Umbrüche, Aufbrüche- Christsein und Kirche in der Transformation

Wuppertal 10.12.19

1. Risse und Spaltungen

„Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ – so beschrieb der Prophet Jesaja einen zunächst kaum wahrnehmbaren Veränderungsprozess von grundstürzenden Ausmaßen in Israel, der schließlich zum Kollaps des Reiches führte. 2009, kurz nach der Finanzkrise, griff der Rat der EKD dieses Zitat auf. „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ wurde der Titel einer Stellungnahme zur globalen Wirtschafts- und Finanzmarktentwicklung. Der Riss, von dem der Prophet spricht (Jes 30), ist zunächst kaum sichtbar, aber er frisst sich ins Gemäuer, bis der Mörtel rieselt, der die Steine hält, und am Ende die ganze Mauer einstürzt. Inzwischen haben viele das Gefühl, dass etwas ähnliches passiert- die Schutzmauern brechen. Der Referenzrahmen unserer Gesellschaft hat Brüche. Der Zusammenhalt zerbröselt. Die  Transformation, die wir erleben, begann spätestens mit  dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 und endete nicht mit der Flüchtlingskrise von 2015.

Mit dem Begriff Transformation bezeichnet Karl Polanyi 1944 den  Wandel der westlichen Gesellschaftsordnung am Beispiel Englands in der Zeit der Industrialisierung. Damals kam es zu tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen- zur Herausbildung von Marktwirtschaften und Nationalstaaten. Aber auch in Deutschland brachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten, zusammen. Die Schattenseite der neuen Produktivität, des Anwachsens der Städte und des steigenden Wohlstandes waren Arbeitslosigkeit und Armut, Wohnungsnot und in der Folge oft Kriminalität, allein gelassene und verwahrloste Kinder und Kranke. Die Gründerinnen und Gründer der neuzeitlichen Diakonie wie Theodor und Friederike Fliedner oder Johann Hinrich Wichern suchten Antworten auf diese neuen Herausforderungen. Sie gingen in die Armutsquartiere, nahmen Menschen, die aus dem Gefängnis kamen, bei sich auf, und sie reisten durch Europa, im die Auswirkungen der Krise dort zu studieren, wo die Probleme sich besonders deutlich zeigten. Zu den Hauptproblemen gehörten die Überforderung von Familien, Nachbarschaften und Kommunen – die Institutionen, die Halt gaben, trugen nicht mehr.

Hier in Elberfeld sorgte von der Heydt für eine Dezentralisierung der Armenverwaltung. Die meist bürgerlichen, ehrenamtlichen Armenpfleger  und Amenpflegerinnen arbeiteten seit 1850 quartiersnah nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“. Es hat lange gedauert, bis am Ende des Jahrhunderts nationale Sicherungssysteme entstanden, die unseren Sozialstaat heute noch konturieren. Vom kommunistischen Manifest 1848 bis zu Bismarck gab es heftige gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen. Aber es gab auch christliche Bürgerinnen und Bürger, die aus ihrem Glauben heraus neue Initiativen entwickelten. Von Sieveking bis Raiffeisen gründeten sie Vereine, schufen Genossenschaften, Gemeinschaften und Wahlfamilien, Kindergärten und Pflegeeinrichtungen, dazu Quartierskonzepte für die Städte. Diese Offenheit für neue Ideen, das bürgerschaftliche Engagement von Stadträten, Unternehmern, adeligen und bürgerlichen Frauen und die Überzeugung, von Gott gebraucht zu werden, haben mich immer begeistert. Das alles hat dazu geführt, dass sich in Innerer Mission und Caritas neue Netzwerke bildeten, auf denen auch die Politik weiter aufbauen konnte. Das macht mir Mut, wenn ich auf die Veränderungsprozesse schaue, die wir gerade erleben.

2. Das Floss der Medusa

Bei der Europawahl im letzten Sommer haben nur noch die Über 60-Jährigen so gewählt, wie es Jahre lang erwartbar war, die Jüngeren aber haben das Ende der Volksparteien deutlich sichtbar gemacht. Sind die Alten also nicht mehr am Puls der Zeit? Haben sie nicht verstanden, worum es wirklich geht? Denen ginge es doch nur um die Rente, sagen viele – dabei würde diese Klientel von der großen Koalition mit einem Rentenpaket nach dem anderen bedient. Und Nico Semsroth von „Die Partei“ hatte da eine Idee: Da die Bürgerinnen und Bürger in den ersten 18 Jahren nicht wählen dürfen – sollte man auch die letzten 18 Jahre abziehen – vom Durchschnittalter. Ist das nun der seit vielen Jahren vorhergesagte Generationenkonflikt?

In dem Buch „ Das Floß der Medusa“ zeigt Wolfgang Schmidtbauer, wie gefährlich es sein kann, wenn wir in einer Situation notwendiger Veränderungsprozesse den Kopf in den Sand stecken. Die gegenwärtige Häufung von Krisen – Klima, Energie, Geldwirtschaft, Terror und Flüchtlingselend- sei ohne  Vorbild in der Geschichte, schreibt Schmidtbauer , und er ist sich sicher, die Menschen müssten Gruppen bilden, gemeinsam lernen, neue Allmenden organisieren und verschüttete Begabungen freilegen. Das Buch dreht sich um den Untergang der französischen Fregatte „Medusa“, die 100 Jahre vor der Titanic sank. Von den 400 Passagieren konnten nur wenige gerettet werden. Ihre Geschichte ist in Erinnerung durch ein Gemälde von Theodore Gericaults von 1819. Grund für die Katastrophe war eine Führung, die Angst hatte vor dem Verlust der Schiffsladung, und ein unsachgemäßes Festhalten an Status und Macht.

Das oben zitierte Wort des Rates von 2009 stellt die Finanz- und Wirtschaftskrise in den größeren Zusammenhang der weltweiten Gerechtigkeit und der Klimaveränderung. Das geht bis hin zum Titel, der auf eine frühere Stellungnahme des Ratsvorsitzen-den zum Klimawandel verweist. Bei seinen Perspektivüberlegungen ist der Text vom Modell einer nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft geleitet. Damit wir nicht sehenden Auges in die Katastrophe laufen, brauchen wir

• „eine Wirtschaft, die den Menschen heute dient, ohne die Lebensgrund-lagen zukünftiger Generationen zu zerstören, die also die Gerechtigkeit für die Armen hier und weltweit, aber auch für die Zukunft der Schöpfung im Blick hat, sowie

•  eine (Welt-)Gesellschaft, die die Verbesserung der Situation ihrer ärmsten und schwächsten Mitglieder zu ihrer vorrangigen Aufgabe macht, und

•  schließlich ein Finanzsystem, das sich in den Dienst dieser Aufgabe stellt

„Dazu gehören tragfähige globale Rahmenbedingungen und Kontrollinstanzen für ein soziales und nachhaltiges Wirtschaften. In der Bewältigung dieser  Herausforderungen wird sich entscheiden, ob es gelingt, das grundlegende Vertrauen in eine soziale und ökologische, global ausgerichtete Marktwirtschaft neu aufzubauen, “ so der Text.

Deutschlands Gewinne auf den Weltmärkten werden zu einem guten Teil in Schwellenländer eingefahren, deren natürliche Ressourcen bedingungslos ausgebeutet. Und selbst die jetzt viel gepriesene Elektromobilität kommt nicht ohne seltene Erden aus. Die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ sprach in diesem Zusammenhang von „ökologischer Raubökonomie“. Nachhaltige Entwicklung in den ökologischen Grenzen ist aber nur möglich mit einem fairen Ausgleich zwischen Nord und Süd; und beides gelingt nur, wenn dabei die Ungleichheiten in unserer Gesellschaft nicht wachsen, wenn die demokratische Beteiligung an den Veränderungsprozessen gelingt.

Die Herausforderungen sind zuerst politischer, nicht technischer Natur. Seit 1969 haben wir unsere Arbeitsproduktivität vervierfacht, die Energieproduktivität aber nur verdoppelt. Technische Innovationen haben dazu geführt, dass wir zwar in Relation weniger Ressourcen verbrauchen, absolut aber mehr vom selben konsumieren. Weniger Treibstoff, aber längere Strecken-  kleinere Autos, aber mehr in jeder Familie  – das ist der so genannte Rebound-Effekt. Angesichts des Wachsens der Weltbevölkerung werden die Effizienzgewinne zudem schnell absorbiert- objektiv nehmen Bodenversiegelung, Wasservergeudung, Schwund der Artenvielfalt zu. Die Produktivität und die Profitrate vor allem im Finanzsektor sind gestiegen, die Reallöhne allerdings sind eher gesunken.

Die Angst vor gesellschaftlichem Abstieg und vor Wohlstandsverlusten wächst. Der Inselbewohner im Pazifik, dessen Heimat untergeht, und der Kohlekumpel in Minnesota, der den Untergang seiner Industriewelt erlebt, teilen das gleiche globale Schicksal. Eine Politik allerdings, die den Kohlekumpel schützt, wird den Jungen auf den Philippinen doppelt gefährden.  Ob und wie Nächstenliebe global gestaltet werden kann, bleibt eine offene Frage. Wir bewegen uns zwar im World-Wide-Web und haben Freunde in aller Welt, aber die Menschheit als Ganzes zu sehen, fällt uns immer noch schwer. Vielleicht weiß der Flüchtling aus Somalia, der der alten Sklavenroute bis über das Mittelmeer gefolgt ist mehr davon als die Entscheider, die die verschiedenen Landschaften und Kulturen meist nur aus dem Flugzeug sehen.

3. Die Zeichen der Zeit

Nach der Finanzkrise 2007 und der „Flüchtlingskrise“ 2015 erscheint der Sommer 2019 in den aktuellen Debatten als weiterer Wendepunkt- nach fast 50 Jahren sind die Ergebnisse des Club of Rome ins öffentliche Bewusstsein gerückt.  Solche Wendepunkte haben immer eine Vorgeschichte; das große Engagement für die Welcome-Kultur wäre nicht möglich gewesen ohne die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in der alten Bundesrepublik- zugleich war es nicht zuletzt die Spaltung zwischen Ost und West die zur radikalen Veränderung der politischen Landschaft geführt hat.  An solchen Wendepunkten bekommen die Umbrüche ein Gesicht – der tote Flüchtlingsjunge am griechischen Strand, Greta Tunberg mit ihrem Schulstreik. Der Wandel wird persönlich- mit Folgen für Politik und Lebensstil.

Wie lernen wir, die Herausforderungen rechtzeitig zu erkennen? Als der Nationalsozialismus die Gesellschaft in Deutschland mehr und mehr prägte, wurde Dietrich Bonhoeffer auf einer USA-Reise bedrängt, wie andere Emigranten im Exil zu bleiben. Er entschied sich, nach Deutschland zurückzukehren und schrieb: „Dienet der Zeit“. „…Es heißt nur die tiefe reine Gestalt dieser Zeiten zu verstehen und in unserer Lebensführung darzustellen, so werden wir mitten in unserer Zeit auf die heilige Gegenwart Gottes stoßen“. Manchmal hilft esaber auch, aus der Distanz auf die großen Linien zu schauen – auf einer Reise zum Beispiel wie Bonhoeffer, Fliedner oder Wichern. „ Man muss die Tiefe der Wirklichkeit mit den klaren Augen des Glaubens sehen, um sie mit den rettenden Armen der Liebe gestalten zu können“, schrieb Wichern.

Wissenschaftler unterscheiden seit Jahren mehrere große, einander bedingende Krisen:  Die ökologische Krise, die sich in einem beschleunigenden Klimawandel, wachsenden Konflikten um Rohstoffe und einem fortschreitenden Rückgang der Biodiversität zuspitzt.  Dann die Ernährungskrise, die durch die weltweite Spekulation mit Land und Nahrung noch verstärkt wird. Die Finanzkrise, die bei fehlender politische Regulierung und Kontrolle der Finanzmärkte zu einer Destabilisierung von Demokratie, Wirtschaft und Beschäftigung führt. Und die Staatsschuldenkrise, die vor allem in Südeuropa dazu führt, dass Staaten handlungsunfähig und Gesellschaften in Geiselhaft der Finanzmärkte genommen werden. Schließlich Globalisierung und Digitalisierung und die Krise der Arbeit, die sich weltweit in der Ausweitung prekärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und informeller Tätigkeit zeigt und zu einer Zuspitzung der Ungleichheiten zwischen Arm und Reich führt, und die schwelende Sozialstaatskrise, die Menschen Angst macht, dass Rente und Arbeitslosengeld nicht mehr sicher sind. Seit 2015 kommt  die so genannte „ Flüchtlingskrise“ hinzu. Die Kriege, ökologischen und wirtschaftlichen Katastrophen, vor denen die Menschen fliehen, sind ihrerseits mitbegründet durch die weltweiten Konflikte um Nahrung, Wasser und Energie. Dabei stellen die Migrationsbewegungen selbst eine wachsende Herausforderung dar: Für die Geflüchteten, aber auch für Europa, das um die Zukunft seiner national ausgerichteten Sozial- und Wohlfahrtsstaaten ringt. Für die Industriestaaten ist nämlich noch ein wesentlicher Faktor zu berücksichtigen, der demografische Wandel mit seinen Herausforderungen für die sozialen Sicherungs- und die Pflegesysteme.

Eine Hydra mit acht Köpfen – jeder Versuch, das eine oder andere Problem in gewohnter Weise zu lösen, scheint in Widersprüche zu führen. Die Debatte um den Kohleabbau und den Erhalt von Arbeitsplätzen hat das in jüngster Zeit jedem vor Augen geführt. Die Ohnmacht, die viele angesichts solcher Dilemmata empfinden, entlädt sich in Wut oder Resignation. So mancher hat jetzt das Gefühl, das  Lebensstil von den Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika in Frage gestellt wird. Wenn der Hass sich nicht ausbreiten soll, brauchen wir tragfähige Formen des Miteinanders, neue  Konzepte der Integration und des gemeinsamen Lernens, die über Wohnungsbau und Integrationsklassen hinausreichen.

Aber längst können wir auf den Stadtplänen verfolgen, wie die soziale Segmentierung sich ausweitet. Die wachsende Spreizung der Einkommen, die wachsenden sozialen Unterschiede , zwischen Einheimischen und Migranten, zwischen Erwerbstätigen und Hilfebeziehern, zwischen Bildungsgewinnern und Bildungsverlierern und auch von jungen, arbeitsfähigen und alten Menschen führen zu einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft. Wohin es führen kann, wenn Stadtteile zu Ghettos werden, lässt sich an den Vorstädten von Paris beobachten. Viele Soziologen gehen davon aus, dass die Radikalisierung, die hinter den Anschlägen in Paris 2015 und von Brüssel 2016 steckte, dort ihren Anfang nahm. Stadtplanung ist gefragt, aber die Kommunen, auch Wuppertal, leiden unter dem finanziellen Druck, der vor allem durch die hohen Kosten für Transferleistungen entsteht. Viele Kommunen haben schon vor Jahren die Notbremse gezogen: haben Verkehrs- und Energiebetriebe und auch den Wohnungsbestand verkauft. Heute zeigt sich:  Damit schwindet die Infrastruktur, die für ein gutes Zusammenleben nötig ist.

4. Der Kampf um Zugehörigkeit

„Sagt es laut, sagt es klar, wir sind alle unteilbar“: Fast eine Viertelmillion demonstrierten im vergangenen Oktober am Alexanderplatz für eine offene und freie Gesellschaft. Das Motto: Solidarität statt Ausgrenzung. „Unteilbar“ – gegen die sichtbare Spaltung unserer Gesellschaft. Gegen rechte Hetze, das Flüchtlingssterben im Mittelmeer und Kürzungen im Sozialsystem. Auf drei Szenarien will ich kurz den Spot richten.

Ein erstes Blitzlicht: Die Tafelbewegung. „Solange Deutsche zur Tafel gehen müssen, haben Flüchtlinge da nichts zu suchen“. Die Entscheidung der Essener Tafel, Geflüchtete vorübergehend auszuschließen, machte die Konkurrenz ganz unten zum öffentlichen Thema: Rentnerinnen, Hartz-4-Empfänger, Familien in Armut und Geflüchtete. Alles Menschen, die sich jeden Morgen fragen, wie sie den Tag überstehen. Die die Scham überwinden müssen, sich anzustellen, ihren Ausweis zu zeigen, ein Second-Hand-Leben zu leben. Der Streit um die Essener Tafel hat gezeigt: Es gibt nicht nur den Riss zwischen oben und unten, sondern auch den zwischen Drinnen und Draußen.

Sind die Tafeln die „Suppenküchen“ unserer Zeit? Kann gut sein. Diakonische Vereine ergriffen im 19. Jahrhundert die Initiative, als die große Transformation Familien wie Kommunen überforderte – sie schufen Armenküchen, Kindergärten, Pflegeheime, Rettungshäuser. Es dauerte bis zum Ende des Jahrhunderts, bis nationale soziale Sicherungssysteme geschaffen wurden. Wer erfahren musste, dass sein Leben durch Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit in die Brüche ging, der sollte sich auf die Solidargemeinschaft verlassen können. Dabei ging es nicht nur um Geld – es ging um das Gefühl, auch dann noch dazu zu gehören, wenn man auf Hilfe angewiesen war. Dieses Grundgefühl scheint zu zerbrechen. 250.000 neue Millionäre gab es letztes Jahr in Deutschland, ohne, dass sich die Zahl der ALG II-Empfänger verringert hätte. Was muss geschehen, damit sich die Abgehängten wieder zugehörig fühlen? Hartnäckig hält sich ein Zauberwort: „Bedingungsloses Grundeinkommen“ – die Lösung der Sozialsysteme vom unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erwerbseinkommen.

Ein zweites Blitzlicht: „Ausspekuliert“. Unter diesem Motto demonstrierten mehr als 10.000 Menschen in München, Frankfurt und Berlin gegen den Wohnwahnsinn. Lange Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen, Wucherpreise und Entmietung. Studierende, die in der Uni campen. Rentnerinnen, die sich ihre Wohnung nicht mehr leisten können, wenn der Partner ins Heim muss oder stirbt. Rund 37.000 Wohnungslose leben allein in Berlin, fast ein Viertel davon mit Kindern. Viermal so viele wie noch 2014. Gleichzeitig stehen Luxuswohnungen leer, weil sie als Wertanlage und Spekulationsobjekt genutzt werden. Allein die Firma Vonovia hat im letzten Jahr 1,1 Milliarden Euro Gewinn gemacht. 54 Prozent der Deutschen sind Mieter – und viele haben das Gefühl, dass etwas ins Rutschen gekommen ist.

Das Motto „ausspekuliert“ ist eine Mahnung: Der Grund und Boden, auf dem wir leben, ist mehr ist als eine Geldanlage. „Alles Eigentum und aller Reichtum müssen in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit und zum Fortschritt der Menschheit verantwortungsvoll verwendet werden“, heißt es in der allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten, die Helmut Schmidt 1997 zusammen mit Shimon Perez, Franz Vranitzky und anderen veröffentlicht hat. Ein Zauberwort in diesem Zusammenhang: „Gemischte Quartiere“. Auch hier geht es um das Gefühl, dazu zu gehören – Teil der Stadtgesellschaft zu sein.

Aber nicht nur die Wohnsituation verändert sich; seit dem Dieselskandal diskutieren wir auch die Verkehrswende. Und mit der Digitalisierung das Ladensterben. Während in ehemaligen Parkhäusern neue Wohnungen entstehen, regt Ina Prätorius an, die leeren Verkaufsflächen zu kommerzfreien Treffpunkten zu machen: Tauschläden, Quartiersläden, Begegnungszentren. Gerade Menschen, die kaum privaten Lebensraum haben, brauchen öffentliche Orte in der Stadt, frei zugängliche Flussufer, offene Kirchen und Bänke auf dem Marktplatz.

Der dritte Spot hat keine Demo: Hier spielt das meiste hinter verschlossenen Türen. Bei denen, die gepflegt werden und bei denen, die pflegen. 1,5 Mio. Menschen werden nach wie vor von Angehörigen gepflegt – neun Jahre im Schnitt; bei steigendem Armutsrisiko. Oft mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes; hier arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege, die am schlechtesten bezahlt werden. Dabei werden die familiären Netze brüchiger, 43 Prozent der Älteren leben in Einpersonenhaushalten. Osteuropäische Haushaltshilfen sind der Geheimtipp, wenn die Angehörigen zu weit weg wohnen: 600.000 sind es zurzeit. Wo die sozialstaatlichen Konzepte versagen, wird die Sorgearbeit wieder privatisiert und familiarisiert. Die Kämpfe unserer Tage sind Sorgekämpfe, die das Ende der neoliberalen Hoffnungen markieren: Es geht um Ernährung, Wohnen, Pflege, Mobilität.

Das Zauberwort heißt hier „Caring Communitys“. Sorgende Gemeinschaften, Netzwerke gegen die Einsamkeit – mit Familien, Nachbarn, Dienstleistern, zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen. Immerhin 25 Prozent engagieren sich schon heute in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten, Kinderbetreuung. Die wechselseitigen Unterstützungsleistungen, sagen die Interviewten, verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Wo aber überforderte Kommunen keine finanziellen Spielräume mehr haben, Erwerbstätige unter dauernder Verfügbarkeit leiden, Familien zwischen den verschiedenen Zeitregimes zerrieben werden, stößt das Ideal an Grenzen. Die Ökonomisierung ist längst in die Familien vorgedrungen.

5. Wo das WIR Bedeutung bekommt

Bedingungsloses Grundeinkommen, Gemischte Quartiere, Sorgende Gemeinschaften – die Zauberworte zeigen: Es geht um Zugehörigkeit und soziale Sicherheit. Wer über ein gut geknüpftes soziales Netz verfügt, wer eine stabile Familie, ehemalige Kolleginnen, Vereinskameraden und Freunde am Ort hat, der kann Herausforderungen mit Gelassenheit begegnen. Aber viele fühlen sich allein gelassen, einsam und überfordert. Es gibt inzwischen eine Art „heimatlosen Antikapitalismus“, der zum Treiber der rechts-populistischen Bewegungen wird, sagt Heinz Bude.

Schrumpfende Regionen zeigen, wie Heimat erodiert: Junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, die häufig Wohneigentum haben, das sich kaum noch verkaufen lässt. Paare leben aus beruflichen Gründen die Woche über getrennt; wo Kinder in der Familie leben, sind es häufig die Mütter, die bleiben. Mobilität, Freiheit, Selbstverwirklichung lassen sich wahrscheinlich am besten in einer Singlegesellschaft leben. Aber Menschen, die häufig umziehen oder auch pendeln, verlieren die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Familien mit kleinen Kindern, auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags besonders unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Tatsächlich lebt nur noch ein Viertel der erwachsenen Kinder am Wohnort der Eltern.

Die Kommission für den Siebten Familienbericht der Bundesregierung hat darauf aufmerksam gemacht, dass ein Caredefizit droht, wenn es nicht gelingt, den absoluten Vorrang des ökonomischen Denkens in Frage zu stellen. Nicht nur die demographischen Folgen- Geburtenrückgang und die so genannten Überalterung sind bedrohlich- sondern auch das Schwinden der privaten Fürsorge in Familie, Nachbarschaft und Gemeinden. Offensichtlich ist an dieser Bruchlinie etwas aus der Balance geraten. „Eine Zeit, die ihre soziale Energie auf die Fragen nach Nützlichkeit oder Verfügbarkeit reduziert, ist nicht nur widerwärtig, sondern beraubt die ihr unbedacht Folgenden auch aller Erfahrungen von Fürsorge, Loyalität und Großzügigkeit“, schreibt die Philosophin Ariane von Schirach („Du sollst nicht funktionieren“)

6. Kommunen und Caring Communitys

Die pluralistische Gesellschaft ist in Gefahr, eine fragmentierte Gesellschaft zu werden“, schrieb Udo di Fabio schon vor 6 Jahren. Und Andreas Reckwitz spricht gar von einer „Gesellschaft der Singularitäten“. Familien und Nachbarschaften verändern sich, auch weil Menschen von anderswoher zuziehen – vom Land in die Städte, aus den Städten in den Speckgürtel, als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge. In Marxloh oder Bruckhausen kann man erleben, was das bedeutet: Mit wachsender Vielfalt wächst auch Verunsicherung, wächst das Gefühl des Fremdseins in der eigenen Stadt.

Auch die Orientierung an den wettbewerblichen Strukturen hat das Verhältnis zwischen Bürgern, Dienstleistern und Kommunen grundlegend verändert. In der Dienstleistungsgesellschaft werden alle zu Kunden. Die großen Demonstrationen, zeigen: Bürgerinnen und Bürger wollen als politische Subjekte wahrgenommen werden. Aber Bürgerbeteiligung braucht einen Rahmen. Es genügt es nicht, eine Plattform zu installieren – weder digital noch analog- auch wenn sich inzwischen eine halbe Million Nutzer bei nebenan.de organisiert. Untersuchungen von Martina Wegner aus München zeigen, dass sich auf diese Weise vor allem die hochengagierte Mittelschicht mit ihren eigenen Interessen beteiligt. Wenn wir die erreichen wollen, die ihre Rechte nicht selbstverständlich wahrnehmen, sind intermediäre Organisationen nötig: Schulen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Parteien. Genau die sind aber in den letzten Jahren auf dem Rückzug – von den Bezirksverwaltungen bis zu den Kirchengemeinden. Es genügt aber nicht, Rechte zu haben – wir brauchen auch Informationen, die Kraft, Forderungen zu stellen und Menschen, die uns zuhören und uns unterstützen Wie kann es unter diesen Rahmenbedingungen gelingen, gute Orte zu schaffen – oder genauer: die Bedingungen und Befähigung zu einem guten Leben vor Ort?

Es kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Selbstorganisation von Bürgern und Bürgerinnen, etwa in Seniorengenossenschaften und in Bürgervereinen ohne Hilfe „von außen“ auskommt. Als „Sparmodell“ ist die aktive Bürgergesellschaft nicht geeignet, auch wenn sich immer mehr Menschen engagieren und der Einsatz Ehrenamtlicher gesellschaftlich hoch willkommen ist. Vielmehr benötigen solche Formen der Selbstorganisation Anstöße, Förderung und Unterstützung auch durch die Kommune“. Welcome-Projekte, alternsgerechte und demenzfreundliche Städte, Inklusionquartiere, „leben von einem Ineinandergreifen unterschiedlicher Hilfen. Segmentierte Hilfen sind zu überwinden, es muss in wohlfahrtspluralistische Hilfearrangements investiert werden.“ (7.Altenbericht)

Der soziale Nahraum, der sich durch individuelle Hilfen, durch Nähe, Freiwilligkeit, Wechselseitigkeit auszeichnet, braucht die Ergänzung durch bedarfsorientierte, qualifizierte und organisierte Hilfesysteme. Entscheidend wird sein, beides in der je eigenen Dignität und Logik zu begreifen. Die Förderung „Sorgender Gemeinschaften“ muss eingebettet sein in Sorgestrukturen und ein breit angelegtes Kommunalentwicklungsprogramm. Der Tafelstreit Streit in Essen zeigt: Ehrenamtliche Tätigkeiten dürfen sozialgesetzlich geforderte Aufgaben nicht ersetzen. Sie sind aber unverzichtbar, um die Gesellschaft für Probleme zu sensibilisieren.

Die Erfahrungen in der Flüchtlingskrise können uns dafür die Augen öffnen. Das Engagement in der Flüchtlingshilfe war „nicht länger eine bloße Zutat, sondern ein Schlüsselfaktor bei der Bewältigung der dringlichsten Anforderungen“, meint Adalbert Evers. Laut einer Allensbach – Untersuchung zum Engagement in der Flüchtlingshilfe vom April 2017 arbeiteten 40 Prozent der Engagierten in Gruppen, die sich ausschließlich zu diesem Zweck gegründet haben – ohne Rechtsform, mit flachen Hierarchien und einem hohen Maß an Beteiligungsmöglichkeiten, 23 Prozent haben sich auf eigene Faust und außerhalb aller Institutionen engagiert. Es dominierten junge Leute zwischen 20 und 30 – und sie organisierten sich nicht zuletzt über die neuen Medien. Um allerdings die Erfolge zu verstetigen, brauchen auch diese Initiativen einen politischen Rahmen in der Kommunalpolitik.

7. Kirche in der Transformation

Mit ihren Flüchtlingsinitiativen hat die Kirche an vielen Orten einen solchen Rahmen gesetzt und ist damit sichtbar zu ihrem öffentlichen Auftrag zurückgekehrt. Dabei waren es vor allem freiwillig Engagierte, die den Geflüchteten  Unterkunft und Kleidung, Sprachkurse und Begleitung im Alltag anboten und dafür auf Strukturen und Räume der Kirche zurückgreifen konnten. Mich erinnert das an die Anfänge der Diakonie im neunzehnten Jahrhundert , als sich engagierte Bürgerinnen und Bürger um diejenigen kümmerten, die bei der Industrialisierung auf der Strecke blieben – um Migranten genauso wie um unversorgte Kranke und Sterbende, überforderte Familien oder arbeitslose Jugendliche. Inzwischen haben die Wohlfahrtsverbände in den Augen vieler einen eher „staatsanalogen“ oder inzwischen auch marktförmigen Charakter bekommen. Aber die Ehrenamtlichen in Stadtteilläden, Flüchtlingsinitiativen oder Tafeln geben auch heute Impulse zur Erneuerung und Veränderung. Das hat auch eine problematische Seite. Denn der Einsatz von Ehrenamtlichen ist ja auch deshalb hoch willkommen, weil die öffentlichen Kassen leer sind. Zugleich aber ist das Engagement von Ehrenamtlichen ein Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen. Ehe noch Programme und Strukturen entwickelt werden, engagieren sich Menschen ganz persönlich, wo es brennt.

So war es in der Diakonie des 19. Jahrhunderts, als Johann Hinrich Wichern das Diakonentum aller in den Mittelpunkt rückte – im Rückgriff auf das Priestertum aller getauften. Davon lebten seitdem die Jugendverbände, die ökumenische Bewegung, die Erwachsenenbildung. Aber auch in der Friedens- und Ökologiebewegung, in der Frauen- und Hospizbewegung haben sich Christinnen und Christen eingebracht und von dort eigene Impulse in die Kirche getragen. Die sogenannte Amtskirche braucht Menschen, die nah dran sind an den gesellschaftlichen Umbrüchen und persönlichen Notlagen sind, die die Organisation von außen sehen können, andere berufliche Erfahrungen und Kompetenzen einbringen

Aber längst sind nicht mehr alle, die sich in Kirche und Diakonie engagieren, Kirchenmitglieder; das ist anders als im 19.Jahrhundert. Wie viel Verantwortung dürfen sie in kirchlichen Gremien und Strukturen übernehmen? Welche Rolle spielt dabei die Mitgliedschaft?  Was ist mit denen, die nicht getauft sind, weil schon ihre Eltern nicht mehr Mitglied waren? Wäre eine Kirchenmitgliedschaft auf Probe denkbar? Für die Zukunft der Kirche wird jedenfalls entscheidend sein, wie sie Engagierte und Suchende auf ihrem Weg zum Glauben begleiten kann und welche Rolle dabei nicht nur die funktionale und fachliche, sondern eben auch die religiöse Bildung spielt. 

Die notwendigen kirchlichen Reformprozesse führen auch zu Veränderungen im Profil hauptamtlicher Arbeit. Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakone, Gemeindepädagoginnen und Jugendmitarbeiterinnen sehen sich immer mehr in der Rolle der Coaches, Trainerinnen und Moderatoren von Veränderungsprozessen. Dabei profitieren alle Beteiligten von der Zusammenarbeit zwischen Gemeinden, Diakonie, Erwachsenenbildung und Jugendarbeit und auch Schulen. Anstelle getrennter Funktionsbereiche ist Netzwerkdenken angesagt; die Verschiedenheit der Berufe ist dabei ein Gewinn. Das Miteinander unterschiedlicher Leitungsaufgaben in der Kirche wurde  bereits zur Reformationszeit in der Kaufmannsstadt Genf gedacht, in die damals viele Glaubensflüchtlinge aus Frankreich kamen. In der selbstbewussten Kaufmannsstadt lag Modernisierung in der Luft- hier bildeten Pfarrer, Lehrer, Diakone und Gemeindeleiter ein Team.

Mit dem Aufkommen des internationalen Handels, des Geld- und Bankenwesens war auch die Reformationszeit von erheblichen ökonomischen Umbrüchen geprägt. Der Paradigmenwechsel von der Naturalien- zur Geldwirtschaft wirkte sich dramatisch aus. Und die Verelendung betraf nicht nur die bekannten Randgruppen der Gesellschaft wie Arme, Alte oder Kranke, sondern auch geachtete Stände wie Bauern, Bergleute oder Handwerker. Die Auflösung der Ständegesellschaft forderte neue Konzepte, die auch die Bedürfnisse der Verlierer sicherten.

Ein Symbol für diesen Paradigmenwechsel war Luthers „Leisniger Kastenordnung“ von 1523. Die Zusammenführung religiöser und weltlicher Verantwortung löste gleich mehrere Probleme: „die prekäre Lage der Ärmsten, die nachlassende Spendenfreude und die gerechte Verteilung ehemals papstkirchlicher Besitztümer“.  Zu den Einnahmen der Stadt sollten nun neben den Einkünfte aus Zinsen und den Abgaben der Dörfer auch das Vermögen der Pfarrgemeinde gerechnet werden- und die Ausgaben waren für Infrastruktur genauso wie die für Waisenkinder, Arme, alte und bedürftige Fremde bestimmt. Diese umlagefinanzierte Kastenordnung ist eine Wurzel des modernen Konzepts einer staatlichen Solidargemeinschaft, in der die Bedürftigen eben nicht mehr Bettler, sondern unterstützungsberechtigte Mitbürger sind.

8. Tradition im  Quartier

Auch heute geht es um mehr als Sozialpolitik, es geht um eine Mentalitätsveränderung, einen gesellschaftlichen Aufbruch. Damit das gelingt, brauchen wir Begegnungsorte. Am besten solche, die keiner Gruppe eindeutig zuzuschreiben sind, wo sich die Verschiedenen ohne Hierarchisierung begegnen und ihre Anliegen aushandeln können. „Dritte Orte“ – offen, niedrigschwellig und kostenlos. Dorfläden, Stadtteilbüchereien, Quartierscafés können diese Funktion erfüllen. Bis in die 60er Jahre waren Gemeindehäuser solche dritten Orte, Versammlungsräume und Vereinshäuser für alle. Heute werden sie oft als halb leerstehende Clubhäuser für Hochverbundene wahrgenommen. Beispiele aus Ostdeutschland zeigen: Kirchen können Orte der Zugehörigkeit sein. Es geht darum, die Türen zu öffnen – gerade da, wo andere Träger sich zurückziehen – und – wie in den Bürgerhäusern- den frei gewordenen Raum mit anderen zu teilen. Vom Sportverein bis zur Musikschule, vom Mieterbund bis zur Beratungsstelle.

In den sozialpolitischen Orientierungshilfen der EKD – zu Armut, Familie, Pflege, Alter oder Inklusion – ging es in den letzten Jahren immer um die Frage, wie es gelingen kann, die Schranken zu öffnen, die die Gemeinde zum Club gemacht haben – und ganz bewusst auf die Nachbarschaften zuzugehen. Dabei ist die Zusammenarbeit mit der Diakonie ein wichtiger Schlüssel. Das WIKI hier in Wuppertal ist ein Beispiel. Noch immer hat die Kirche enorme, auch materielle Ressourcen. Neben den Gebäuden gehören dazu Grundstücke, Ackerland und auch Bauland. Vielerorts entstehen auf diesen Flächen neue, auch integrative Wohnprojekte, Mehrgenerationenhäuser, Wohnanlagen für Flüchtlinge und Studenten. Anderswo werden die kirchlichen Flächen für ökologischen Landbau oder für neue Energiegewinnung genutzt.

Oft geht das nicht ohne Konflikte ab. Es kommt zu Spannungen zwischen „Vereinsgemeinde“ und Engagementgruppen, zwischen Traditionsgemeinde und Quartiersbewegung. Es geht darum, das Kirchenbild zu klären, strategisch, aber vor allem spirituell. Wer sind wir als Kirche und wohin sind wir unterwegs? „Die ‚Christenheit‘ hat ihr Wesen und ihren Zweck nicht in sich selber und nicht in ihrer eigenen Existenz, sondern lebt von etwas und ist für etwas da, das weit über sie hinausreicht. Will man das Geheimnis ihrer Existenz und ihrer Handlungsweisen begreifen, so muss man nach ihrer Sendung fragen. Will man ihr Wesen ergründen, so muss man nach ihrer Zukunft fragen, auf die sie ihre Hoffnungen und Erwartungen setzt. Ist die Christenheit selber in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen unsicher und orientierungslos geworden, so muss sie sich wieder darauf besinnen, wozu sie da ist und worauf sie aus ist“, schrieb Jürgen Moltmann bereits 1964.

Wenn die Kirchen sich mehr mit dem Erhalt der Organisationen als mit dem Verlust gesellschaftlicher Relevanz beschäftigen und dabei die Probleme der Transformation aus dem Blick verlieren, fallen sie als Dialogpartner für Wissenschaft und Zivilgesellschaft aus. Viele erleben uns als Moralinstanz, die angesichts des Klimawandels und der Gefährdung des Gemeinwohls vor allem Verzicht predigen, aber den Worten nur unzureichend Taten folgen lassen. Wie müssten die Kirchen sich verändern, um Orte für neue Lebenserfahrungen zu werden? Wo ein neuer Lebensstil gepflegt, eine neue Spiritualität eingeübt werden kann – ökumenisch, mit Blick auf die ganze globale Welt, und doch mit Angeboten von Ortsgemeinden, Sozialinitiativen und Bildungseinrichtungen, die einzelne und Gruppen in ihrer eigenen Transformation begleiten? Wie gehen wir um mit den Glücksversprechen des Konsumismus? „Coping, Doping, Buying, Shopping“, wie Wolfgang Streeck[1] unseren westlichen Lebensstil nennt, können nur wenigen Erlösung bieten. Es geht darum, unsere Endlichkeit anzuerkennen, um die Erfahrung von Gemeinschaft angesichts unserer Verletzlichkeit und um den Mut, das Vergangene hinter uns zu lassen.

9. Den Aufbruch leben:

Gott hat die Erde nicht geschaffen, dass sie leer sein soll, sondern sie bereitet, dass man auf ihr wohnen solle, heißt es in Jesaja 45, 18. Die Erde ist vom Anbeginn der Schöpfung an Sozialraum der Menschen und der Mitgeschöpfe. Wie das aussehen kann, erzählt die Bibel oft am Bild der Stadt. Erzählt vom neuen Jerusalem, wo Menschen aus aller Welt ein zu Hause finden.  Wo die Tore offenstehen und das Lamm auf dem Thron sitzt.  In Sacharja 8 ist von den Kindern und den Alten die Rede: „ Es sollen hinfort wieder sitzen auf den Plätzen Jerusalem alte Männer und Frauen, jeder mit seinem Stock in der Hand vor hohem Alter, und die Plätze der Stadt sollen voll sein von Knaben und Mädchen, die dort spielen ( Sacharja 8, 4-5) Die Kinder und die Alten sind hier Subjekt und Akteur. Sie haben eine Rolle, haben Teil am Ganzen. Die Randgruppen stehen in der Mitte – wie wir es kennen von Jesu Tischgemeinschaften, Heilungen und der Kindersegnung.

Wenn ich mir diese  Vision vor Augen stelle, fällt mir immer auch ein Albtraum ein: die Geschichte, die Hilde Sherman aus dem Rigaer Ghetto erzählte. Hilde Sherman wurde als Jüdin aus meiner ersten Gemeinde in Mönchengladbach- Wickrathberg deportiert. Sie war eine von 37. Männer, Frauen und kleinen Kindern. Als junge, arbeitsfähige Frau kam sie nach Riga. Sie überlebte, ging nach Lateinamerika- später traf ich sie in Jerusalem. Das Ghetto in Riga war das Gegenteil der Vision Sacharjas: Eine Stadt ohne Kinder und ohne Alte. Da gab es niemanden der unnütz war. Denn es ging nur um eins: um ertragreiche Arbeit. Um Gewinn. Eine Zeit, die den Wert eines Menschen mit seiner Leistungskraft gleichsetzt, diskriminiert diejenigen, die zur Verwertung entweder noch nicht oder nicht mehr tauglich sind – und damit irgendwann uns alle.“ ( Ariadne von Schirach, 2014, S. 75)

Wir leben in einer Welt, in der alle Lebensverhältnisse von Ökonomisierung geprägt werden. Das gilt für die Sorgearbeit wie für das Wohnen, für die Pflege wie für die Natur. Inunserer Gesellschaft, die stark geprägt ist vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstoptimierung, angesichts der Vermarktlichung des Sozial- und Gesundheitssystems geht es um ein Gegengewicht: um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere, für die gesellschaftliche Entwicklung und auch für die Schöpfung als Ganzes.

Unter der Überschrift „ Wir fangen einfach schon einmal an“ zeigt Annette Jensen alternative Beispiele aus Produktion, Landwirtschaft und Verkehr. Die Wiederverwendung seltener Erde in unserem Elektroschrott. Lokale Energiegenossenschaften wie fair.planet,  die Nutzung von Biomasse als Energieträger, Dorfläden, mit denen die Tante-Emma-Läden zurückkehren, und Umsonstläden für jedermann. Stadtgärten, in denen alte Pflanzensorten neu gezüchtet werden. Immer gilt: weg von den Monopolisten und globalen Konzernen, hin zur Region, zur Vielfalt. Weg von der Produktion immer neuer Güter hin zum Sharing und Mehrfachnutzen.

Nicht nur die Politik, sondern auch Bürgerinnen und Bürger, Verbraucherinnen und Verbraucher, Arbeitnehmer und Gemeinden müssen sich an sozialen und ökologischen Zielvorstellungen orientieren. Wir brauchen ein Wohlstandsmodell, das über den bewährten Mechanismus von Wachstum und Umverteilung hinausgeht. Wohlergehen kann sich auf Dauer nicht nur an der Höhe des Bruttoinlandsprodukts messen. Der Dialog darüber ist wichtig, aber genauso entscheidend sind Modelle, Zukunftserfahrungen in der Gegenwart. Hier sind wir gefragt.Für die Kirchen, deren „heimlicher Lehrplan“ lange darin bestand, Ordnungen zu begründen und aufrecht zu erhalten, ist die Öffnung ins Ungewisse und Andere eine große Herausforderung. Das zeigt sich in der Gemeinwesendiakonie genauso wie beim Umgang mit den unterschiedlichen Lebensformen oder bei der Digitalisierung. Schon bei der Auszugsgeschichte Israels zeigt sich: die Hoffnung auf eine neue Welt, trägt nicht lange durch die Wüstenerfahrungen. Menschen brauchen mehr als eine Vision; sie brauchen greifbare Erfahrungen. Darum wurde das goldene Kalb gegossen, darum hängen wir am Bargeld, darum wurde das Auto zum Wohlstands- und Mobilitätssymbol in Deutschland. Wenn wir nicht am Materiellen kleben bleiben, sondern Wege und Orte neu gestalten wollen, dann müssen wir darauf setzen, dass ein Aufbruch ins Ungewisse möglich ist.  Gemeinden, Netzwerke, Bildungseinrichtungen könnten ein „Zwischenraum“ sein – zwischen heute und morgen, zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, zwischen Religiösen und Säkularen. Sie können Fronten auflösen, Suchprozesse ermöglichen. Dabei geht es auch darum, eine gemeinsame Sprache zu finden mit denen, deren Vokabular und Grammatik nicht im Kontext kirchlichen Nachdenkens geformt ist. Es geht darum, wiederzuentdecken, wie sich das Heilige und Sakrale in den Tiefen der Spannungsfelder zeigt. Da gibt es Manna in der Wüste, Möglichkeiten, von denen wir noch gar nichts ahnen. Die Kirche ist nicht die Avantgarte des Aufbruchs, sie ist nur noch Wegbegleiter. Aber sie hat Schätze, Gesch


[1] Wolfgang Streeck, „Gekaufte Zeit, die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“, Frankfurt 2013