Demokratie in der Kirche – Impulsvortrag für einen Gesprächsabend in Bergen am 04.02.2020

1.Geschichte wirkt

Die Garnisonkirche beim Tag von Potsdam: Wir sehen die Feierlichkeiten zur Eröffnung des Reichstages. Am 5. März 1933 war ein neuer Reichstag gewählt worden. An der Feier am 21.März 1933 nahmen neben den Reichstagsabgeordneten (mit Ausnahme derjenigen von SPD und KPD) auch die Reichsregierung, der Reichspräsident Paul von Hindenburg und geladene Gäste aus Wirtschaft, Kultur und Reichswehr teil. Die Zusammenkunft wirkte ganz ähnlich wie der Empfang der neuen Reichstagsabgeordneten beim Kaiser, die bis 1918  Brauch gewesen war. Beim Tag von Potsdam war Adolf Hitler zwar schon fast zwei Monate Reichskanzler, seine diktatorische Herrschaft war aber noch nicht gefestigt. Der „Tag von Potsdam“ sollte das Vertrauen der konservativ und monarchisch eingestellten Menschen stärken. Am Ende sang man gemeinsam: „ Nun danket alle Gott“.

Zu diesem Zeitpunkt war mein Großvater Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde Rheydt am Niederrhein. Die kleine Stadt galt als Eckstein der Monarchie im Westen –der protestantischen Bevölkerungsteil war reichs- und kaisertreu und  deutschnational. Hier hatte die NSDAP, die mit dem Anspruch einer national gesinnten, überkonfessionellen, aber positiv christlichen Weltanschauung auftrat, große Erfolge. In diesen ersten sechs Monaten des Dritten Reiches überwog die Freude und Dankbarkeit für das neue Regime. Das kirchliche Leben nahm einen enormen Aufschwung. Ausgetretene kehrten in die Kirche zurück. Und Gliederungen der NSDAP nahmen in Uniform und geschlossenen Formationen an Gottesdiensten teil.

Als dann im Januar 34 der Arierparagraph wieder eingeführt wurde, verbot man sich die Erörterung politischer Fragen von der Kanzel.  Die Gehorsamsverpflichtung gegenüber der Obrigkeit wirkte nach.Die Einsicht, dass der Untergang der Pluralität in der Gesellschaft auch den Untergang der Kirche bedeutete und dass bei Verletzungen der Humanität auch die Kirche betroffen war, diese Einsicht kam nur vereinzelt “, schreibt Siegrid Lekebusch.

Wie konnte das passieren? Seit der Reformation galt in den evangelisch gewordenen Staaten das landesherrliche Kirchenregiment. Der Landesherr war zugleich summus episcopus. Er fiel unter den Geltungsanspruch des vierten Gebotes- die Obrigkeit wurde patriarchal verstanden.  Mit der Monarchie endete dann 1918 auch der Summepiscopat. Das führte zu erheblicher Verunsicherung. Neben äußeren Fragen von der Schulaufsicht bis zur Kirchensteuer musste auch die innere Verfassung der Kirche neu geregelt werden.  Die Kirchenverfassungen der Landeskirchen mussten auf kirchliche Selbstbestimmung hin formuliert werden. Dabei konnte man durchaus auf ältere synodale Traditionen zurückgreifen – nach frühen Vorläufern in Emden und Duisburg waren in der Mitte des 19.Jahrhunderts zur Zeit des Vormärz und der Frankfurter Paulskirche nahezu überall Synoden entstanden. Jetzt aber ging es um mehr: um eigenständige Konsistorien, um Selbstverwaltung. Die Einführung des neuen DC-Reichsbischofs Müller im Juni 33 ließ manche hoffen, man könne in die Zeiten vor Weimar mit der Allianz von Thron und Altar zurückkehren.  

Statt „Thron und Altar“ entstand eine Allianz von „Nation und Altar“ (Martin Honecker). Dieses Erbe wirkt bis heute nach: die Evangelische Kirche in Deutschland ist durch nationale Grenzen definiert – auch wenn der Name Deutsche Evangelische Kirche 1948 bewusst geändert wurde und die VELKD als Gegenüber zur römisch-katholischen Kirche durchaus Wert darauf legt, Teil einer lutherischen Weltkirche zu sein. Verschiedene Studien zeigen, dass das obrigkeitsstaatliche, autoritäre Denken in der Kirche bis heute eine große Rolle spielt.

Die Leipziger Autoritarismusstudie 2018 macht deutlich: Protestanten und Katholiken haben eine stärkere Präferenz zum Autoritarismus als Konfessionslose.  „Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht sind“: 88 % Katholiken, 86% Protestanten. „Wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft Führungspersönlichkeiten überlassen“: 60 Prozent der Kirchenmitglieder. Und die Studie „Christsein in Westeuropa“ des Pew-Research-Center 2018 zeigt: 55 % der regelmäßigen Kirchengänger meinen, der „ Islam sei grundsätzlich nicht mit Kultur und Werten unseres Landes vereinbar“- bei den Religionslosen sind   es 32 %. 73 % der regelmäßigen Kirchgänger meinen, man müsse „deutsche Vorhaben haben, um Deutscher zu sein.“ (vgl. Arnd Henze: „Kann Kirche Demokratie?“ 2019)

2. Gemeinschaft der Schwestern und Brüder: Die Barmer Theologische Erklärung von 1934

 „Massenversammlungen in Wuppertal“; so war ein Artikel im Sonderdruck der  Barmer Zeitung von 1934 anlässlich des „kirchengeschichtlichen Ereignisses der Deutschen Bekenntnis-Synode „am 29. Mai überschrieben. Der „Gemeindetag unter dem Wort“; der zum Abschluss der Bekenntnissynode 15.000 – 20.000 Besucher in ganz Wuppertal zusammen brachte, sei eine „ Demonstration der Glaubenden“ gewesen, kann man lesen. Stadthallen und Kirchen hätten selten einen solchen Andrang gesehen. Die Konferenz wolle nicht die Zerrissenheit der Kirche durch Neugründungen verschärfen, sie stehe für die historisch gewachsenen Bekenntnisse lutherisch-reformiert-uniert , sagte der reformierte Gemarker Pfarrer Paul Humburg bei einem Gemeindeabend in der Barmer Stadthalle, die wegen Überfüllung vorzeitig geschlossen werden musste. Aber im Schatten dieser Bekenntnisse gebe es viele Kirchen: Satte Kirchen, Kirchen toter Organisation, Kirchen mit falscher Prophetie, Kompromisskirchen, und auch die „Kirche unter dem Kreuz“. Die bekennende Gemeinde habe die Pflicht, darum zu ringen, als Gemeinde das Herz der Welt zu sein. Während dessen sprach in  der Unterbarmer Hauptkirche der Berliner Stadtmissionsdirektor Dannenbaum über das Thema „ Die Kirche als tote Organisation“ .Er sah in der Krise und Krankheit der Kirche die Chance zu einem Neuaufbruch und sprach sich dagegen aus, etwa Parochialbezirke der Kirche mit der Gemeinde Jesu Christi gleich zu setzen. Nicht der geographische Raum zähle, Erweckungslust und Veränderungsbereitschaft müssten Raum gewinnen.“

Über die Bekenntnissynode wird im selben Blatt folgendes berichtet: „ Alles Demonstrative lag der Synode fern, vielmehr wollte sie, dass wirkliche christliche Bruderschaft getätigt würde und in die Erscheinung träte“. Der westfälische Präses Koch sprach „dem gegenwärtigen Kirchenregiment der deutschen evangelischen Kirche Vollmacht und Recht ab, eine Reform der Verfassung vorzunehmen“: Kirchenreform, so die Synode eindeutig, entstehe nicht aus Organisationsmacht, sondern aus der Vollmacht, die sich auf das Wort Gottes gründet. Barmen überschreitet eine Vorstellung von Kirche, die territorialkirchlich-konfessionell bestimmt war. In allen Berichten wird deutlich: Es geht um Einheit in der konfessionellen Vielfalt.  Dabei fällt auf, dass in der Presse keinesfalls nur große und bekannte Namen genannt werden wie die von Karl Barth, Hans Asmussen , oder der des im Juni 33 gestürzten Reichsbischofs von Bodelschwingh. Es sind die Ortspfarrer, die für die Bewegung stehen. „Kirche als Gemeinde von Brüdern“, das ist auch das Bild einer breiten Bewegung, die sich gegen eine von der Reichsregierung korrumpierte, hierarchische Organisation richtet.Barmen überschreitet eine Vorstellung von Kirche, in der staatskirchliche Verfassung noch nachwirkt. 

Ganz überwunden ist das noch nicht: Wir sehen das an den Kämpfen um die so genannten kirchlichen Privilegien vom kirchlichen Arbeitsrecht über die Anstaltsseelsorge bis zur Repräsentanz im Rundfunk, von der Kirchensteuer bis zu den Staatsleistungen. Wir sehen das aber auch daran, dass Territorialität und Parochie noch immer die kirchlichen Strukturen und die gesellschaftliche Kultur bestimmen.

Anknüpfend an Barmen sah Gollwitzer die Zukunft der Kirche in einer Personengemeinschaft auf lokaler und regionaler Ebene, in sozialen Netzwerken, die über die Parochie hinaus gehen, im Bekanntmachen des neuen Lebens– nicht nur in Worten, sondern auch in einem neuen Lebensstil. In der Volkskirche als hierarchischem Apparat mit ihrem Vorrang des kirchlichen Amtes vor den Charismen sah er Elemente der falschen Kirche. Gleichwohl blieb sie für ihn der Ort, an dem die wahre Kirche Ereignis werden kann- nicht zuletzt in der Begegnung mit Gruppen und ökumenischen Gemeinschaften, die neue Herausforderungen angehen. Dabei weisen Barmen III und IV die Richtung: von der Herrschaft zum Dienst, von der einsamen Spitze zur Anerkennung der Vielfalt, von der Verschlossenheit zur Teilhabe. Mein Großvater nannte diese Synode deshalb „schwärmerisch“.

 „ Die christliche Gemeinde ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als Kirche der begnadeten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte…“, heißt es in These 3.

Mit dem Bild von der Gemeinde von Brüdern nimmt der Text der Barmer Erklärung die biblische Tradition der Gleichheit und Geschwisterlichkeit wieder auf, die sich in den frühchristlichen Gemeinden in der Beteiligung von Männern und Frauen, Sklaven und Freien, Juden und Griechen zeigt. Auch wenn der Text die Juden vergisst und die Frauen ausspart, leuchtet diese Vision als Herkunftsbestimmung der Gemeinde auf: über alle sozialen Unterschiede hinweg, über Herkunft, Geschlecht, Unterschiede des Alters und der Gesundheit hinweg ist Gemeinde Leib Christi. Das Papier des ÖRK „ Kirche aller“ hat 1. Korinther 12 mit –Blick auf die Inklusion behinderter Menschen genauso ausgelegt. Und die EKD-Denkschrift „ Gerechte Teilhabe“ von 2006 bemängelt, dass auch ärmere Menschen in vielen Kirchengemeinden nicht sichtbar sind, weil sie die Mittelschichtgemeinde immer noch als „ die da oben“ erleben.

In These 4 wird dann festgehalten: „ Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes“. Die christliche Gemeinde als Gemeinde von Brüdern und Schwestern, wie wir heute bekennen, wird darin Wirklichkeit, dass die unterschiedlichen Gaben und Dienste Raum haben- die hauptamtlichen genauso wie die ehrenamtlichen, die pfarramtlichen ebenso wie die diakonischen. Heutige Kirchenordnungen und Kirchengesetze halten fest, dass Ehrenamtliche und Hauptamtliche, Pfarrer und „Laien“ gemeinsam Synoden leiten. Gleichwohl wird noch immer gerungen: um den Status des Diakonats in der Kirche oder um den der Ehrenamtlichen. Dabei geht es nicht immer um theologische Auffassungen, sondern sehr häufig wegen weltlicher Attitüden. So empfindet sich ein großer Teil der Ehrenamtlichen in der Kirche nach wie vor als Helfer und Helferin der alles entscheidenden Hauptamtlichen.

Davon erzählt Bärbel Mohr, die eine Vorleseausbildung über die Freiwilligenagentur der AWO gemacht hat und Bücher und Zeitschriften für Blinde und sehbehinderte Menschen einliest.  „Irgendwann stellte man mir dann auch Mikro und Aufnahmegerät zur Verfügung, um zu Hause weiterzuarbeiten. Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, setzte ich mich an meinen Computer und sprach mit großem Spaß Hörbücher auf. Hier kam es zu einer herausfordernden Situation, in der ich üben durfte, zu mir zu stehen“. Es ging um eine Kirchenzeitung für Blinde. Das Problem: Obwohl die Blätter nur monatlich oder zweiwöchentlich erschienen, erhielt ich die Texte erst am Abend vorher. Das bedeutete unweigerlich Nachtschicht… „Also sprach ich mit dem Pfarrer, von dem ich die Texte erhielt. Ich bat ihn, sie ein bis zwei Tage früher zu besorgen, so dass ich das Aufsprechen tagsüber erledigen konnte.  Aber warum auch immer – ich bekam die Texte weiterhin genauso so spät. Als ich dem Pfarrer mitteilte, dass ich das nun nicht mehr mitmachen würde, sagte er: Das können Sie doch gar nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass Sie die Blinden so im Stich lassen“, schreibt Mohr. Und sie fährt fort: „Deshalb habe ich dem Herrn Pfarrer freundlich, aber klar Lebewohl gesagt.  Du musst nichts als ehrenamtliche Kraft. Das ist eines der großen Geschenke: Du kannst dich selbst erproben. Du kannst dich selbst neu kennenlernen. Du kannst deine Berufung finden.“

Auch das Bekenntnis zur christlichen Gemeinde als „Gemeinde von Schwestern und Brüdern“ formuliert nicht nur Pflichten zur Lebensführung für ihre Mitglieder, sondern zuerst und vor allem Grundrechte. Wolfgang Huber hat folgende Rechte aufgezählt: Das Recht auf Zugang zum Glauben, das Recht auf Gewissens- und Meinungsfreiheit, das Recht auf Integrität der Person, das Recht auf Gleichheit und das auf Teilhabe an kirchlichen Entscheidungen. Diesen Rechten entspricht eine offene und demokratische Struktur kirchlicher Ordnungen.  Die Diskussion um die institutionellen Hintergründe der Missbrauchsskandale zeigt, dass die Gestalt der Ordnung im Blick auf Gewissensfreiheit, Teilhabe und Integrität der Personen keinesfalls beliebig ist. Ein geschlossenes System, in dem hierarchische Abhängigkeiten Raum greifen, ist hoch gefährdet, diese Grundrechte zu missachten. Genau da schließt der Prozess des synodalen Weges in der katholischen Kirche an. Insofern zeigt sich in Barmen III und IV eine kritische Utopie, die die Institution jederzeit an unserem protestantischen Anspruch misst. Das biblische Wort über der IV These aus Matth. 20 verweist auf die erlebte Wirklichkeit und verneint sie zugleich:“ Die Herrscher der Welt halten ihre Völker nieder…So soll es unter Euch nicht sein“. Regierende wie Regierte tragen dafür Verantwortung, dass eine demokratische Ordnung trägt. „… Die Kirche erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten“ (These 5)

3. Demokratie und Kirche

Erst 40 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg formulierte die EKD ihre Denkschrift: „ Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“. Grundlage der Demokratie ist die Achtung der Menschenrechte. Daraus ergeben sich die Anerkennung von Freiheit und Gleichheit der Bürger. Freiheit respektiert „unterschiedlich Lebensauffassungen, Überzeugungen und Lebensstile“. Damit wird die Vielfalt bewusst wertgeschätzt. Als Prinzipien des Grundgesetzes benennt die Denkschrift zunächst Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, Gewaltenteilung, Repräsentationsprinzip und Mehrheitsprinzip, Parteien und Öffentlichkeit. Demokratie überträgt Herrschaftsauftrag auf Zeit, weil sie mit Irrtümern rechnet. Im dritten Teil der Denkschrift werden dann die Fragestellungen von heute diskutiert: Die Frage nach Plebisziten und Volksentscheiden, nach Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam, Mehrheitsentscheidungen und Minderheitenrechte, der Entgrenzung der Öffentlichkeit durch elektronische und soziale Medien, die Möglichkeiten der Liquid democracy. Aktuell diskutieren wir vieles davon im Kontext der ökologischen Krise. „ Die Kirchen werden  auch in Zukunft für die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes eintreten, weil diese in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht“, heißt es später in der ökumenischen Schrift „Demokratie und Tugenden“ von 2006.

Demokratie als Staatsform ist in der Bibel kein Thema. Kirche ist nicht „Demokratie“, sondern „Laokratie“- nicht Staatsvolk, sondern Volk Gottes, hält der langjährige Vorsitzende der EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung, Wilfried Härle fest. Gleichwohl gibt es Analogien: Das allgemeine Priestertum aller Getauften und die Gleichheit aller Christen (Gal 3, 28)  Gewissens- und Glaubensfreiheit, Gemeinschaft und Solidarität. Unantastbare Menschenwürde und Teilhabe aller, Prinzipielle Irrtumsfähigkeit („auch Päpste und Konzilien können irren“), Prozesshaftigkeit und Fehlerfreundlichkeit. Die EKD mit ihrer föderalistischen Struktur ist zudem durchaus staatsanalog aufgebaut. Synoden werden oft als Kirchenparlamente bezeichnet, Kirchenleitungen und Rat entsprechen Landes- und Bundesregierung, Leitende Geistliche den Ministerpräsidenten, die Kirchenkonferenz dem Bundesrat, der/die Ratsvorsitzender dem/der Bundeskanzler/in und auch die Verfassungs- und Verwaltungsgerichte entsprechen sich. Dieser institutionelle Aufbau unterliegt allerdings zurzeit den gleichen Erosionsprozessen, die auch Politik, Parteien und Gewerkschaften erleben. In einem Artikel im Pfarrblatt fragt Eberhard Pausch nach hilfreichen Innovationen: Könnten Veränderungen im Wahlsystem helfen, die Teilhabe zu verbessern? Zu denken ist an Verjüngung des aktiven und passiven Wahlrechts, kürzere Wahlperioden, Direktwahl zu den Synoden statt Stufenwahl. Wäre es hilfreich, den Rat der EKD unmittelbar von den Mitgliedern wählen lassen? Lässt sich eine gestufte Mitgliedschaft vorstellen, oder wäre es hilfreich, öfter digitale Mitbestimmungsmöglichkeiten zu nutzen? Und wäre es gut, bundesweit – wie in Württemberg – Kirchenparteien zu installieren?

In den Landeskirchen und Synoden der 30er Jahre gab es die DC als Kirchenpartei. Dagegen standen die, die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber der Politik bewahren wollten („Neutrale“) und schließlich die Bekennende Kirche.  Die Fronten verliefen quer durch die einzelnen Gemeinden und Gremien. Am 23. Juli 1933 erhielten die DC in Rheinland und Westfalen 75 Prozent bei den Kirchenwahlen – mehr als doppelt so viel wie „Evangelium und Kirche“. In vier rheinischen Gemeinen gab es keine Wahlen- darunter die Gemeinde Rheydt, von der ich erzählt habe. Dort gab es wie schon 1932 eine Einheitsliste und einen gemeinsamen Wahlvorschlag- und von da an nur einmütige Beschlüsse, um politischen Einflüssen keinen Raum zu geben.

Wagen wir an dieser Stelle einen aktuellen Seitenblick auf die katholische Kirche, den auch hier ging es um Einmütigkeit: Mit 230 Teilnehmenden (159 Männer, 70 Frauen, eine Person divers) startete der „Synodale Weg“ von DBK und ZDK in Frankfurt – zu den Themen Macht, Frauen, Sexualmoral und Lebensform finden vier Versammlungen statt. Bei der Konstitution ging es um Mehrheiten im  Verfahren: Mehrheiten im Plenum und anteilige Mehrheiten der Bischöfe und der vertretenen Frauen. Sollte es eine Sperrminorität der Bischöfe geben, wenn eine Entscheidung im Widerspruch zur Lehre stehen sollte? Oder sollte in den Foren in jedem Fall Einmütigkeit nötig sein? Hier ist sind die Teilnehmenden nicht mitgegangen. Andere zentrale Themen waren Gewaltenteilung und das kirchliche Straf-und Disziplinarrecht. Das hängt auch damit zusammen, dass die MGH-Studie zum Missbrauch an der Wiege der Bewegung stand. Daneben aber steht der Priestermangel, die Frage nach dem Charakter des Zölibats. Und auch die Frauen spielen eine große Rolle: Die jahrelangen Bemühungen um den Diakonat der Frau, die Bewegung Maria 2.0. Frauen haben auch eine eigene Sperrminorität für die Geschäftsordnung durchgesetzt. „ Dass hier quasi ein protestantisches Kirchenparlament… implementiert wird. Das hat nichts mit dem zu tun, was katholische Kirche ist“, sagte danach der Kölner Kardinal Wölki.

4. Wandlungen, Spannungen, Grenzen

4.1. Der Paradigmenwechsel

Die Kirche ist als der „Leib Christi“ eine Gemeinde von Schwestern und Brüdern. Was macht eine Kirche, die von diesem Selbstverständnis her nur eine sehr flache Hierarchie braucht, aber mit Gemeinden, Dekanaten und Kirchenkreisleitungen, Landeskirchenleitungen und der EKD als Gemeinschaft der Gliedkirchen nach Leitungsebenen durchgestaffelt ist?“, fragte kürzlich der Ratsvorsitzende, Bischof Heinrich Bedford-Strohm in einem FAZ-Artikel. Nach den Erfahrungen des 3. Reiches hat die evangelische Kirche nach 1948 versucht, Selbstkritik in Strukturen zu gießen- in neue Leitungs- und in Synodalstrukturen vor allem. In vielen Landeskirchen wurden Synoden nun wichtiger als die Amtshierarchien, in vielen Kirchenleitungen saßen Theologen und Laien, Hauptamtliche und Ehrenamtliche mit derselben Kompetenz. Aber in den Begriffen steckt bereits das Dilemma. Denn eigentlich gibt es in der evangelischen Kirche keine „ Laien“ – theologisch kennt sie kein Priesteramt, sondern nur das Priestertum aller. Das starke Gegenüber von Theologen und Nichttheologen, von beruflich und ehrenamtlich „ Mitarbeitenden“ ist gleichwohl oft ausgeprägt. Das „Priestertum aller“ ernst zu nehmen, hieße auch, die Stimme der Christinnen und Christen ernst zu nehmen, die die Kirche als Organisation auch von außen sehen können. Die sogenannte Amtskirche braucht Menschen aus unterschiedlichen lebensweltlichen Hintergründen, die andere berufliche Erfahrungen und Kompetenzen einbringen. In den Kammern und Kommissionen von EKD und Landeskirchen arbeiten Wissenschaftlerinnen und Unternehmer, Politiker und Politikerinnen aller Couleur mit.  Anders als in der katholischen Kirche handelt es sich dabei nicht um Bischofskommissionen.

 „Die Grundfrage an unsere evangelische Kirche lautet: Wird sich bei hauptamtlich Mitarbeitenden und ehrenamtlich Engagierten ein Paradigmen- und Mentalitätswechsel vollziehen, der die evangelische Kirche auf die neue Situation ausrichtet und ihre Chancen zu ergreifen sucht?“[i] fragt das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“[ii] Das wird bedeuten, in den Reformprozessen darauf zu achten, dass die zukünftige Gestalt der Kirche nicht nur von der Gestalt einer durch öffentliche Mittel finanzierten hauptamtlichen Organisation her weiter entwickelt wird, sondern dass innovative Ideen und Netzwerke aus den Gemeinden in die Zukunftsentwicklungen eingehen. Die Gaben und Erfahrungen der ehrenamtlich Engagierten müssen eben so viel Gewicht haben wie der Blick auf Strukturen, Immobilien und Ressourcen. Der historische Rückblick zeigt: Alle kirchlichen Aufbrüche, die durch Laienbewegungen geprägt waren, haben besondere Akzente in geistlichem Leben und sozialem Engagement gesetzt. Diakonie- und Jugendarbeit im neunzehnten Jahrhundert genauso wie Erwachsenenbildung, Friedensbewegung oder der konziliare Prozess im zwanzigsten. Es sind die ehrenamtlich Engagierten, es ist die „Kirche als Bewegung“, die der Kirche als Organisation und sogar Gesellschaft und Politik immer neue Impulse gibt. Und der konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung hat nicht unwesentlich zu Demokratisierungsprozessen in der früheren DDR beigetragen.

Wird Kirche sich selbst in Zukunft stärker als Teil der Zivilgesellschaft verstehen? Welche Brückenschläge zu anderen Vereinen, Verbänden, Initiativen sind zu leisten? Als Zeichen für Humanität und gegen Fremdenhass gründeten im Januar 2016 zehn der größten zivilgesellschaftlichen Akteure eine „Allianz für Weltoffenheit“. Sie fordern Aufklärung statt Verunsicherung, Investitionen in Integration statt Beförderung von Ressentiments.Initiiert vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) haben sich Organisationen aus allen relevanten Gesellschaftsbereichen dem Aufruf angeschlossen. Teil der Allianz sind neben dem DGB evangelische und katholische Kirche, Zentralrat der Juden, Koordinationsrat der Muslime, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Deutscher Kulturrat, Deutscher Naturschutzring und Deutscher Olympischer Sportbund.Die „Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat“ fordert, angesichts der Flucht von Millionen Menschen weiter humanitäre Verpflichtungen zu erfüllen, gleichzeitig aber auch die Integration und erstarkende rechte Strömungen im Blick zu behalten. Die christlichen Kirchen, gerade die evangelischen, Erfahrungen mit dem Fremdsein. Ich erinnere nur an die reformierten Flüchtlingsgemeinden des 16. und 17. Jahrhunderts von Emden bis Duisburg und Berlin, die von Anfang an diakonische Aufgaben übernahmen und sich schon sehr früh für synodale Strukturen einsetzten.

Heute hat die Entwicklung der sozialen Netzwerke und der lebendigen Zivilgesellschaft dazu geführt, dass das  Verhältnis von Kirchenmitgliedern, Interessierten und Amtsträgern sich deutlich verändert. In Zeiten des Internet ist ein Prozess wie der „ Dienstweg“ den allermeisten fremd geworden– Interessierte wie Kritiker, Mitglieder wie Ausgetretene wenden sich ganz unmittelbar an die Bischöfin oder den Ratsvorsitzenden und sind enttäuscht, wenn sie von dort keine Antwort bekommen. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit werden  Mitgliederberfragungen und –abstimmungen zu Themen gefordert, die bislang in der evangelischen Kirche von Synoden entschieden werden. Der Aufbau der Gremienstrukturen ist ohnehin weitgehend unbekannt- bekannt sind allenfalls die Amtsträger. Die Digitalisierung hebt die räumliche Zuordnung wie die Hierarchien auf und stellt damit den territorialen Aufbau der Kirche in Frage.  Sie schafft zudem eine neue Unmittelbarkeit der Beteiligung über die Hierarchien hinweg – Beteiligung auch auf Zeit mit einem ganz bestimmten Anliegen. Wir sehen das in den  Veränderungen des Ehrenamts wie bei Kampagnen.

„Ganz normale Leute“ treten zum Thema Kirche in die Öffentlichkeit und werden gehört. Die Erzieherin, die den katholischen Kindergarten nicht länger leiten durfte, weil sie geschieden wurde. Die Oma, die auf Facebook für ihren schwulen Enkel eintritt, als der Pfarrer ihrer Gemeinde sich abwägend-kritisch zu Homosexualität äußert. Die ehemaligen Domspatzensänger, die Schüler eines Jesuitengymnasiums, die in diesen Institutionen Missbrauch erfahren haben: auch wenn wir ihre Namen nicht mehr wissen, bleiben sie im Bewusstsein, wenn es um Kirche geht. Für mich folgt daraus zweierlei:  In einer Zeit wachsender Transparenz kann und darf Kirche ihre Wunden und Verletzungen, aber auch ihre Schuld nicht verstecken. Angesichts der neuen Möglichkeiten digitaler Beteiligung muss Kirche die Berufungen und Kompetenzen aller Mitglieder ernst nehmen.

Wie andere Organisationen – vielleicht sogar mehr noch – ist Kirche darum bemüht, eigene Fehler und Widersprüche nicht zum Thema zu machen. Missbrauchserfahrungen, Finanzskandale, Unbarmherzigkeit gegenüber menschlichen Schwächen, Manipulationen bedeuten für alle Organisationen und Unternehmen Imageschaden und Glaubwürdigkeitsverlust. Bei Gewerkschaften, Wohlfahrtsorganisationen und Kirchen ist das allerdings besonders bitter; schließlich sind es gerade Werte wie Barmherzigkeit , Wahrhaftigkeit, Verantwortung und Solidarität, auf denen ihre Wirkung beruht. Schonungslose Ehrlichkeit ist deshalb der einzige Weg. Darum übrigens ist es so wichtig, dass es neben der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit auch eine freie Presse und dialogische Plattformen gibt.

Eine selbstkritische Kirche nimmt die eigene Verantwortung wahr und versteckt ihre internen Konflikte nicht. Sie zeigt ihre Verletzungen und gewinnt gerade so an Glaubwürdigkeit. „Wie ehrlich ist unsere Rede zu dem, was wir tun? “, fragt die Neinstädter Diakonie in ihrem Leitbild. Am Ende formulieren die Mitarbeitenden drei Hauptsachen: „Hauptsache menschlich. Hauptsache verlässlich. Und Hauptsache verantwortungsbewusst.“ Darin wird klar: in Neinstedt hat man die eigene Geschichte im Nationalsozialismus bearbeitet: Deportationen und Krankenmorde. Im Rückblick lässt sich deutlich erkennen, welche Rolle die ursprünglich durchaus fürsorgliche, sozialpaternalistische Exklusion von Menschen mit Behinderungen bei der T-4-Aktion gespielt hat. Sie waren Fürsorgeobjekte, aber nicht auf Augenhöhe.

4.2. Mehr Partizipation wagen

Vor zwanzig Jahren habe ich den Osten Londons besucht  – eine heruntergekommene Hafengegend mit internationaler Bürgerschaft, in der der Bischof von London eine Kirche aufgegeben hatte. Dort habe ich erlebt, wie eine Bürgerinitiative um den Erhalt und die Umgestaltung der Kirche zu einem Gemeinschaftszentrum kämpfte. Es waren Menschen, die dort getauft oder getraut worden waren, die an diesem Ort eine Erfahrung von Verbundenheit und Zugehörigkeit, ja, von Würde gemacht hatten. Sie wurden dennoch nicht gehört. Hier zeigt sich: Zugehörigkeit in den Kirchen der Reformation wurde zunächst territorial formuliert: cuius regio, eius religio. Dazu zu gehören, bedeutete versorgt zu werden – nicht unbedingt, sich zu beteiligen. Dieses Verständnis hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Innerkirchlich reden wir von Hochverbundenen und Distanzierten. Im Blick auf das Gemeinwesen aber lässt sich entdecken: auch Menschen, die nicht oder nicht mehr Mitglied sind, kümmern sich um ihre Kirchen: In Brandenburg kennen wir Kirchenpaten, in Wuppertal oder Recklinghausen werden Gemeindehäuser zu Gemeinschaftshäusern.

Das allgemeine Priestertum der Getauften ist ja nicht nur für den Sonntag gedacht, sondern vor allem für den Alltag. Der Hamburger Johann Hinrich Wichern sprach deshalb auch vom allgemeinen Diakonentum. Nicht nur die Kirchen und die Städte sollten sich für den sozialen Zusammenhalt verantwortlich fühlen, sondern jeder Einzelne, ganz unabhängig von seinem Stand.  Wir brauchen das grundlegende Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, um uns in ihrem Schutz öffnen zu können. In der Enzyklika „Laudato si“, die sich mit der Entwurzelung in den Städten beschäftigt, fordert Franziskus, die urbanen Bezugspunkte und die öffentlichen Orte zu pflegen und eine öffentliche Infrastruktur bereit zu stellen, damit Menschen sich frei in der Stadt bewegen und Anlaufstellen für ihre wichtigsten Bedarfe finden können.

Studien, die in den Blick nehmen, aus welchen Schichten und Milieus die Engagierten kommen, zeigen deutlich: sie sind gut ausgebildet, mit gut situierter Familie und Freundeskreis, oft an vielen Stellen zugleich engagiert. Es gilt das Matthäusprinzip. Wer hat, kann weitergeben. Wer aber wenig an Ressourcen mitbekommen hat, der findet oft den Einstieg nicht. Was können Kirchengemeinden tun, um auch diejenigen zum Engagement einzuladen, die sich bisher als Hilfeempfänger verstanden haben? Menschen mit Behinderung zum Beispiel, oder auch Arbeitslose? Wie können wir ernst machen mit der Idee einer Gemeinde von Schwestern und Brüdern?

Kirche wird oft als „Club“ erlebt – als „inner circle mit konzentrischen Kreisen. Wie kann es gelingen, die Homogenität und Milieuschließung der „Kerngemeinde“ für Vielfalt zu öffnen und damit den Anpassungsdruck und die Exklusionstendenzen zu mindern? Wie kommen wir zu einem neuen Miteinander von „ Christengemeinde und Bürgergemeinde“ (K.Barth).  Ich sehe mit großem Respekt, wie viele Initiativen, Vereine, soziale Unternehmen in Deutschland daran arbeiten, Generationen zu verbinden, Chancen zu geben, eine Willkommenskultur zu gestalten. Bürgerbusse und Notruftelefone, Dorfläden, Demenznetzwerke und Wohngenossenschaften. Und immer wieder einmal denke ich – das wäre eigentlich auch unsere Sache– und ist es auch in Diakonischen Unternehmen, Initiativen und Gemeinden. Zu wenig davon wird aber sichtbar, auch deswegen, weil Gemeinden und Synoden sich oft nicht damit identifizieren.  No taxation without representation“ hieß es zu Beginn der Staatwerdung der Vereinigten Staaten von Amerika.

Ich denke manchmal an Johann Hinrich Wicherns Konzept einer nationalen Synode. Wo über Kirche und Gesellschaft entschieden wurde, da sollten die diakonischen Vereine und Unternehmen genauso repräsentiert sein wie die „Hausväter“ aus der Bürgergesellschaft. Dann stelle ich mir eine EKD-Synode vor, in der die die großen diakonischen Unternehmen und die neuen Initiativen säßen, Menschen mit Behinderung genauso wie getaufte Geflüchtete. Welche Kirche entstünde aus den Beratungen? Aus Wicherns Konzept ist nur wenig geworden, wenn man auf die wechselseitige Repräsentation von Kirche und Diakonie in ihren Gremien schaut  – und ich fürchte, das lässt sich auch nur noch schwer verändern. Was sich aber verändern ließe, wäre die Vernetzung. Diakonische Mitgliederversammlungen und Synoden, die sich oft mit ähnlichen Fragen beschäftigen, könnten sich abstimmen und hintereinander tagen.

An den Vetomächten des kirchlichen Apparats sind in den letzten Jahren viele sinnvolle Veränderungen abgeprallt. Zudem fehlen in den notwendigen Debatten um die Zukunft der Kirche n alle, die in den letzten zwanzig Jahren aus den unterschiedlichsten Motiven ausgetreten sind oder schon gar nicht mehr darin aufgewachsen sind, schreibt Arnd Henze in seinem Buch „ Kann Kirche Demokratie“. Tatsächlich sind nicht alle, die sich bei den Tafeln, in Hospizen, in der Gospelbewegung oder als Kirchenkuratoren engagieren, Kirchenmitglieder. Häufig hatten sie sich schon lange der Kirche entfremdet oder waren ohnehin nie Mitglieder. Wie viel Teilhabe darf ihnen gewährt werden, wie viel Verantwortung dürfen sie in kirchlichen Strukturen übernehmen? Welchen Einfluss haben die neu gegründeten Stiftungen– welchen haben die Verbände und Unternehmen auf die Entscheidungen der Kirchenvorstände und Synoden? Vielleicht kann gerade das Engagement in der Gemeinde den Weg zur Mitgliedschaft, ja sogar zur Taufe ebnen. Wenn man die Einsicht ernst nimmt, dass Glaube immer nur prozessual geschieht und dass Areligiosität auch unter Kirchenmitgliedern vorhanden ist, dann wird es absurd, ausschließlich binär zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft zu unterscheiden, so Hans-Martin Barth[1] . In einigen Landeskirchen hat die Debatte über eine gestaffelte Mitgliedschaft oder eine Mitgliedschaft auf Probe begonnen.

Wie kann es angesichts der wachsenden Individualisierung und Differenzierung- auch in den kirchlichen Strukturen- gelingen, das Ganze zusammen zu halten? Wie in allen Organisationen sind auch hier top-down und bottom up –Prozesse notwendig.  Denn die Demokratisierung der Kirche ist keine Einbahnstraße. „Richtete sich der hierarchiekritische Impuls im Protestantismus früher darauf, die zögerlichen Kirchenleitungen und Gremien zu klaren Positionen zu drängen, äußert er sich heute nur noch in der Erwartung, von den Oberen in Ruhe gelassen zu werden…“, schreibt Arnd Henze. Diese abwehrende Gleichgültigkeit stellt die demokratische Verfasstheit der evangelischen Kirche insgesamt in Frage.“

4.3. An der Grenze

Der ehemalige evangelische Landesbischof von Sachsen, Carsten Rentzing, hat im Oktober 2019 seinen Rücktritt erklärt. Es war bekannt geworden, dass er einer schlagenden Studentenverbindung angehört und einen Vortrag in der Berliner Bibliothek des Konservatismus gehalten hatte, die als geistiges Zentrum rechtsnationaler Strömungen gilt. Zudem hatte er von sich reden gemacht, als er homosexuelle Partnerschaften als nicht von Gott gewollt bezeichnet hat. Von seinen studentischen Texten im Magazin „Fragmente“, die die Landeskirche als elitär-nationalistisch und demokratiefeindlich einstufte, distanzierte er sich. In den folgenden Wochen wurde deutlich, dass die sächsische Kirche, zu der immer noch 18 Prozent der Bevölkerung gehören, tief verunsichert ist. Debattiert wird, wie weit die rechtsnationalen Entwicklungen tief in der Kirche verwurzelt sind, wo Grenzen zu definieren sind und was das für die Kirchenmitgliedschaft, vor allem aber für die ehrenamtlichen Leitungsämter in der Kirche bedeutet. Noch gibt es viele AfD-Funktionsträger, die in der evangelischen Kirche in Sachsen als Kirchenvorstände engagiert sind.

Vielleicht ist die Interkulturelle Öffnung die größte Herausforderung für die Kirchen: Ökumenische Gemeinden könnten alte Vorstellungen von „ererbter Zugehörigkeit“ geschlossener Milieus überwinden, wie sie sich noch in den alten konfessionellen Herrschaftsgebiete mit ihren geschlossenen Kulturen zeigen. Kein Wunder, dass die gesellschaftlichen Brüche sich auch  in den Kirchen zeigen:  bei Themen wie Migration, Ehe für alle etc. Für die einen sind die Kirchen ein völkisches Identitäts- Bollwerk gegen gesellschaftliche Veränderungen, für die anderen Beziehungsnetz zur Gestaltung des ökumenischen Miteinanders in einer globalen, pluralen Gesellschaft

Damit kehren die Fragen der Abgrenzung, die zu Zeiten der Bekennenden Kirche verhandelt wurden, in unsere Kirche zurück.  Gegen völkische Ideologien und Nationalismus wendet sich die EKBO: „ Lassen Sie sich niemals einreden, der christliche Glaube sei etwas Individuelles und Privates und Sie hätten sich als Verkündigerinnen und Verkündiger politischer Themen zu enthalten. Versprechen tun Sie heute etwas anderes: Zeugen des Evangeliums zu sein, öffentlich und engagiert“, so Bischof Markus Dröge bei einer Ordination am Tag der Bundestagswahl 2017. Genau das gehört auch heute – und gerade heute wieder – zur Verantwortung der Regierten wie der Regierenden und damit zum zivilgesellschaftlichen Selbstverständnis der Kirche.


[1] Hans-Martin Barth, Konfessionslos glücklich, S. 119

[i] Kirchenamt 2006, 7.

[ii] Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.): Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006.