Noch einmal ist alles offen – Das Geschenk des Älterwerdens

1. Das Beste kommt noch – Werden, wer wir sind

So ist das also mit dem Alter. Es passiert jedem. Ich stehe vor dem Spiegel. Bald werde ich 60 sein, denke ich. Uff! Im sechsten Jahrzehnt bin ich bereits. Anfangs klingt das heftig. In zwanzig Jahren, ich weiß, klingt es jung. Das schreibt die Autorin Ulrike Draesner, 1962 geboren- eine aus der Babyboomer-Generation. 60 ist die neu 50, heißt es. Ist Ulrike Draesner alt mit ihren 55 plus? Was ist überhaupt Alter? „Ich entdeckte mein erstes graues Haar mit 28 oder 29, noch bevor ich meine Dissertation abgegeben hatte. Seltsamerweise fand ich das gemein. Gemeiner waren nur die süffisanten Kommentare sogenannter Kolleginnen, die fragten, ob ich mir die Strähne da vorn weiß färben lasse, weil das besonders schick aussehe. In Anbetracht meiner Gespräche mit meiner Mutter, die ihre Haare noch färbte, als sie über 80 war, gab ich sofort zu, dass sich diese Härchen absolut von selbst färbten.

Und sofort standen diese Spannungen im Raum: Was wird vorgelebt? Was blüht einem, ob man will oder nicht, mit den Jahren? Was wurde als Regelwerk verinnerlicht – und wird nun, allemal von Frauen gegenüber Frauen, scharf beobachtet und kontrolliert? Die Redewendung vom Blühen gefällt mir. Das Alter, das einem blüht. In aller Doppeldeutigkeit, mitsamt der mitklingenden Drohung, aber auch verstanden als blühendes Alter. Was für ein Konzept.“

Ein zweites „Coming of Age“ sei das Älterwerden, habe ich neulich gelesen. Der Philosoph Thomas Rentsch spricht vom Altern als einem „Werden zu sich selbst“. Das zeigt auch Iris Apfel. Die alte Frau mit dem faltigen Gesicht und den großen roten Brillen, die neulich den Spiegel-Titel zum Thema „Ewig leben“ zierte. Und die verrücktesten Sachen trägt, als sei sie in ihren 20ern. Sie hat viele andere inspiriert, sich so zu kleiden, wie sie sich fühlen und attraktiv finden. Große Statementketten, witzige Hüte- anders eben als die Erwartungen an „ältere Frauen“, die wir als Regelwerk verinnerlicht haben. Für das Alter, das uns blüht.

Auch Konstanze Schmidt nimmt das Wachstumsbild auf. In ihrem Buch „ Spurwechsel“ über die neue Lust am Älterwerden, fordert sie ihre Leserinnen auf, einen Baum zu malen– mit Wurzeln, Stamm und Rinde, mit Blättern, Früchten, Knospen. Und dann zu meditieren, gern auch über mehrere Tage:  Wo wir verwurzeln und verankert sind. Was uns Lebenskraft gibt und Stabilität gibt. Was wir erreicht haben und was wir noch entfalten wollen. Denn Bäume blühen auch im Alter noch – und schlagen neue Triebe. Wir wachsen, auch wenn wir schon erwachsen sind.

2. Was uns blüht – Das Alter als Chance zum Neuanfang  

 „Da geht noch was“, heißt das Buch, das Christine Westermann sich zu ihrem 65. geschenkt hat. Darin erzählt sie von ihrer letzten Fernsehreportage beim WDR. Gedreht wurde ein Klosteraufenthalt. Zurück an ihrem Schreibtisch sah sie, wie die Sendung beworben werden sollte. „Christine Westermann: „Wieviel Leben bleibt mir noch?“, stand da. Sofort spürte sie, wie der Ärger in ihr Aufstieg. „Die Leute denken, die hat eine todbringende Krankheit“, dachte sie. Oder, Möglichkeit zwei: „Die ist stark vergreist und verabschiedet sich mit dieser Dokumentation.“ Und dann, mit klarem Kopf schrieb sie an die Redaktion: „Wie viel Leben bleibt mir noch? Das ist keine Sinnfrage. Das ist eine Unsinnsfrage. Es geht nicht um das Wieviel. Das Wohin ist entscheidend, die Richtung, die ich meinem Leben noch geben will. Nur deshalb habe ich mich auf die Suche eingelassen.

Älterwerden hält noch einmal neue Entwicklungschancen bereit. Was liegen geblieben ist, vergessen oder auch verdrängt wurde, kann nun noch einmal aufgegriffen, angepackt, integriert werden. „Viel, allzu viel Leben, das auch hätte gelebt werden können, bleibt vielleicht in den Rumpelkammern verstaubter Erinnerungen liegen, manchmal sind es glühende Kohlen unter der Asche“, hat der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung geschrieben. Denn das Erreichen eines Ziels, des beruflichen Aufstiegs zum Beispiel, erfolgt eben immer auch auf Kosten der Totalität der Persönlichkeit: Wir funktionieren, wir passen uns an, übernehmen eine Rolle. Wenn die Kinder erwachsen sind, ein weiterer Aufstieg nicht möglich ist, wenn wir gesundheitlich an Grenzen stoßen, können wir den sozialen Panzer ablegen und andere Aspekte der eigenen Person zum Zuge kommen lassen.

Eine Bekannte ging mit Mitte 50 nach Afrika. Als Ärztin wollte sie an frühere Erfahrungen mit Ärzte ohne Grenzen anknüpfen. In Ostafrika half sie, ein Krankenhaus nach westlichen Standards aufzubauen, was Labor und Operationstechnik angeht. Zugleich arbeitete sie im Auftrag des DIFAEM mit den Frauen der Basisgesundheitsdienste zusammen. Und lernte dabei in den charismatischen Gemeinden ein ganz anderes Verständnis von Krankheit und Heilung kennen.  Sie schrieb: „Alter ist eine einmalige und neue Form der Freiheit, die verstanden und gelebt werden will.“

Ich musste 60 werden, um das zu begreifen. Mit 60 wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass mein Berufsweg in diesem Jahrzehnt zu Ende gehen würde. Bis dahin hatte ich nicht viel darüber nachgedacht- ich liebe meine Arbeit, die Themen und Projekte. Jetzt erst wurde mir klar: Der Wunsch nach „Entschleunigung“, den ich schon länger spürte, hatte offenbar auch mit meinem Alter zu tun. Begriffen habe ich das erst, als es im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr so weiter ging.  Meine dritte Lebensphase begann im Krankenhaus. Da lag ich mit mehreren Wirbelbrüchen, unbeweglich fast. Ich konnte meine Arme kaum bewegen, den Laptop nicht nutzen, schon gar nicht aufstehen und gehen. Selbst das Telefon zu erreichen, war schwierig. Und wenn die Klingel am Bett nicht richtig festgezurrt war, konnte ich nur warten, bis dass irgendjemand von der Pflege bei einem Kontrollgang in mein Zimmer kam. Es war nicht einfach, diese Angewiesenheit auszuhalten; ich war unglaublich froh, dass mein Mann am Anfang Ferien hatte – seine Unterstützung in den kleinen Alltagsdingen war ungeheuer tröstlich. Ich sehe ihn an meinem Bett sitzen, wir hatten den Arzt etwas gefragt, was weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich genau an die Antwort: „ Nein, dazu sind Sie noch zu jung. In 20 Jahren vielleicht.“ Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich noch einmal davon gekommen war. Und dass etwas Neues angefangen hatte. Die dritte Lebenshälfte: Geschenkte Zeit.

Während die gebrochenen Wirbel langsam heilten, musste ich mich mit meiner Verletzlichkeit, meiner Endlichkeit auseinandersetzen. Es folgten noch eine Star-Operation, eine lange  Zahnbehandlung. Offenbar war es Zeit zum Abschiednehmen vom dem Gefühl, dass alles ganz selbstverständlich funktioniert- auch ich selbst. Damals hat mich Margarete von Trottas Film über Hildegard von Bingen inspiriert. Sie erzählt, wie die bekannte Klostergründerin gegen Ende ihres Lebens eine ungewöhnliche Entscheidung trifft. Sie verlässt das Kloster, in dessen Aufbau sie ihr ganzes Leben investiert hat, verlässt den Konvent und ihre Rolle als Äbtissin und bricht zu Pferd auf eine Predigt- und Seelsorgereise auf. Allein, im eigenen Rhythmus, nur von wenigen Freunden begleitet.

Lars Tornstam, der in Schweden Untersuchungen zur Spiritualität älterer Menschen durchgeführt hat, spricht von Ego-Transzendenz oder auch von Gero-Transzendenz. Er meint: Das Alter bietet die Chance, mich selbst zu überschreiten. In der Fachsprache: sich selbst zu transzendieren, mich grundsätzlich offen zu halten für ganz neue Möglichkeiten – neue Erfahrungen und Bilder von der Welt, von mir selbst und auch von Gott. Freiwerden und loslassen.

Die Bibel ist voll von Neuanfängen. Und das Lebensalter spielt dabei keine Rolle.  Denken Sie nur an die Geschichte von Abraham und Sara, die in hohem Alter aufbrechen in das Gelobte Land und spät noch den ersehnten Sohn zur Welt bringen – so spät, dass Sara schon allein den Gedanken an eine Schwangerschaft lächerlich findet. Einem Traum geht Sara nach mit ihrem Abraham. Nachts unter dem Sternenhimmel hat Gott ihm versprochen, dass sie eine neue, eine bessere Zukunft finden würden – und dass ihre Nachkommen so zahlreich sein würden wie die Sterne am Himmel. Selbstverständlich ist es nicht, dass einer seinen Träumen folgt. Sich auf den Weg macht Schritt für Schritt. Es muss ein schwerer Weg gewesen sein durch die Wüste. Voll Fremdheitserfahrungen, Misstrauen und der Angst, allein gelassen zu werden, zu versagen und sich lächerlich zu machen. Aber Abraham und Sara haben dem Unwahrscheinlichen, sie haben Gott eine Chance gegeben.

3. Was füllt mein Leben aus? Im Alter die eigene Berufung entdecken

Wer heute in Rente geht, hat wahrscheinlich noch 20 gesunde und aktive Lebensjahre vor sich. Und die jüngste EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt: 75 Prozent der 60- 69 –jährigen blicken zuversichtlich auf ihr weiteres Leben; und über ein Drittel geht davon aus, dass noch ein Neuanfang stattfinden kann. Viele machen sich noch einmal auf den Weg und helfen international als Au-pair, im Senior Expert Service oder übernehmen einen freiwilligen Einsatz in Krisengebieten. Andere engagieren sich jetzt in der Flüchtlingsarbeit oder arbeiten ehrenamtlich in der Nachbarschaft– als „Leih-Omas“, Stadtteilmütter, Senior-Mentoren für Schüler und Azubis, in Familienzentren und Generationenhäusern. Und oft entstehen dabei neue Freundschaften und Liebesbeziehungen. Es geht also nicht um selbstvergessene Nächstenliebe. Es geht darum, uns selbst als Teil eines generationenübergreifenden Netzwerks zu begreifen, an dem wir mitknüpfen, das uns aber auch hält.  „Ich für mich. Ich mit anderen für mich. Ich mit anderen für andere. Andere mit anderen für mich“ schreibt Margret Schunk aus Württemberg. „Weil wir uns vorgenommen haben, etwas gemeinsam zu tun, was uns allen nützt, was uns allen hilft.“ Es geht darum, die Welt auch weiterhin aktiv mitzugestalten.

In einer Studie des Wiesbadener Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung haben 47 Prozent der Befragten angegeben, sie würden nach Erreichen des Rentenalters gern weiterarbeiten – bei deutlich reduzierter Arbeitszeit natürlich. Der Alterssurvey der Bundesregierung zeigt für 2014 bereits 11 Prozent Rentner, die weiter erwerbstätig sind – und zwar über alle Schichten und keinesfalls nur aus finanziellen Gründen. In keiner Altersgruppe steigt die Beschäftigung derzeit so stark an wie bei den Rentnern – unmittelbar gefolgt von der Gruppe der 60-65-jährigen mit einem Beschäftigungsplus von 12 Prozent im Jahr.

Früher war klar: Kinder lernen, Erwachsene arbeiten, und die Alten ruhen sich aus. Das ist passe“, sagt Ursula Staudinger, die Alternsforscherin aus New York. Bis in die 60er Jahre hat man den Ruhestand als Feierabend begriffen,  Erholung von einem aktiven Arbeitsleben. In den 70ern dann, der großen Zeit des Wohlfahrtsstaats, wurde die Rente zur Belohnung für die anstrengenden Jahre von Krieg und Wiederaufbau. Der wohlverdiente Ruhestand– mit Freizeit, Familie  Reisen. Heute ist die Zeit nach der Erwerbstätigkeit zur dritten Lebensphase geworden. Mit der Chance, noch einmal etwas Neues zu beginnen, den eigenen Interessen nachzugehen, aber auch Gesellschaft mit zu gestalten. „Das Alter veraltet“, hieß es im 6. Altersbericht der Bundesregierung, der sich mit dem Wandel der Altersbilder befasste. Alter ist auch eine soziale Konstruktion, ganz ähnlich wie das Geschlecht.

Eine kleine Geschichte soll deutlich machen, was ich meine: Die amerikanische Firma Vita Needle stellt seit einigen Jahren gezielt ältere Arbeitnehmer ein. Das Geschäftsmodell basiert darauf, dass der Staat die Anteile der Renten- und Krankenversicherung für die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer übernimmt, während das Unternehmen lediglich die anteiligen Lohnkosten nach dem Mindestlohn zahlt. Im Gegenzug achtet das Unternehmen darauf, dass die Arbeitsplätze den gesundheitlichen und zeitlichen Möglichkeiten der Mitarbeitenden flexibel angepasst werden. Schon bald stellte sich heraus, dass die Produktivität mit dem Alter seiner Mitarbeitenden nicht fiel, sondern stieg. Die Älteren liefern hochwertige Arbeit und haben Spaß am Job und das gute Gefühl, gebraucht zu werden. In einem Interview lehnte es einer der Mitarbeiter, der 84-jährige Alan Lewis es ab, in ein nahe gelegenes Altenzentrum zu gehen. Er könnte sich anstecken, meint er. Und auf die Frage, womit denn, ist die Antwort: „Mit dem Alter.“ Denn Alter, sagt er, werde einem beigebracht. „Man ist umgeben von alten Leuten und so lernt man, dass man so werden wird. Das muss man aber gar nicht.“ Auf den Hinweis, dass er doch auch bei Vita Needle mit alten Leuten zusammenarbeitet, sagt er: „Die sind nicht alt, die sind anders.“

 „Wer sich aktiv bemüht, Veränderungen in der Welt mitzukriegen, wird den Anschluss nicht verlieren. Wir wissen aus der Forschung, dass es wichtig ist, im Leben mehrere Dinge zu haben, für die man sich interessiert“, sagt Ursula Staudinger. Mehr und mehr Unternehmen bieten mit Corporate Volunteering oder Senior Expert Service Programme an, die den Übergang von der Erwerbstätigkeit in das bürgerschaftliche Engagement der dritten Lebensphase gestalten helfen. Es geht eben nicht um eine Schwelle, sondern um einen Prozess, um einen Brückenschlag in die Tätigkeitsgesellschaft.

„Warum begreifen wir Frauen das Alter als Gefängnis“, fragt die Mode-Designerin Miuccia Prada, inzwischen 68 Jahre, in einem Interview mit der NY Times. Und antwortet sich dann selbst:„ Ich glaube, für dieses Drama müssen wir eine Lösung finden. Wir haben ja nicht mehr nur ein Leben, nein, es sind mittlerweile zwei oder drei. Und es wird die Zukunft unserer Gesellschaft enorm beeinflussen, wie wir selbst mit dem Älterwerden umgehen.“ Ob wir also den Blick nach vorn richten auf das Neue, das kommt- oder ob wir das Alter als Abstellgleis begreifen. Ob wir selbstbewusst, kritisch und noch immer voll Energie in die neue Lebensphase gehen. Oder ob wir die heimliche Verachtung für das Alter übernehmen und uns auf traditionelle Rollen festlegen lassen. Großeltern sein – ja, die allermeisten von uns sind gern Großeltern- für die eigenen Enkel und auch für andere Kinder-, aber wir sind nicht jederzeit verfügbar. Ehrenamtlich arbeiten, ja- die meisten engagieren sich gern, aber nicht als billiger Jakob, wo hauptamtliche Unterstützung gefragt wäre. Den Ruhestand genießen- ja, jenseits von Funktions- und Zeitdruck der Erwerbsarbeit. Aber einfach nur ausruhen wollen wir nicht. Tatsächlich werden wir ja gerade jetzt gebraucht – und eben auch umworben. Sportvereine und Parteien, Schulen und Hospizvereine wissen: mit den Angehörigen dieser so gesellschafts- und politikerfahrenen Generation lässt sich einiges auf die Beine stellen. Wer sechs und mehr Jahrzehnte Leben hinter sich hat, dem muss man nicht erklären, wie das Leben funktioniert. Aus Berufstätigkeit und Familie, aus Vereins- und Nachbarschaftserfahrungen bringen wir Kompetenzen mit, die wir gern in neue Kontexte einbringen.

In Psychologie heute erschien im August 2016 eine Untersuchung über den Übergang aus der Erwerbsarbeit. Da zeigen sich drei Wege: Es gibt die „Weitermacher“, die als Seniorberater, Freiberufliche oder Honorarkräfte oder auch ehrenamtlich weiter in ihrem Arbeitsfeld unterwegs sind. Und dann die Anknüpfer, die aus ihren bisherigen Kompetenzen etwas Neues entwickeln. Wir kennen das von Sportlerkarrieren: vom Spieler zum Trainer, zum Manager oder zum Sportartikelhersteller. Und schließlich die Befreiten, die froh sind, endlich raus zu kommen aus einem Job, den sie als entfremdet erlebt haben. Sie finden ihr Glück vielleicht jetzt in einem Ehrenamt, im Sportverein oder in der Hospizarbeit.

Ursula Staudinger, inzwischen 57,  hat  vor drei Jahren ihren Arbeitsplatz gewechselt und ist nach Amerika gegangen. Für eine Professur in Amerika gibt es kein Rentenalter, sagt sie. Sie hofft, so lange gesund zu bleiben, mental und körperlich, dass es ihr gelingt, ihre Arbeit bis ans Lebensende mit Freizeit zu kombinieren. Mit Hanna Arendt versteht sie Arbeit als Weltgestaltung. Dabei spielt die Bezahlung gar nicht die wichtigste Rolle. Und für die Bibel sind alle Tätigkeiten, die im Dienst des Lebens stehen, Ausdruck des göttlichen Auftrags, die Erde zu bebauen und bewahren soll. Pflanzen und gießen, Früchte ernten und Speisen zubereiten und gastfreundlich sein, Kinder zur Welt bringen und Kranke pflegen- das gehört von Anfang an auch dazu. Luther sah in den unterschiedlichen Aufgaben „Berufe“; er sah Menschen sah, die dazu „berufen“ waren.

„Was füllt mein Leben aus? Was suche ich? Und was machen andere?“ Das sind Fragen aus dem Modellprojekt „Alter neu gestalten“ der evangelischen Kirche in Württemberg. Da haben sich Menschen zusammengetan, die neugierig sind auf das, was die Älteren zu geben haben. „Geht da was zusammen? Es geht darum, andere Menschen kennen zu lernen, die auch ihre Herausforderungen bestehen, ihre Chancen nutzen wollen.“

4. Zugehörigkeit gestalten – Die Nachbarschaft im Blick

 „Wenn wir nicht allein bleiben und nicht nur privatisieren wollen“, schreibt Lisa Frohn in ihrem Twitter-Buch „Ran ans Alter“, dann brauchen wir Räume, wo wir hingehen können. Um andere zu treffen. Um uns auszutauschen. Um gemeinsam etwas zu tun. Um uns als gesellschaftliche Wesen zu erleben.“ Im letzten Freiwilligensurvey wurde zum ersten Mal die informelle, außerfamiliale Unterstützung in Freundschaft und Nachbarschaft abgefragt. Dabei zeigte sich: Immerhin 25 Prozent engagieren sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung. Und die wechselseitige Unterstützung tut allen gut, schärft den Blick aufs Leben, verbessert die Lebensqualität aller.  Ehrenamtliches Engagement ermöglicht Teilhabe, stärkt die Verwurzelung in der Nachbarschaft und Selbstbewusstsein.

„Mach dich auf, lass Dich ein“, das war und ist das Motto des Wickrather „Gemeindeladens“. 1986 haben wir ihn in meiner damaligen Mönchengladbacher Kirchengemeinde gegründet – einen Stadtteilladen mit Bücherei und Cafe, mit Kleiderkammer und Sozialberatung, der von einem großen ehrenamtlichen Team zusammen mit einer hauptamtlichen Sozialpädagogin und einem Zivi geführt wurde. Ich werde die vielen Ehrenamtlichen nicht vergessen, die sich in diesem Laden engagierten. Die arbeitslose Schuhverkäuferin zum Beispiel, die nun zu unserer Starverkäuferin in der Kleiderkammer wurde. Sie sah auf den ersten Blick, was anderen passte, was zu ihnen passte. Und sie lebte dabei mehr und mehr auf. Es gibt eine Reihe Untersuchungen, die zeigen, dass ehrenamtlich Engagierte länger leben – bis zu fünf Jahre länger leben.

Denn wer anderen wirklich offen begegnet, der lernt auch, das eigene Leben mit anderen Augen zu sehen, und Belastungen ins Verhältnis zu den eigenen Chancen zu setzen. Wer bereit ist, die eigenen Kräfte einzubringen, der findet auch Zugang zu Kraftquellen, von denen er nichts wusste. Wir schöpfen Lebensmut und Vitalität daraus, dass wir nicht nur für uns selber leben. Victor Frankl, ein jüdischer Psychotherapeut, hat diese Entdeckung im Konzentrationslager gemacht: Alles hängt davon ab, sagt er, ob wir einen Sinn in unserem Leben finden; ob unser Leben Bedeutung für andere hat – und sei es nur für einen Menschen, den wir lieben. Ein erfülltes Leben- und nicht nur ein gut gefülltes Konto – darauf kommt es an.

Ganz unterschiedliche Menschen haben im Laden eine Aufgabe gefunden, die sie erfüllte. Drei Ehepaare organisierten im Wechsel das Cafe Efeu- einen Sonntagstreffpunkt für Ältere, für Einsame. Andere engagierten sich in der Hausaufgabenhilfe, später bei einem Schulkindertreff am Mittag. Gemeinsam mit der Sozialstation entstand ein Begleit- und Servicedienst für pflegende Angehörige. Da entwickelte sich aus dem Ehrenamt ein Honorarvertrag oder eine geringfügige Beschäftigung. Viele brachten ihre beruflichen Kompetenzen ein, andere machten ihr Hobby zum Angebot für viele machten: So entstanden ein Quiltkurs und eine Umweltgruppe. Manche engagierten sich jahrelang, andere für einen Kurs oder einen Vortrag. Menschen kamen und gingen wieder, sie trafen sich und begegneten einander, sie vernetzten ihre Arbeit mit der Diakoniestation und dem Kindergarten, aber auch mit der AWO und dem Caritas-Altenheim, mit dem Gewerbekreis und der Stadtverwaltung. Der Leiter des Sozialamts kam zu einem Gespräch über Sozialhilfe ins Team. Die Flüchtlingsberatung kam, als die Flüchtlinge aus Sri Lanka oft Im Laden Tee tranken. Jeder, der ein Problem mitbrachte, konnte auch ein Anstoß sein, um mehr zu erfahren und mehr zu lernen. Und wenn es gut ging, gingen beide verwandelt in ihren Alltag zurück – die Suchenden und die Mitarbeiter.

Ich war schon damals begeistert, wie viele verborgene Talente der Gemeindeladen hervorgezaubert hat, wie Blüten aus Blumenzwiebeln hervorsprießen. Ich glaube, dass in jedem etwas ruht, was ans Licht drängen will – wir müssen aber auch eine Atmosphäre schaffen, in der es wachsen kann.

5. Mein Traum vom Älterwerden – Sorgende Gemeinschaften

„Mein Traum vom Älterwerden wäre, dass Menschen jeden Alters zusammen kommen und zusammen wachsen, so selbstverständlich wie dies in vielen Familien geschieht. Vor Ort wäre mein Wunsch, dass Alter weder Krankheit noch Tabu ist.“ (Erika Haffner) „

Die familiären Netze dünnen aus: Die Wohnentfernung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hat in den letzten Jahren ständig zugenommen. Nur noch ein Viertel der Befragten geben an, dass ihre erwachsenen Kinder noch am selben Ort wohnen und bei einem weiteren Viertel sind die Wohnungen mehr als zwei Stunden voneinander entfernt. Zwar geben immer noch 80 Prozent der Befragten an, dass sie in der Familie wöchentlich Kontakt zueinander haben – aber im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-jährigen immer seltener praktische Hilfe; die Quote sank um 8 Prozentpunkte von 19,5 Prozent 1996 auf 11,7 Prozent 2014..

Es ist kein Zufall, dass das Thema „Wohnen“ so viel Gewicht bekommen hat – von den Seniorenwohngemeinschaften bis zu den Mehrgenerationenhäusern. Junge Studierende wohnen günstig bei älteren, kaufen im Gegenzug ein dafür einkaufen oder den Garten pflegen. So wichtig es ist, Dienstleister für Hauswirtschaft, Pflege, Einkaufsdienste ins Quartier zu bringen, so sehr kommt es eben auch darauf an, dass die Bürgerinnen und Bürger mit wechselseitigen Diensten und Hilfen füreinander einstehen – auch über die Generationen hinweg. „Die mit einer Gesellschaft des langen Lebens verbundenen Herausforderungen verlangen nach einer Auseinandersetzung mit Fragen des Menschseins, mit dem Verständnis von Würde und mit den Vorstellungen eines guten und sinnerfüllten Lebens unter Bedingungen der Vulnerabilität. Vorstellungen von Leben und Autonomie, die den Beziehungscharakter menschlichen Lebens und dessen Angewiesenheit auf andere nicht einbezieht, sind unvollständig“, schreiben Thomas Klie und Andreas Kruse.

Im Alter bekommen die Körper eine andere Bedeutung – sie werden anfälliger und zeigen Schwäche“, schreibt Lisa Frohn. „Das heißt auch, dass der Ort, an dem sich der Körper befindet und die Umstände an diesem Ort wichtiger werden. Weil es um Wohlergehen, Gesundheit, Versorgung und Betreuung geht. In Quartiersprojekten und Familienzentren, in Seniorenwohngemeinschaften, Mehrgenerationenhäusern und Stadtteilzentren entwickelt sich zurzeit eine neue Gestalt des Sozialen: die Sorgenden Gemeinschaften. Es geht um Nachbarschaftsnetze und Ehrenamtliche, die einander begleiten und Alltagshilfen leisten. Mit Telefonketten, bei Arztbesuchen und Einkäufen, mit Besuchen oder auch als Pflegebegleiter. Das Herz der neuen, generationenübergreifenden und gemeinwohlorientierten Bewegung, schlägt bei den „jungen Alten.

Klaus Dörner hat mit seinem Wunsch „Ich will leben und sterben, wo ich dazu gehöre“, viel angestoßen. Die Einrichtungen der Altenhilfe haben sich differenziert: mit betreutem Wohnen und Kurzzeitpflege, ambulanter Pflege und hauswirtschaftlichen Hilfen, aber auch mit Cafés und vielfältigen Kooperationen im Quartier. Mit wöchentliche Mittagstischen, wo oft abwechselnd gekocht wird – manchmal einfach für eine Gruppe von Älteren, die nicht länger für sich allein kochen wollen. Oder mit Stadtspaziergängen mit Rollstuhl und Rollator wie dem Wägelestreff in Gültlingen, mit Erzählcafés und Biografiewerkstätten. In Hamburg-Eilbeck gibt es eine Sütterlinstube, wo Ältere für Übersetzungsdienste zur Verfügung stehen, anderswo entstehen Schmökerstuben bei Café und Musik in der Gemeindebücherei. Mit dem Projekt www.unser-dorf-mooc.de haben die Evangelischen Kirchen in Hessen im Herbst 2016 einen Online-Kurs zur Dorfentwicklung gestartet, in dem man von Expertinnen lernen kann, einen Dorfladen oder ein Café zu entwickeln. In den Massiv Open Online Course (MOCC) investieren die Teilnehmenden eine bis fünf Stunden pro Woche für Fortbildung und Begleitung. Dazu gibt es Expertengespräche, einen Online-Chat und Videos, aber auch weiterführende Links und Literatur.

Das Wesentliche spielt sich heute vor Ort ab. Und genau da ist unsere Einmischung gefragt – und da kann das Kleine große werden. Dank digitale.nachbarschaft.de, Change.org und We.move können heute auch kleine Initiativen und Modelle zu Vorbildern und Plattformen für große Debatten werden.  Die entscheidenden Veränderungen kommen von unten- und gerade nicht aus den Institutionen mit ihren Anpassungszwängen. Wie beim Joggen oder Walken ist es für jeden wichtig, sich Partner für das eigene Engagement zu suchen

In Workshops mit Ehrenamtlichen, beim Nachzeichnen von „Engagementkarrieren“, ist mir klar geworden, wie sehr Erfahrungen in Familie und Freundschaft die eigene Haltung prägen. Engagement hat seine Wurzeln in Familie, Schule und Jugendarbeit, zeigt sich in den beruflichen Projekten und Teams, aber eben auch in Nachbarschaftsinitiativen und politischer Arbeit. Manchmal wechselt es einfach die Farbe- was gestern noch Beruf war, ist heute Ehrenamt. Deshalb sehe ich Haupt- und Ehrenamt auf Augenhöhe!  Was gestern noch eine Initiative war, wird heute zum Start up. Entscheidend ist: Engagement ist selbstbestimmt, kreativ und frei. Es schafft birgt Sinnerfahrungen und gibt das Gefühl, zum Ganzen beitragen zu können.  Ehrenamtliche „gehören“ keiner Organisation, die Engagierten  sind in der Regel in mehreren Organisationen aktiv .Sie sind es, die mit ihren Ideen nach den passenden Einsatzfeldern suchen und Innovationen vorantreiben.

6.  Klären, was liegen blieb – Der Weg nach innen

Das Leben als Reise, als Pilgerschaft ist für viele heute zu einem spirituellen Bild geworden. Es passt in eine Zeit der Mobilität und Migration und der immer neuen Aufbrüche in Jobs, Partnerschaft und Familie- beruflich wie privat. Und es hat zu tun mir der Frage nach dem Wohin, die auch Christine Westermann stellt. Christine Bergmann, die ehemalige Bundesfamilienministerin, ist gerade mit ihrem 20-jährigen Enkel den Jakobsweg gegangen – ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes, nach einer Phase vieler Ämter und Ehrenämter ging es sicher darum, dem Leben noch einmal neu auf die Spur zu kommen. Und auch die vielen Altersgenossinnen, die jetzt auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs sind- oft von Bordseelsorgern und Bordseelsorgerinnen begleitet, wollen nicht nur entspannen, gut essen und den blauen Himmel genießen- es geht zugleich um neue, tiefere Entdeckungen. Bei einem Vortrag zum Thema Spiritualität im Alter erzählte mir ein älterer Mann, dass er seine tiefste religiöse Erfahrung am Berg Athos gemacht hatte – bei Sonnenuntergang unter Mönchen und anderen Männern.

„Es lohnt sich nur der Weg nach innen“, heißt eines der Bücher von Sam Keen über „Das kreative Potenzial der Langeweile“. Keen legt den Finger in die Wunde einer Zeit, in der immer etwas los sein muss, damit man sich spürt. Nur keinen Stillstand aufkommen lassen, nur nicht zur Ruhe kommen. Dabei ist genau das die Voraussetzung, unsere Erfahrungen zu reflektieren und uns zu verändern. Nichtstun und Träume haben, anderen mit Empathie begegnen – für Sam Keen sind das Haltungen auf dem Weg nach „oben“, zu mehr Gesundheit, Lebendigkeit und Engagement.

Darum geht es, wenn Menschen im Alter noch einmal neu beginnen und für andere, aber auch für sich selbst Verantwortung übernehmen – nun aber in einem Sinne, dass sie sich selbst zugleich realisieren und überschreiten. Sie erinnern sich Jakob, den Zweitgeborenen, der seinem Bruder Esau das Erbe abluchste –und seinem Vater Isaak den Segen. Ein junger Mann, voller Hunger nach Leben, dem jedes Mittel Recht scheint, um zu bekommen, was das Schicksal ihm verweigert: Land und Herden, die dem Erstgeborenen zustehen, eine große Familie und viele Nachkommen, eben Erfolg und Segen. Der Schwindel fliegt auf und Jakob flieht durch die Wüste zu seinem Onkel Laban. Er wird sich durchkämpfen durch die Widrigkeiten der kommenden Jahre und es wird ihm tatsächlich gelingen, sich nach und nach den Reichtum aufzubauen, von dem er geträumt hatte – und es scheint tatsächlich, als stünde ihm der Himmel offen. Davon erzählt der Traum von der Himmelsleiter, den er auf der Flucht geträumt hatte.

Diesem Jakob begegnen wir später noch einmal  – in einer anderen Nacht, gegen Ende seines Lebens. Es ist eine Art Gegengeschichte – denn Jakob ist auf dem Weg zurück, um sich mit Esau zu versöhnen. Seine Herden, seine Frauen und Kinder hat er am Ufer gelassen; er ist allein, als er in der Nacht am Fluss Jabbok mit seiner unbekannten Macht ringt. Noch einmal geht es um den Segen – jetzt aber nicht mehr in diesem äußeren Sinne von Erfolg, Land und Besitz, sondern in einem inneren Sinn. Es geht um die eigene Integrität, um das Akzeptiertwerden – nicht nur von der Familie, sondern letztlich von Gott. Am Ende ist Jakob verletzt – er hinkt, aber er geht der Sonne entgegen. Und er ist ein anderer geworden oder in einem tieferen Sinne er selbst: Von jetzt an trägt er den Namen Israel. Einen anderen Namen bekommen – das ist wohl das Symbol einer grundlegend neuen Weichenstellung. Wir kennen das von Konversionen und Ordensgemeinschaften.

Der Maler Max Beckmann hat die beiden Gottesbegegnungen Jakobs in einem einzigen Holzschnitt dargestellt – er zeigt Gott mit Jakob auf der Leiter. Wie Jakob sich festhält an dieser Gottesgestalt und doch zu fallen droht in die Tiefe und Dunkelheit des Flusses. Von oben aber, von der Spitze der Leiter, strahlt Licht ins Bild – die aufgehende Sonne. Es ist, als zöge sie den Fallenden nach oben. „Ich bin in meinem Leben oft gefallen, sei es in Beziehungen oder im Beruf, emotional oder körperlich, doch immer gab es einen Trampolineffekt, der bewirkte, dass ich letztlich nach oben gefallen bin“, schreibt dazu der Franziskanerpater Richard Rohr.

Jakobs Weg wird beschrieben wie die Schrittfolge in einem Coaching-Prozess; sie ist mir zum Symbol für Wege des Wandels und der Veränderung geworden: Wir werden herausgerufen aus dem Gewohnten. Wir finden Mentorinnen, die uns über die Schwelle begleiten. Wir müssen Prüfungen und Kämpfe bestehen und haben Erfolge. Und dann kehren wir mit allem, was wir erreicht haben, den Rückweg an und müssen noch einmal eine Schwelle überschreiten – uns auch mit unseren Schatten auseinandersetzen – und mit unserer tiefsten Sehnsucht. Und dabei wird spürbar: wir sind ein anderer geworden. Während wir im Außen unterwegs waren, sind wir zugleich einen inneren Weg gegangen.     

7. Noch bist Du da: Die Löffelliste

Wenn der Zeithorizont sich im Altern verschiebt, wird die Frage drängender, wie wir die Lebensphase nutzen, die noch vor uns liegt. Noch einmal aufbrechen und Neues wagen – die gewohnten Rollen verlassen. Einen ungelebten Traum endlich in die Wirklichkeit umsetzen. Oder einfach weglassen, was lediglich den Erwartungen anderer entspricht oder was sich so an Gewohnheiten angesammelt hat: Wesentlich werden, nennt eine Freundin das.

Vielleicht haben Sie schon einmal von der Löffelliste gehört.  Gemeint ist eine große oder kleine Liste auf der steht, was für Träume wir uns noch erfüllen wollen. In Robert Reiners Film „Das Beste kommt zum Schluss“ von 2007 wurde sie bekannt – die Bucketlist, übersetzt die Löffelliste.  In dem Film mit Jack Nicholson liegen zwei krebskranke Männer, die kaum gegensätzlicher sein könnten, in einem Krankenzimmer. Und beide erfahren, dass sie nur noch sechs bis zwölf Monate zu leben haben. Da beginnt einer der beiden eine Liste der Dinge zu erstellen, die er in seinem Leben noch tun will, bevor er den Löffel ab-gibt. Die Idee dazu stammt aus der Zeit seines Philosophiestudiums, als er diese Aufgabe als Übung aufgetragen bekam. Er schreibt einige Punkte auf – dann landet die Liste zerknüllt auf dem Boden. Sein Bettnachbar findet sie und schreibt weiter, was ihm am Herzen liegt. So entsteht die gemeinsame „Bucket List“: Ein Fallschirmsprung, eine Reise zu den Pyramiden, der Wunsch einem fremden Menschen etwas Gutes tun oder so sehr zu lachen, bis man weint. Der Film erzählt, wie die beiden sich tatsächlich auf die Reise begeben und dabei zu Freunden werden. Und am Ende unterstützen sie sich darin zu verstehen, dass es nicht um den Taj Mahall oder den schnellsten Wagen, sondern um Freundschaft und Versöhnung.

Ich hatte meine Liste schon begonnen, bevor der Begriff „Löffelliste“ durch die Blogs geisterte- und manchmal schon habe ich mit leisem Lachen festgestellt, dass einiges, was da-rauf steht, nicht mehr wichtig ist. Aber es ist schön, die liegengebliebenen Aufgaben, die losen Projekte noch einmal aufzunehmen, die man im Stress des beruflichen Alltags fast vergisst.

 „Wenn man sich gedanklich damit befasst, das Leben von hinten zu betrachten- mit dem letzten Tag als Startpunkt und dann dabei versucht, nach Geschichten zu suchen, die erzählenswert sind, dann wird es interessant. Wann kannst du sagen: jawohl, ich habe gelebt?“ fragt auch Evelyn Wenzel, die Autorin des „Lebensfreude-Blogs“. Und sie kommt zu dem Schluss, dass die bewegendsten Momente nicht die sind, in denen wir in unserer Komfortzone vor uns hindümpeln. „Meine „Geschichten des Lebens“ sind sehr emotional, mich bewegend, teilweise sehr belastend, aber am Ende immer extrem bereichernd. Doch was habe ich noch vor? Nun bin ich 37 und wenn alles gut läuft, habe ich noch mehr als die Hälfte meines Lebens vor mir. Es steht also noch eine Menge an. Welche Geschichten will ich noch erleben?“

Und dann notiert Evelyn Wenzel die Fragen, die ihr geholfen haben, die eigene Löffelliste zu erstellen- sie können auch anderen helfen auf dem Weg dahin:

•Was würdest du tun wollen, wenn du unbegrenzt Zeit und Geld zur Verfügung hättest?

•Was würdest du noch tun wollen, wenn du nur noch zwei Wochen zu leben hättest?

•Wovon hast du früher immer wieder geträumt?

•Was möchtest du auf diesem Planeten noch unbedingt sehen oder erleben?

•Welche Ziele willst du noch erreichen?

•Welche Erfahrung möchtest du noch machen?

•Gibt es etwas, das du noch lernen möchtest?

•Mit welchen Menschen möchtest du zusammentreffen?

•Gibt es schwebende Konflikte, die du noch lösen möchtest?

•Gibt es Dinge, die du bestimmten Menschen noch sagen möchtest?

Und hier ein Auszug aus Evelyns Löffelliste:

1. Spanisch lernen. (begonnen im April 2014!)

2.Menschen, die in einem Hospiz im Sterben liegen, begleiten und ihnen Mut machen auf ihrem letzten Weg. (Zwar nicht im Hospiz, aber begleitet)

3. Ein Gemeinschaftswohnprojekt verwirklichen mit mehreren Familien und einem Ge-meinschaftsgarten.

4. Polarlichter live sehen.

5. Mit einer Frauenband auftreten und singen.

6. Meinen Kindern immer eine Freundin sein können. (geschafft)

Jetzt ist Zeit für Träume, dachte ich, als meine Krankheit mich zum Innehalten zwang und dann zum Ausstieg aus der bisherigen Berufstätigkeit. Wenn ich will, kann ich noch einmal etwas ganz Neues machen. Ein Lokal aufmachen vielleicht oder wenigstens einen literarischen Salon? Als wir vor Jahren das alte Diakonissen- Mutterhauses in Kaiserswerth zum Hotel umbauten, hatte ich mit der Architektin lange davon geträumt. Oder vielleicht eine lange Reise machen, Orte der Diakonie  besuchen und über die Inspirationen schreiben, die mir dort begegnen? Noch einmal war alles offen, wie damals, als ich die Schule abgeschlossen habe. Und dann war ich erstaunt, wie schnell die gewohnten Mechanismen griffen. Was können wir uns leisten, wo sind meine  gesundheitlichen Grenzen, was wird aus unserer Wohnung? Ach, überhaupt die Wohnung: Wäre es nicht sinnvoll, über ein alternsgerechtes Wohnen, eine generationenübergreifende Genossenschaft vielleicht? Die neue Freiheit bot viele Möglichkeiten wie lange nicht mehr.

Für den französischen Soziologen Roland Barthes begann sein neuer Lebensabschnitt, als seine Mutter starb. Bei aller Trauer des Abschieds – er wollte sich jetzt endlich seinen Traum erfüllen. Er wollte einen Roman schreiben. Aber das neue Leben beginnt nicht einfach von selbst; es braucht einen bewussten Entschluss. Man muss den Alltagstrott verlassen, die eigenen Routinen  und Prioritäten überprüfen, Überflüssiges sein lassen. „Wesentlich werden“.

Rose Ausländer, 1901 in Czernowitz geboren- eine Bürgerin des 20. Jahrhunderts mit all seinen Schrecken. Eine Vielfachüberlebende. Geflüchtete, Migrantin, die am Ende in einem Düsseldorfer Altenheim starb. Was sie schreibt, gilt aber nicht nur den Alten- vielleicht gilt es gerade den Nachgeborenen; jedenfalls ist es einer Schulklasse gewidmet. „Noch bist Du da-sei, was Du bist, gibt, was Du hast.“ Erkennen, was einen Unterschied macht in meinem Leben- und womit ich einen Unterschied machen kann:

„Noch bist du da. / Wirf deine Angst in die Luft. / Bald ist deine Zeit um/ bald wächst der Himmel/ unter dem Gras/ fallen deine Träume ins Nirgends.

Noch duftet die Nelke/ singt die Drossel/ noch darfst du lieben/ Worte verschenken/ noch bist du da/ sei was du bist/ gib, was du hast“ (Rose Ausländer)

Cornelia Coenen-Marx, Hamburg, 13.02.20