungen. „Ich bin im Zustand chronischer Wut“, schrieb Florence Nightingale. „Durch das unglaublich primitive Gesundheitswesen sind mehr Menschen umgekommen als durch russische Kugeln und Bajonette.“

Im Lazarett von Scutari, das die Türken damals der Britischen Armee zur Verfügung gestellt hatten, hat sie tatsächlich Übermenschliches geleistet. In dem heutigen Üsküdar, einem Stadtteil von Istanbul, steht bis heute das Hauptquartier der 1. Türkischen Armee, die Selimiye-Kaserne. Hier kam Florence Nightingale 1854 mit 38 Pflegerinnen an. „Die gesamte Armee stürmte in die Hospitäler“, schrieb sie. Über 5000 Verletzte mussten versorgt werden. Dazu kam der Kampf mit einer Militärbürokratie, die vor allem ein Ziel hatte – dass keine schlechten Nachrichten von der Krim nach England drangen. Auf die Pflegerinnen hatte niemand gewartet. Sie

galten zunächst als Störenfriede. Die Frauen mussten sich mit vier kleinen Kämmerchen begnügen – weniger, als ein einzelner Offizier zur Verfügung hatte. Aber mit Geduld und Fleischbrühe, mit Disziplin, Scheuertüchern und Verbänden gelang es Florence, sich Respekt zu verschaffen. Aus der verschmutzten Kaserne wurde ein Militärkrankenhaus mit Sälen für 900 Verwundete. „Es macht eben viel aus, wenn man die Großen zu Freunden hat“, schrieb Florence Nightingale.

Jahrelang hatte sie sich auf einen solchen Einsatz vorbereitet. Jetzt, auf der Höhe ihrer Kraft, zeigte sich: Sie war eine kluge Managerin, die sich mit den Mächtigen zu verbünden wusste, um ihre Ziele zu erreichen. Ihrem Einfluss auf die britischen Offiziere und Ärzte in Istanbul, später dann auf Militärbehörden und Gesundheitspolitik in London war es zu verdanken, dass die Sterblichkeitsrate in der britischen Armee kontinuierlich sank.

Pflege galt als prekärer Job für die Armen. Ohne Ausbildung, ohne Anerkennung. Dass eine hochgebildete Frau aus der Oberschicht eine so niedrige Arbeit tun wollte, war damals geradezu anstößig. Florence‘ Familie verkehrte am englischen Königshof. Auf den drei Wohnsitzen der Nightingales arbeiteten 15 Dienstmädchen, dazu Butler, Zofen, Köche, Hauslehrer. Die kleine Flo war bei einer Europareise ihrer Eltern zur Welt gekommen. Die Eltern nannten ihre Tochter nach der italienischen Stadt, in der sie geboren war. Von Kindheit an sah Florence ihre Berufung in der sozialen Arbeit. Als junges Mädchen pflegte sie fast den gesamten Hausstand während einer Grippeepidemie. Seitdem besuchte sie Krankenhäuser überall in Europa, studierte die Berichte, ermittelte das Durchschnittsalter der Patienten, verglich Diagnosen, Bettenzahl, Behandlungsdauer, die Sterblichkeitsrate und die Refinanzierung. Konsequent suchte sie Mentorinnen und Mentoren, die ihr auf den Weg helfen konnten: Sozialreformer aus ganz Europa, Menschen, für die ihre Ideen keine Hirngespinste waren. Denn sie war überzeugt, zur Pflege berufen zu sein. Viermal will sie die Stimme gehört haben, die unmittelbar zu ihr sprach –  zum ersten Mal mit 17. Früh schon träumte sie von Theodor Fliedners Diakonissen-Mutterhaus in Kaiserswerth. „Wenn ich Erfrischung suche, lese ich im Jahresbericht der Diakonissenanstalt“, schrieb sie. „Mein Herz ist schon da, und ich hoffe, dass ich eines Tages auch dort sein kann.“ 1851, sie war 31, kam sie ans Ziel ihrer Träume. Drei Monate lernte sie bei Theodor Fliedner, wie man als Pflegerin Zugang findet zu den Herzen der Menschen. Was sie dort erlebte, gab ihr Kraft, den eigenen Weg konsequent weiterzugehen – auch gegen die Erwartungen ihrer Familie. „Gott hat mich immer mit eigener Hand geführt“, schreibt sie.

In Kaiserswerth stehen heute die bronzenen Büsten von Theodor Fliedner und Florence Nightingale. Als 1970 der Grundstein für ein neues Krankenhaus der Kaiserswerther Diakonie gelegt wurde, erhielt es den Namen „Florence-Nightingale-Krankenhaus“. An der Feier nahm auch Prinzessin Anne für das britische Königshaus teil. Gudrun Zimmermann, die spätere Leiterin der dortigen Krankenpflegeschule, war als Schülerin damals dabei. Sie sagt zu den Arbeitsbedingungen in der Pflege heute: „Die tägliche Hetze, die Funktionalität und der Personalmangel im Krankenhaus verhindern Reflexion und kreatives und selbstbestimmtes Vorgehen.“ Aber Pflege braucht Klugheit und Kreativität. Sie ist mehr als ein Handwerk. „Nursing is an art”, schrieb Florence Nightingale in ihrem Buch „Notes on Nursing“. „Krankenpflege ist eine Kunst, und wenn sie zu einer Kunst gemacht werden soll, bedarf sie exklusiver Hingabe und genauso harter Vorbereitung wie die Arbeit eines Malers oder Bildhauers. Denn was ist der Umgang mit lebloser Leinwand oder kaltem Marmor verglichen mit dem lebendigen Leib, dem Tempel des Geistes Gottes?”

Pflege hatte für Nightingale eine spirituelle Dimension. „Florence war eine sehr gläubige Frau“, sagt Gudrun Zimmermann. „Sie hat ihren Auftrag in der Nachfolge Christi gesehen. Allerdings hat sie die pflegerische Kompetenz dem missionarischen Auftrag vorangestellt.“ Das zeigte sich in der Zusammensetzung der Schwestern, mit denen sie 1853 nach Istanbul aufbrach. Neben anglikanischen Schwestern waren auch katholische Ordensschwestern und weltliche Pflegerinnen darunter. Gudrun Zimmermann sagt aus ihrer Erfahrung mit angehenden Pflegenden heute: „Helfen wollen, etwas Sinnvolles tun und nicht dauernd am Schreibtisch sitzen, das sind die Motive, warum der Pflegeberuf ergriffen wird.“ Sie fügt hinzu: „Es gibt eine Sehnsucht nach guten Gesprächen, nach Nähe, nach vertrauensvollem Kontakt. Eine christlich begründete Berufswahl habe ich nicht erlebt.“ Die Diakonissen-Mutterhäuser hatten christliche Nächstenliebe als Quelle fürs Pflegen verstanden. Das hat den Pflegenden zwar ein hohes Berufsethos beschert, aber wenig Lohn bei zum Teil ausbeuterischen Strukturen.

Inzwischen sind Pflegedienste und Kliniken zu einem größeren Teil privatisiert. Die Gesundheitseinrichtungen gleichen „weißen Fabriken“, sagt der Medizinethiker Giovanni di Maio. Es geht um Effektivität und Effizienz, Gewinn- und Verlustrechnungen. Ärztinnen, Ärzte und Pflegende haben gelernt, ihr professionelles Handeln von ihrer Motivation und auch von ihren Gefühlen abzuspalten. Im Unterschied dazu hat Florence Nightingale ihre Arbeit als Berufung verstanden. Sie hat für die bestmögliche Pflege mit Leidenschaft, Zorn und Verstand gekämpft. Die Pflege kann nach wie vor von ihr lernen.

Was ist also zu tun, um den Einfluss der Pflege akut und mittelfristig zu stärken? Gudrun Zimmermann sagt: „Pflegenotstand gibt es in meiner Wahrnehmung seit jeher, von allen gewusst und im Kleinen versucht zu verändern. Jetzt zu Corona-Zeiten kann nicht wirklich so getan werden, als sei man überrascht.“ Nein, Klatschen vom Balkon genügt nicht. Und auch Heldinnen brauchen wir nicht. „Die Pflege muss sich politisch organisieren. Wir müssen die Rahmenbedingungen verbessern und zum Beispiel eine Pflegekammer gründen. Denn noch immer sind die Curricula Medizin-lastig, die staatlichen Examensprüfungen werden von Medizinern des Gesundheitsamts abgenommen und die Weiterbildungen über die Krankenhausgesellschaft abgewickelt.“

In der Corona-Krise tritt der Wert der modernen Medizin für alle sichtbar zutage. Zur Zeit von Florence Nightingale spielten Infektionen eine noch größere Rolle. Sie selbst infizierte sich vermutlich 1855 im Lazarett von Balaklawa auf der Krim an einer Virus-Grippe. Damals sprach man vom Krimfieber. Sie überstand die Krankheit, gesundheitlich jedoch stark angeschlagen. Vom Fieber gezeichnet und mit geschorenem Haar wurde sie erst recht zur bewunderten Heldin. Bei ihrer Rückkehr nach England 1856 wollte man sie groß feiern. Aber den Begrüßungskomitees wich sie aus. Sie ging unerkannt an Land. Wichtiger war ihr der Fonds, der zu ihren Ehren aufgelegt wurde. Er diente der Pflegeausbildung. Was sonst.