Pflegepredigt zum Buß-und Bettag

Im Gottesdienst „ Last und Lust der Pflege“ am 20.11.19 in St. Nikolaus, Burgdorf

„Wir müssen reden: Über unseren Alltag. Über unsere Sorgen, unsere Verzweiflung und unsere Wut. Aber auch über unsere Freude, die Erfolge und unsere Leidenschaft. Darüber, was wir können und leisten und darüber, was wir gerne tun würden – wenn man uns nur ließe“. Das habe ich vor einiger Zeit auf der Internet-Plattform „Care-Slam“ gelesen. Da vernetzen sich Pflegende – Altenpfleger, Krankenschwestern und pflegende Angehörige. Menschen wie Sie.  

1.5 Mio. Menschen, zwei Drittel der Pflegebedürftigen, werden von Angehörigen gepflegt – oft mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes. Das sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege, die am schlechtesten bezahlt werden. Sie quälen sich zu Stoßzeiten mit dem Auto durch den Verkehr, hin und her in der Stadt, um morgens und abends in den Häusern zu sein. Bei den Töchtern und Schwiegertöchter, die die kranke Mutter pflegen, bei den Männern, die ihre Frauen pflegen. Auch sie verzichten auf eigenes Einkommen und Karriere, weil sie für einen anderen da sein wollen. Neun Jahre dauert die häusliche Pflege im Durchschnitt – aber wie lange sie im Einzelfall dauert, das lässt sich zu Beginn gar nicht absehen. Deshalb ist es schwer, mit dem Arbeitgeber zu verhandeln, wenn jemand die Arbeitszeit reduzieren muss. Das ist anders als bei der Kindererziehung.

Bei einer Befragung der IG Metall vor zwei Jahren zeigte sich: 84 Prozent der Befragten fordern eine finanzielle Unterstützung für diejenigen, die wegen der Pflege von Angehörigen reduzieren müssen. Denn Pflege kann arm machen. Dass gerade Frauen oft niedrige Renten haben, hat damit zu tun. Aber das ist nur das eine. Pflege kann auch einsam machen: Viele  verschwinden einfach aus dem Kollegen- und Freundeskreis- sie haben ja  keine Zeit mehr und kein Geld für Einkaufsbummel und Geburtstagsbesuche, für Urlaub oder den Friseur.

“Wir können nicht von Politikern erwarten, dass sie irgendetwas ändern, wenn wir selbst nicht aufstehen und den Mund aufmachen. Pflege muss laut sein“ sagt Claudia Hanke, eine der Gründerinnen von Care-Slam.„Wir haben jetzt schon einen Notstand – aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was kommt“, sagt der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den kommenden 30 Jahren von rund drei Millionen auf fünf Millionen Menschen steigen. Da tut sich schon in den nächsten zehn Jahren eine Lücke von 350.000 Vollzeitstellen auf. 

Die Frage, wie es gelingen kann, den Pflegeberuf attraktiv zu machen, gehört nun endlich zu den Top –Themen der Bundesregierung. Alexander Jörde hat wesentlichen Anteil daran. Das ist der junge Krankenpfleger, der die Bundeskanzlerin vor zwei Jahren im Wahlstudio fragte, was sie für die Pflege tun wolle. Er sieht die Menschenwürde in unseren Einrichtungen gefährdet, weil die Stellenpläne viel zu knapp sind. „Kranke Pflege“ heißt sein Buch, das vor einem Jahr erschien. Der jahrelange Stellenabbau, die Arbeit in normierten Zeittakten, die zunehmende Arbeitsverdichtung und die überbordenden Dokumentationspflichten hätten die Pflege krank gemacht, sagt er.  Und die Pflegenden auch. Pflegende sind „eine der Hochrisikogruppen für arbeitsbedingte Belastungen.“ Das kann man messen. Zum Beispiel an den Krankheitstagen. Da liegt der Durchschnitt in der Altenpflege bei 24  Tagen – gegenüber 16 Tagen im Durchschnitt. Und auch pflegende Angehörige werden häufiger krank, weil sie an die Überlastungsgrenzen kommen. „ Mutter, wann stirbst Du endlich“, hieß das Buch von Martina Rosenberg, das 2012 erschien und in vielen Talkshow diskutiert wurde. Es war ein Tabubruch- und es war ein Hilfeschrei. Was aussah wie Herzlosigkeit, war Verzweiflung und Überforderung. Es sind ja gerade die Pflichtbewussten und Liebevollen, die an die Überlastungsgrenze stoßen. Nach Jahren pausenloser Hingabe werden sind pflegende Angehörige genauso wie professionelle Pflegekräfte von Burnout, Störungen des Immunsystems und anderen Erkrankungen bedroht.

Heute ist Buß- und Bettag. Der alte preußische Feiertag will vor allem eins: dass wir Hinsehen, wo etwas schief läuft unter uns. Wo Unrecht und Ungerechtigkeit zugedeckt werden. Dass wir die Dinge beim Namen nennen: Wo  wir uns ändern müssen in Politik und Gesellschaft, aber auch in den Nachbarschaften und Gemeinden. Deshalb finde ich es großartig, dass Sie für den Gottesdienst heute das Thema Pflege gewählt haben. Denn Pflege ist   mehr als eine Dienstleistung oder eine Familienangelegenheit. Sie ist für den Zusammenhalt einer älter werdenden Gesellschaft von entscheidender Bedeutung.  Ein öffentliches Gut. Ohne die vielen Pflegenden aus Spanien, Polen, den Philippinen wären wir schon jetzt nicht mehr in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen.

 Dass wir das  erst  jetzt richtig wahrnehmen, jetzt, wo es brennt- das hat leider auch damit zu tun, dass Pflege bislang vor allem Frauensache ist. Und es scheint ja so weiter zu gehen: Was wären wir ohne die 600.000 Haushaltshilfen aus Osteuropa, die hier alleinlebende Ältere versorgen. Und dafür vielleicht die eigene Familien von den Großmüttern versorgen lassen. Viele Generationen von Töchtern und Schwiegertöchtern, von Diakonissen, Diakonieschwestern und Nonnen haben sich selbst zurückgestellt, um diesen Dienst zu tun. Still und liebevoll. Zu selten hat man darüber nachgedacht, wie es ihnen ging.

Manchmal denke ich an Theodor Fliedner, den Gründer der Kaiserswerther Diakonissenanstalt. Der hatte klare Managementgrundsätze für die Schwestern, die er an Krankenhäuser entsandte. Dabei ging es um Qualität und Ethik der Pflege, um Sauberkeit, gute Versorgung und Medizin – es ging aber auch um die Gesundheit der Schwestern. „Wenn sie längere Zeit hintereinander zu wachen haben, dürfen sie nur jede dritte Nacht wachen. Nach jeder geleisteten Nachtwache müssen sie am Tage zu einer passenden Zeit mehrere Stunden schlafen“, hieß es damals in der Krankenpflegeordnung. Dahinter steht das Wissen: Was für Kranke und Pflegebedürftige wichtig ist, das brauchen die Pflegenden natürlich auch: Einen gesunden Rhythmus von Arbeit und Leben, gute Versorgung und  Rückzugszeiten, um neue Kraft zu tanken, sich neu zu sortieren. Die Diakonissen, Nonnen, Diakonieschwestern hatten deshalb Zeit für Einkehrtage, für ein Gespräch zwischendurch, Zeit auch am Sterbebett zu sitzen. Untersuchungen zeigen: auch das gehört zu den Kraftquellen.

„ Ich habe hier ein Krankenhaus erlebt, in dem Pflegende und Gepflegte Gewinn davon tragen“, schrieb die große Florence Nightingale, als sie bei Theodor Fliedner in Kaiserswerth lernte. Sie wollte unbedingt Krankenschwester werden- sie sah darin ihre Berufung. Später, im Krimkrieg, ging sie sogar nach Scutari in ein Feldlazarett, um dort die Pflege zu managen. Die Lady mit der Lampe, wie man sie nannte, sah es als ihre Berufung an, für andere da zu sein. Aber auch sie kannte Zeiten des Ausbrennens. Worin also besteht  der Gewinn für die Pflegenden?  Für Menschen wie Sie. Eine gute Bezahlung, eine finanzielle Absicherung ist wichtig – aber es geht offenbar um mehr.

Was hat Menschen wir Florence Nightingale und Theodor Fliedner motiviert, was hat sie auch in Erschöpfungssituationen durchhalten lassen? Woher kam die Kraft, in den Krankenhäusern und Gemeinden professionelle Pflege aufzubauen? Damals, im 19. Jahrhundert, hat das Gleichnis Jesu vom großen Weltgericht eine entscheidende Rolle gespielt. Da geht es um die Werke der Barmherzigkeit.

Wir hören Matth. 25, 31 – 40

Andere speisen und tränken, kleiden, besuchen und pflegen – alles Sorgehandeln ist Antwort auf die Begegnung mit einem bedürftigen Menschen. Es geht nicht zuerst um Pflicht und Verpflichtung. Zuerst geht es darum, dass ich die Not eines anderen wahrnehme. Das ist nicht einfach in unserer individualistischen Gesellschaft. Jeder ist damit beschäftigt, irgendwie durch den Alltag zu kommen– unterwegs in Bus und Bahn, oft mit dem Smartphone in der Hand. Der Mensch neben mir, mein Nachbar, mein Nächster kann weit weg sein- die Nachrichten auf Facebook ganz nah. Jeder lebt in seiner eigenen Blase, sagen die Medienwissenschaftler – und jeder will autonom sein, das eigene Leben gestalten und bestimmen. 43 Prozent der Älteren leben allein – das hat viele Gründe; Familien sind heute oft weit verstreut.  Aber die allermeisten wollen es auch so. Selbstbestimmt leben, solange es geht. Lieber mehr Technik ins Haus, ein Smarthome, einen Roboter, als in ein Pflegeheim gehen, sagen über 80 Prozent. Für mich selber sorgen, so lange ich irgendwie kann. Und wenn nicht? Wer sieht mich, wenn ich gebrechlich werde? Wer in meiner Umgebung nimmt die schleichende Demenz wahr?

Die Not eines anderen sehen. Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter erzählt davon, wie schwer das ist. Dabei spielt sie gar nicht in unserer schnelllebigen Zeit. Und trotzdem: da liegt jemand blutend und ausgeraubt am Rand der Straße und zwei von drei Menschen gehen vorüber. Sie sind zu beschäftigt, haben keinen Blick für den Menschen neben ihnen. Dabei sind es fromme Leute – ein Priester und ein Levit. Nur einer sieht hin und hält an, und das ist ausgerechnet ein Samariter. Der weiß, wie es ist, nicht gesehen zu werden. Er kann sich vorstellen, wie es dem Verletzten geht. Das könnte ich auch sein, denkt er vielleicht – das kann mir auch passieren. Normalerweise versuchen wir solche Gedanken fern zu halten. Also lieber gar nicht hinsehen, wenn es um Pflege oder um Demenz, um Armut und Einsamkeit geht. Schließlich wissen wir ja nicht, wer für uns sorgt, wenn wir das selbst nicht mehr können.

Der Samariter sieht hin. Und die Menschen im Gleichnis vom Weltgericht sehen auch hin. Und jede, die sich in einen anderen einfühlt, die Anteilnahme zeigt, der die Not eines anderen das Herz bewegt, kommt in Aktion. Hebt den anderen auf und stellt ihn auf die Beine, verbindet Wunden, bringt ein Glas Wasser oder einen Teller Suppe. Und genau in diesem Handeln liegt offenbar eine Kraftquelle, mit der wir gar nicht rechnen. Die Begegnung mit einem anderen kann mir zur Gottesbegegnung werden. Ich sehe hin und werde gesehen. Und plötzlich spüre ich, dass es genau darum geht im Leben: gesehen werden. Einem Du begegnen. Eintauchen in eine Tiefe, die sich an der Oberfläche des Alltags oft verschließt. Pflegende erzählen von solchen Erfahrungen. Wie gut es sein kann, die Hand eines anderen Menschen zu halten – und zu spüren: wir sind verbunden, nicht nur als Pflegende und Gepflegte, sondern als Menschen, die alle verletzlich und sterblich sind. Und trotzdem geliebt.

An einer Fachhochschule in Süddeutschland wurde ein Kurs zur Begleitung Pflegender Angehöriger entwickelt. Freiwillige ließen sich ausbilden, um denen beizustehen, die vor Erschöpfung nicht mehr weiter wissen. Viele von ihnen erzählten von solchen spirituellen Erfahrungen in der Pflege ihrer Angehörigen. Und waren froh, endlich einmal darüber reden zu können. Denn vor lauter Druck und Verzweiflung ist ja nur noch von der Not in der Pflege die Rede, aber nicht mehr vom Gewinn. Dass es Gottesbegegnungen in der Pflege gibt, davon erzählen nur noch die alten Geschichten. So wie die Legende von Elisabeth von  Thüringen, der heiligen Elisabeth. Sie soll einmal einen Leprakranken ins Ehebett gelegt haben, um ihn zu pflegen. Und als ihr Mann das bemerkte und wutentbrannt die Decke zurückschlug, fand er dort den gekreuzigten Christus. Die Verwandlung, die Wandlung, fand unter seinen Augen statt. „ Was Ihr den Geringsten unter meinen Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus im Gleichnis.  

Pflegen heißt, auf diese Wandlung zu vertrauen. Sich auf den einzelnen Menschen einzulassen und ihm in seiner ganzen Angewiesenheit seine Würde widerzuspiegeln. Denn dass wir füreinander da sein können, das macht unsere Würde als Menschen aus. „Pflege ist ein Beziehungsberuf, in dem es nicht nur um die gekonnte Aktion, sondern vor allen Dingen um die Interaktion geht“, sagt der Arzt und Philosoph Giovanni die Maio. Dieses Glück in der Pflege scheint unserer Gesellschaft abhanden zu kommen. Im Internet kann man inzwischen T-Shirts bestellen, auf denen steht: „ Ich bin kein Pflegeroboter“. Und tatsächlich gleichen ja die Abläufe in manchen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen notgedrungen eher einer durchgeplanten Abfertigung. Da geht es dann nur noch darum, die vielen Fälle ohne große Katastrophen zu bewältigen. Das Fatale daran: Das reduziert uns auf unsere körperliche Existenz. Vielleicht kann sogar manches eines Tages von Robotern übernommen werden. aber was den Menschen zum Menschen macht- die Begegnung,   die den anderen in seiner Würde spiegelt, lässt sich nicht an Roboter delegieren.  Wo die Pflege auf Zahlen und Fakten reduziert wird, da werden wir eines Tages alle zum Pflegefall.

Liebe Gemeinde, wo die Menschenwürde unter die Räder kommt wie der Verwundete im Gleichnis, da müssen wir dem Rad in die Speichen fallen. Ohne bessere Rahmenbedingungen und Gehälter für Pflegekräfte, ohne finanzielle Absicherung für Pflegende Angehörige, ohne Auszeiten, um die eigene Gesundheit zu erhalten und gute Dienstleistungen in der Nachbarschaft wird sich nichts ändern..  Pflege lebt von Pflegeketten, Menschen, die solidarisch zusammenarbeiten. »Wenn das Geld nicht reicht«, sagt der Samariter zum Wirt, »zahl ich‘s Dir, wenn ich das nächste Mal hier vorbei komme.“ Und dann lässt er den Verwundeten dort, weil er nun selbst auch weiter muss. Hinsehen, handeln und die Lasten teilen – darum geht es. So viele sind an der Pflege beteiligt: Professionelle und Angehörige, Einrichtungen und ambulante Dienste- eigentlich ein ganzes Netz. Die Aufgabe ist, daraus Sorgende Gemeinschaften zu machen. Das geht uns als christliche Gemeinde ganz unmittelbar an.

„Ist einer von euch krank? Dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben“, heißt es im Jakobusbrief (Jak 5,14). Die Pflegenden und die Gepflegten müssen wieder neu in den Blick der Gemeinde kommen. Auch wenn wir eine Zeitlang nicht hingesehen haben, können wir nochmal ein Stück zurückgehen und neu anfangen.  Buße tun. Damit niemand vergessen wird und verzweifeln muss. Wir können beten für die Menschen, die heute nicht hier sein können und doch unsere Unterstützung. Und wir können aktiv werden. In Gemeinde und Politik. Das bringt Gewinn, der sich nicht in Zahlen ausdrücken lässt. Amen.