Kraftorte: Interview mit Dr. Thomas Mäule, Pfarrer bei der Evangelischen Heimstiftung, Baden-Württemberg

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DIAKONISCHE PILGERREISEN: DER BLOG

Wir entdecken Diakonische Pilgerorte – 
diesmal auf der Spur von: Dr. Thomas Mäule

Wir brauchen Orte der Besinnung und Ermutigung: dem Gewissen zu folgen und nicht dem Mainstream. Und dann auch mal laut zu sagen: Nein!

Gerne können Sie Gast der Heimstiftung sein. Kommen Sie werktags zwischen 9 und 16 Uhr in die Hackstraße 12 nach Stuttgart und melden Sie sich im Foyer.

Thomas Mäule ist seit fünfzehn Jahren Pfarrer bei der  Evangelischen Heimstiftung, einem großen Altenhilfeträger in Baden-Württemberg. Er leitet die Stabsstelle „Theologie und Ethik“. Seine Aufgabe besteht darin, diakonische Kultur im Unternehmen zu gestalten. Zuvor hat er das Theologische Grundsatzreferat im Diakonischen Werk geleitet, war Studienleiter in der Akademie Bad Boll und in der Pfarrersausbildung tätig.

Sie beschäftigen sich beruflich und/oder ehrenamtlich mit Diakonie. Was liegt Ihnen dabei besonders am Herzen?
Ich mache mir Sorgen um ein Gesundheitssystem, das zunehmend den Gesetzen des Marktes folgt. In dem Pflegende und Ärzte das Gefühl haben, ihren Aufgaben nicht richtig gerecht werden zu können. Und in dem Patienten und Bewohner zu einem Mittel der Ertragssteigerung werden. Für mich ist eine Sorgeethik mit und für ältere Menschen die soziale Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Wie kann eine Haltung des Sorgens täglich gelebt und genährt werden? Wie kann die Motivation von Helfern und Helferinnen erhalten, einer Frustration ihrer Ideale vorgebeugt werden? Welche Formen der Verständigung, der Organisation, des Umgangs miteinander und der Selbstsorge nähren Haltung und Praxis des Sorgens? Das sind Themen und Fragen, mit denen ich mich beschäftige und die mir am Herzen liegen.

Gibt es eine persönliche Erfahrung, die Ihnen den Kern diakonischer Arbeit existenziell vor Augen geführt hat?
Helfender Beistand und echte menschliche Anteilnahme geschehen täglich in den Beziehungen zwischen helfenden und hilfsbedürftigen Menschen. Wenn sie über oberflächlichen Kontakt hinausgehen und wir gemeinsam bedeutsame Situationen erleben. In einem Filmprojekt mit dem Titel „Im Alter Mensch sein“ ist mir das eindrücklich vor Augen geführt worden. Ich habe mit Bewohnern über das Alter nachgedacht, gefragt, wie es ihnen gelingt, die eigenen engen Grenzen zu akzeptieren. Und ich habe Vorbilder gefunden, die mich die Kunst des Alterns lehren und mir beibringen, gelassen dem Älterwerden entgegenzutreten. Geben und Nehmen auf Augenhöhe, biografisches Erzählen als Quelle – das ist Kern diakonischer Arbeit. Aber auch: Haltung als Rückgrat. Alte Menschen haben feine Antennen und spüren genau, in welcher Haltung wir ihnen begegnen.

An welchem Ort (in welcher Einrichtung, in welchem Haus oder Raum) ist Diakonie für Sie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar geworden und was hat Sie dort fasziniert?
Im Verwaltungsgebäude der Evangelischen Heimstiftung im Stuttgarter Osten (Hackstraße 12) finden sich zwei diakonische Orte, für die mein Herz schlägt: der Eingangsbereich mit dem Relief der Unternehmensgründerin und der Raum der Stille.

An der Eingangstür begrüßt ein starker Satz Mitarbeiter und Gäste. Er stammt von der Unternehmensgründerin Dr. Antonie Kraut. „Wo um der Liebe Gottes und des Erkennens Jesu willen der Elende ruft, da ist die Kirche zur Hilfe verpflichtet, unbeschadet ob der Staat diesen Dienst unterstützt oder verbietet.“ Der Satz stammt aus dem Jahr 1949, die Erfahrung des Molochs Sozialstaat in der Nazizeit prägend. Der Satz ist nicht zeitlos gültig und wiederholbar. Er hat aber eine bleibende Bedeutung – deshalb steht er da und erinnert an die Courage der Unternehmensgründerin: sich nicht anzupassen. Dem Gewissen zu folgen und nicht dem Mainstream. Und dann auch mal laut zu sagen: Nein! Der andere mir wichtige Ort ist der Andachtsraum als Ort der Besinnung und Ermutigung.

Was macht Ihrer Meinung nach einen – oder diesen – „diakonischen Ort“ zum spirituellen Kraftort (Geschichte, Gestaltung, Personen …)?
Auch ein Verwaltungsgebäude braucht einen Ort, wo die Seele ein Zuhause hat. Der Andachtsraum ist anders als Arbeitszimmer, Konferenzräume oder Cafeteria. Er spiegelt nicht den Alltag, sondern führt von ihm weg. Er unterbricht ihn und bietet eine Andersheit, die einen in eine neue Rolle bringt: als Beter und Hörerin, als Singende oder Nachdenklicher. Wir sprechen dort anders, verhalten uns anders, werden ruhiger oder unruhiger durch die Ruhe des Raumes. Er ist ein Raum der Stille. Ein schlichter Raum. Sitzhockern ist jede Gemütlichkeit fremd. Der Andachtsraum ist offen und zugänglich. Wer ihn betritt, spürt: Der Raum redet zu mir. Er erklärt die Fundamente christlichen Glaubens. Ja, er ist ein Stück Mission. Wie auch Wurzeln der Heimstiftung in der Tradition der Inneren Mission liegen. Mission heißt: zeigen, was man liebt. Was man liebt, hält man nicht in einem geheimen Winkel.

Was würden Sie in Ihrem Arbeitsumfeld räumlich ändern, wenn Sie die Freiheit und Mittel dazu hätten, damit die Arbeit, die Ihnen am Herzen liegt, noch besser gelingt?
Hinter dem Verwaltungsgebäude der Heimstiftung gibt es einen großen Garten mit Aufenthaltsmöglichkeiten für Mitarbeitende und Gäste. Hier wünschte ich mir einen Sinnespfad der besonderen Art: als eine Art Mischung aus Kunst- und Besinnungsweg. Offen für Gäste. Ein Ort der Begegnung und Zeichen der Gastfreundschaft. Der Künstler Martin Burchard, der den Andachtsraum konzipiert hat, hat mitten im Schwäbischen Wald bei Gschwend den „weiterweg“, einen Walderlebnispfad gestaltet, den wir immer wieder zu „Oasentagen“ nutzen. An zehn Stationen werden dort „Pilger“ angeregt, über zentrale Fragen des Lebens nachzudenken. An einem Standort ist das altbekannte Bild vom „breiten und schmalen Weg“ in einer geistreichen und zeitgemäßen Version gestaltet. An einer weiteren steht der „große Tisch des Friedens“, wo einst (1982 bis 1990) Pershing-II-Raketen stationiert waren. An der vorletzten Station ragen zehn Autobahnleitplanken – mit mancherlei Gebrauchsspuren – in den Himmel. Die zehn Gebote sind für Burchard wie Leitplanken, es sind Regeln, die Schutz bieten. Einen solchen Erlebnispfad wünschte ich mir mitten in der Großstadt.

Und sonst? Haben Sie weitere Gedanken, Anmerkungen, Anregungen zur Bedeutung – und vielleicht auch zur Relativierung – diakonischer Orte?
Mit dem Nachdenken über „Care“ als Sorge haben wir begonnen. Sorge muss weiter gedacht werden. Weit über die verletzbaren und hilfebedürftigen Phasen des Lebens hinaus. Sorge umfasst auch alle Bemühungen, die Lebensmöglichkeiten von Tieren und Pflanzen und die natürlichen Grundlagen wie Erde, Luft und Wasser zu pflegen und zu erhalten. Diakonische Orte finden sich in diesem weiten Kontext.

Vielen Dank!

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