Erinnern und Gedenken

Erinnern und Gedenken

Bad Rappenau 25.3.19

1.Eure Toten werden leben

„Eure Toten werden leben“ steht über dem Friedhofseingang in Mönchengladbach-Rheydt. Ich habe diese Inschrift letzte Woche wieder entdeckt, als ich das Grab meiner Großeltern besuchte. Es liegt gleich an der Mauer in der Nähe der Friedhofskapelle – da, wo die Kirchengemeinde schon im 19. Jahrhundert eine Grabstätte für ihre Pfarrer und deren Frauen angelegt hat. Ich liebe diese Grabstätte – die grauen Steine sind alle gleich. Sie unterscheiden sich lediglich durch die Bibelworte, die den Namen und Daten der Verstorbenen hinzugefügt sind. Meist sind es die Konfirmationssprüche, manchmal aber auch ein Motto, ein Wahlwort. „Deinen Zepter will ich küssen“ zum Beispiel. Eine fast vergessene Liedstrophe. Wenn ich an den Gräbern vorbeigehe, habe ich das Gefühl, durch die Bibelworte hindurch etwas zu ahnen vom Leben, vom Charakter der Menschen, die dort liegen. Mir gefällt der Gedanke, dass die ehemaligen Kollegen, Vorgänger und Nachfolger in einem intensiven Bibelgespräch sind – über die Zeiten hinweg.

Die Pfarrgrabstätte ist schon eine besondere Ecke auf diesem Friedhof. Gräber mit Bibelsprüchen sieht man immer seltener. Stattdessen immer mehr Engel, dazu Spiralen, Gingkoblätter und Lotusblumen, aber auch selbstgewählte Sprüche von Rumi oder Hermann Hesse. Die konfessionellen Bindungen lösen sich auf, der Friedhof spiegelt die Individualisierung und zunehmende Vielfalt unserer Gesellschaft. Es gab eine Zeit, da liebte ich es, im Urlaub Friedhöfe zu besuchen: in Österreich sah ich die Fotos der Verstorbenen auf den Grabsteinen – und das Weihrauchgefäß davor Ich denke an die Buchsbaumhecken über den Kiesgräbern im Norden; auch bei uns in der Region Hannover-, an die irischen Kreuze und die Urnengräber in italienischen Mauern. Friedhöfe eingebettet in die jeweilige Kultur. Manchmal auch als Widerspiegelung der gesellschaftlichen Schicht wie die Grabstellen bei uns. Inzwischen lassen wir uns von anderen inspirieren: auch bei uns sieht man jetzt Bilder der Verstorbenen. Familiengrabstätten und Gräfte dagegen sind hierzulande selten geworden; aber noch findet man überall die alten Namen aus der Region – die Beckers und Bresges und Stümpges. Einst prägten sie die evangelische Gemeinde, zu der heute nur noch eine Minderheit in der Stadt gehört, wahrscheinlich sind es nicht viel mehr als die Musliminnen und Muslime, die in den letzten 50 Jahren zugezogen sind. Aber wer, wie ich kürzlich, einem Trauerzug über den Friedhof folgt, taucht noch einmal ein in eine vergangene Welt. Ein Gefühl von Heimat ist spürbar, Geborgenheit in Verlust und Verunsicherung. Dabei ist es nicht nur das Heimatgefühl, das Sicherheit gibt – es ist das Ritual selbst, der Trauerzug, zu dem Verwandte und Freunde gekommen sind. Man kann sich getragen fühlen in der Tradition. Den Weg mitgehen, den viele Generationen vorher gegangen sind.

Als ich in den 89er Jahren Gemeindepfarrerin in Mönchengladbach war, bin ich regelmäßig mit Konfirmandinnen und Konfirmanden auf den Friedhof gegangen. Der alte Friedhofsgärtner führte uns an den Gräbern entlang wie durch eine Totenstadt; erzählte die Geschichten der Verstorbenen als Geschichte der Kleinstadt. Vom reichen Bauern und dem armen Schlucker, aber auch von den Säuglingen, die da begraben waren. Die Jugendlichen hatten Grablichter bemalt oder beklebt und stellten sie am Ende zu einem Menschen, der sie besonders beeindruckt hatte. Wenn die Lichter angezündet waren, wurde sichtbar, wie die Toten in unseren Geschichten weiter leben und wie Tote und Lebende zusammengehören.

Davon ist 30 Jahre später immer weniger zu spüren. Auf dem Friedhof gegenüber unserem Haus, wo meine Eltern begraben sind, werden die Gräber kleiner – die Zahl der Rasengräber und Urnengräber wächst kontinuierlich. Wo die Familien nicht mehr an einem Ort wohnen – und das ist inzwischen der Normalfall – wollen Sterbende die Angehörigen nicht mit Grabpflege belasten. Eine kleine Platte mit Namen und Daten, im Rasen eingelassen, genügt. Auf dem Friedhof wachsen die freien Flächen, die Felder bekommen wieder Raum. In der Nähe ist ein Waldfriedhof entstanden; auch Seebestattungen sind gefragt. Die Friedhofskultur ändert sich rasant. Und sie spiegelt die gesellschaftlichen Veränderungen: Individualisierung, Mobilität, Säkularisierung, religiöse Vielfalt.

Im Land  Bremen ist der so genannte Friedhofszwang inzwischen aufgehoben; was bislang unter der Hand geschah, ist nun auh offiziell erlaubt: Urnen können also auch im eigenen Garten bestattet oder auf den Kamin gestellt werden. Wir kennen das längst aus Filmen und Fernsehserien. Der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf sieht darin einen Gewinn an Freiheit – einengende, bürokratische Normen werden überwunden. Andere dagegen – ich gehöre auch dazu – sehen vor allem einen Verlust an Öffentlichkeit. Wer nicht zu den engsten Angehörigen gehört, hat keinen Zugang mehr zum Bestattungsort. Zugleich allerdings entstehen neue Öffentlichkeiten: Seit den 1990er Jahren gibt es virtuelle Friedhöfe im Netz, dazu digitale Traueranzeigen, wo man einen anteilnehmenden Vers hinterlassen oder eine virtuelle Kerze anzünden kann. Ein Beispiel ist die Gedenkstätte „Lichter der Ewigkeit“ des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge. Und weil weit entfernt lebende Angehörige und Freude oft nicht mehr zur Bestattung kommen können, bieten viele Bestatter in Grossbritanien bereits einen Livestream von der Trauerfeier an.

Kirchengemeinden und auch Landeskirchen machen sich Gedanken darüber, wie Friedhöfe Gemeinschaftsorte bleiben können, auch wenn sie nicht mehr Heimat und Gemeindegeschichte spiegeln. Orte, die Trost geben und etwas erzählen von der Verbindung zwischen Tod und Leben. Wo in den Baumkronen die Vögel singen. Wo Menschen auf einer Bank miteinander reden, Kinder ganz selbstverständlich den Umgang mit dem Tod lernen. Ein Grab pflegen, eine Kerze aufstellen oder auch einen Teddy mitbringen – die Bräuche verändern sich. In den ehemaligen Leichenhallen werden Gesprächsorte eingerichtet – Trauercafés, Begegnungsstätten. Gemeindebusse oder Bürgerbusse fahren Ältere einmal die Woche zum Friedhof. Bänke, manchmal schon abgebaut aus Angst vor Obdachlosen, werden wieder aufgestellt. In der Begegnungsstätte gibt es Kaffee und Kuchen. Kinder dürfen mitfahren und finden am Rand des Friedhofs einen herrlichen Wasserspielplatz. Ein Ort des Lebens, an dem auch die Toten ins Gespräch kommen. Wo auch die ihren Platz haben, die in den Traditionskulturen keinen Platz auf dem Friedhof fanden: Frühgeborene Sternenkinder, Menschen, die sich selbst das Leben genommen haben, Zugewanderte mit einer anderen Religion.

2. Gemeinschaft mit den Toten

Die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller hat sich mit der Solidarität zwischen Leben, Sterbenden und Toten in den unterschiedlichen Religionen beschäftigt. Heute, wo auch das Sterben gemanagt wird, wo der Menschen die Sorge um die toten Körper normalerweise an Dienstleister delegieren, wo Billiganbieter Einfachsärge und Krematorien im nahen Ausland anbieten, wo es anscheinend darum geht, zu entsorgen, was war – heute denkt Birgit Heller über die Traditionen der Totensorge nach. Wie der Leichnam in den unterschiedlichen Kulturen und Religionen gewaschen und gesalbt, gekleidet und bestattet wird – wie Verstorbene und Trauernde bei der Bestattung unterstützt werden, wie die Lebenden mit den Toten Kontakt halten. Sie erzählt von Fährfrauen und Seelenschwestern, von Sitzwachen und Klageweibern und dem Löschen des Herdfeuers, dem Tragen der Totenfahne und dem Brauch, sich das Gesicht zum Zeichen der Trauer mit Asche zu bestreichen.

Traditionell beginnt mit dem Leichenzug die Totenreise – nach alter Vorstellung hat der Verstorbene dabei viele Hindernisse zu überwinden, für die er Unterstützung braucht. Dazu gehört das Überqueren des Totenstroms mit der Münze unter der Zunge – die alten Griechen haben davon erzählt-, aber auch das Fegefeuer unserer mittelalterlichen Tradition, das  übrigens jüngst aus der Dogmatik der katholischen Kirche verschwunden ist. Amulette, Gebete für die Verstorbenen, Seelenmessen sollten auf diesem Weg helfen. Die Trauernden bringen Opfer, damit die Reise gelingt – durch Spenden und Fasten, im Verzicht auf bunte Kleidung, auf Feste und Feiern, Tanzen und laute Musik. Es geht dabei nicht nur um die eigene Trauer, sondern auch um einen Liebesdienst an den Verstorbenen. Die Solidargemeinschaft zwischen Lebenden und Toten zeigt sich ganz äußerlich. Die Lebenden verweilen eine Weile mit den Toten in einer Zwischenwelt; die Zeit steht still. Es ist eine Zeit der Verwandlung, in der auch die Lebenden eine neue Rolle finden müssen – einen neuen Ort in der Welt.

Davon ist in unserer säkularen Kultur auf den ersten Blick nicht viel übrig geblieben. Die katholischen Traditionen wie das Sechswochenamt oder die Seelenmessen sind uns Protestanten ohnehin eher fremd. Noch kommen Angehörige in die Gottesdienste, wenn die Verstorbenen am Folgesonntag oder am Totensonntag abgekündigt werden. Aber auch Trauerkleidung ist – abgesehen von der Bestattung – kaum noch zu sehen. Kaum jemand trägt noch das Jahr über schwarz. Schaut man genauer hin, hat manches aber doch Kontinuität: So taucht das Bild der Reise in Anzeigen und auf Kranzschleifen auf. Filme erzählen von Begegnungen mit Verstorbenen oder vom Allerheiligenfest in Lateinamerika, vom Beschwören der Totengeister in der afrikanischen Community. Fremde Traditionen rufen Vergessenes in Erinnerung und weckt die Sehnsucht nach Bildern, Geschichten und Ritualen – vielleicht gerade, weil das Sterbemanagement so unerträglich nüchtern ist. In Hospizen, Krankenhäusern und Altenheimen werden Aussegnungsrituale wieder selbstverständlicher. Und mehr und mehr Krankenhäuser und Hospize feiern Gedenkgottesdienste, bei denen Kerzen angezündet und die Namen verlesen werden. Mitarbeitende, Angehörige wie Trauerbegleiter spüren noch einmal der Gemeinschaft nach, die sie getragen hat – und viele fühlen sich hier weit mehr geborgen als in der Kirchengemeinde, in der Friedhofskapelle.

Brauchen wir die Toten? Brauchen die Toten uns? Klar ist: Nur auf uns selbst zentriert können wir nicht leben. Die Verstorbenen stellen uns in eine Geschichte, erinnern an unsere Wurzeln – und umgekehrt: solange Menschen sich an uns erinnern, sind wir im Gedächtnis lebendig – auch über unseren Tod hinaus. Wer ganz werden will, Kohärenz finden will, muss sich also früher oder später mit den Verstorbenen auseinandersetzen. Mich hat besonders Nora Krugs Buch „Heimat“ beeindruckt – die Grafic Novel einer Deutschen, die mit einem amerikanischen Juden verheiratet ist und in NY lebt. Weil sie immer wieder auf ihr Deutschsein angesprochen wurde, machte sie sich schließlich auf den Weg in die Heimat ihrer Vorfahren und recherchierte die Geschichte ihres Großvaters – eine ganz normale Mitläufergeschichte aus dem Dritten Reich. Das Buch schildert ihr Aktenstudium, die Familienbesuche, die äußeren und inneren Auseinandersetzungen. Am Ende hat sie neue Verwandte gefunden, sie hat Zugehörigkeit entdeckt, ihre Großeltern in deren Geschichten kennengelernt und schließlich um sie trauern können. So hat sie die Geschichte der Vorfahren in ihre eigene integriert und den beiden mit ihrem Buch ein Denkmal gesetzt.

Tatsächlich gehört das jedem Trauerprozess: Wir müssen mit Verlusten umgehen, die Bilder unserer Verstorbenen klären und bearbeiten. So gewinnen wir am Ende ein neues Bild – von ihnen, aber auch von uns selbst. Seit Beginn der Hospizbewegung vor 50 Jahren haben Psychologen und Psychoanalytiker neu über Trauern nachgedacht. Nicht mehr in religiösen Symbolen, sondern in wissenschaftlicher Expertise, mit empirischer Forschung und Tiefeninterviews. Damals publizierte Elisabeth Kübler-Ross ihr Phasenmodell: Sie hatte erforscht, dass die Menschen, mit denen sie arbeitete, fünf Trauerphasen durchlitten: Nicht-wahrhaben-wollen, Zorn, Verhandeln, Depression, Zustimmung – freilich nicht immer in der gleichen Reihenfolge, manchmal pendelnd oder wie in einer Spirale. Vor 20 Jahren sprach dann Verena Kast von vier grundlegenden Phasen: Nicht-wahrhaben wollen – aufbrechende Emotionen – Suchen und sich trennen – Neuer Selbst- und Weltbezug. Heute geht der Streit um die Frage, welche Bedeutung Loslassen und Bindung im Abschiednehmen haben.

William J. Worden sieht nämlich die Aufgabe nicht mehr darin, sich zu trennen, sondern, eine dauerhafte innere Verbindung zu der verstorbenen Person inmitten des Aufbruchs in ein neues Leben zu finden. Auch für ihn geht es um vier grundlegende Aufgaben der Trauer: Den Verlust anzuerkennen, den Schmerz zu durchleben, sich an die neue Lebenssituation anzupassen und eben inmitten der neuen Realität eine dauerhafte innere Verbindung zu der verstorbenen Person herzustellen. Ziel ist also nicht mehr die grundlegende Ablösung, schon gar nicht das Vergessen und Entsorgen. Es geht vielmehr darum, das Vergangene in die eigene Biographie und in die Gemeinschaft der Lebenden zu integrieren. Ganz so wie in den religiösen Traditionen. Die Römer lebten mit ihren Ahnen – genauso wie die Menschen in Thailand, die an den Geisterhäusern der Verstorbenen Opfer bringen. Und wer schon einmal in einem griechisch- oder russisch-orthodoxen Gottesdienst war, hat die Ikonostase gesehen. Man feiert dort Gottesdienst unter den Bildern der Heiligen, mit der höheren Schar, hätte man früher in evangelischen Gemeinden gesagt. Wo man hierzulande über den Friedhof zur Kirche geht, ist das noch immer räumlich erfahrbar.

Die Verstorbenen in die Gemeinschaft der Lebenden integrieren: Wie kann das heute gelingen in einer Gesellschaft, die sich dauernde Ablösung und Neuanfänge auf die Fahnen geschrieben hat?

3. Den Abschied leben lernen

Tatsächlich beginnt das Abschiednehmen lange vor dem biologischen Tod, in der Regel mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit. Und es reicht noch weit in die Zeit der Lebenden hinein. Denken Sie nur an die Rede vom sozialen Tod oder vom Beziehungstod, vom Ichverlust oder dem Tod durch Vergessen. Ruthmarijke Smeding spricht vom Triptychon der Trauer, im Bild des Flügelaltars also, der in der Passionszeig zugeklappt werden kann und dann zu Ostern wieder zwei Seiten und die Mitte zeigt. Links ein Bild der Trauer vor dem Tod, in der Mitte die Trauer während des Sterbens und rechts die nach dem Tod, die wir normalerweise im Blick haben. Und dabei geht es jedesmal um die Trauer der Sterbenden wie die der Zugehörigen.

Trauern heißt Abschied nehmen von Rollen und Funktionen, von Wünschen und Plänen, von Beziehungen und Lebensfeldern, von Fähigkeiten und dem Gefühl der Unversehrtheit. Das beginnt mit dem Älterwerden und es stellt unsere Identität radikal in Frage. Und denen, die mit uns zusammenleben, geht es genauso.Besonders deutlich wird dasbei einer Demenzerkrankung. Im Abschiednehmen geht es darum, loszulassen, was nicht mehr passt – aber auch, sich bewusst zu machen, was wir in Erinnerung halten wollen. Von uns selbst und von anderen. Noch vor dem Tod geht es darum, Versäumtes zu verabschieden und Verlorenes zu betrauern – Kinderlosigkeit, eine Scheidung, berufliches Scheitern oder der Verlust eines Lebenstraums sind eben nicht einfach „reparierbar“. Es geht darum zu vergeben. Uns selbst und auch anderen. Beziehungen noch einmal anzuschauen und durchzuarbeiten – damit wir in Liebe loslassen können. Und schließlich den roten Faden zu entdecken, den verborgene Sinn, eine neue Perspektive.

Abschied nehmen fängt lange vor dem Sterben an. Mit einer Krankheit, einem Unfall, mit dem Alter, beim Umzug in eine kleinere Wohnung. Vielleicht auch, wenn wir einen Teil des Hauses vermieten. Es beginnt ganz äußerlich mit Aufräumen und Ausmisten. Wir müssen entscheiden, was wir nicht mehr brauchen, nicht mehr können. Abschied nehmen von Büchern und Aufgaben, von Sport und Reisen, von Möbeln und Bildern. Sortieren, was wirklich wichtig ist – und was unserer Seele gut tut. Dinge, mit denen wir gelebt haben, werdn zu Erinnerungsstücken: Fotos, Briefe und Lieblingsbücher. Ein alter Sekretär, ein kleiner Teppich. Nur, was sie wirklich ausmachte, ging mit in das Stift, in dem meine Mutter zuletzt lebte. Und gab reichlich Anlass zum Gespräch mit Fremden und Freunden, die zu Besuch kamen. Wieviel Lebensgeschichten, auch von Eltern und Großeltern, steckten in diesen Möbeln! Erinnern – das heißt eben auch, sich des eigenen Erbes bewußt werden, das Erbe weiter geben. Wir können unsere Angehörigen dabei unterstützen, gute Hinterbliebene zu werden, wenn wir darüber sprechen und ins Licht rücken, was für uns wirklich zählt. Noch immer stehen auf unserem Kamin die Bilder der Großeltern, wie meine Mutter sie gerahmt hatte. In amerikanischen Häusern ersetzt so eine Bildergalerie die oft weit entfernten Gräber. Und wenn ich in meinem Arbeitszimmer an den Bücherregalen meines Vaters sitze, habe ich das Gefühl, im lebendigen Gespräch mit ihm zu sein. Der Friedhof erscheint mir dagegen wie ein toter Ort.

Seit vielen Jahren finden wir in Hospizen Steinhügel, Sterne oder und Rosenbeete mit den Namen der Verstorbenen. Die Aussegnungsfeiern dort sind Angehörigen oft vertrauter als die in der Friedhofshalle. In dem Stift, wo meine Mutter starb, wurden Fotos mit einem Trauerkranz an deren Platz im Speiseraum gestellt. Ein Brauch, der inzwischen auch in Berdigungsgottesdienste übernommen wurde. Andere Altenzentren hängen schwarze Rosetten an den Türen. In meiner Kindheit hingen solche Rosetten noch an den Haustüren mancher Wohnviertel. Es war zu sehen, zu hören, zu spüren, wenn in der Nachbarschaft jemand gestorben war. Die Glocken läuteten, die Trauerzüge zogen von der Kirche zum Friedhof und die Autos hielten selbstverständlich an. Für einen Augenblick stand die Zeit still: Die Männer zogen die Hüte und die Jungen die Mütze ab. Das alles ist aus unseren Stadtvierteln verschwunden. Stattdessen sind die Notarztwagen häufiger zu hören.

Tod und Sterben wurden professionalisiert, institutionalisiert und medikalisiert. Das hat äußere und innere Gründe. Neben dem medizinisch-technischen Fortschritt spielt die Veränderung in den Familien eine Rolle: Die selbstverständliche Teilnahme von Frauen an der Erwerbsgesellschaft, die zunehmende Mobilität und der demographische Wandel haben die Situation grundlegend verändert. Nur noch ein Viertel der erwachsenen Kinder lebt am selben Ort. Es ist schwerer geworden, Beruf und Pflege zu vereinbaren. Familien fühlen sich überfordert, sie brauchen Unterstützung. Die Zahl der Patchworkfamilien ist gewachsen. Was in früheren Generationen festgelegt war, muss heute neu ausgehandelt werden: Traditionen brechen. In unserer zunehmend fragmentierten Gesellschaft verlangt die Zeit der Sterbebegleitung, des Abschiednehmens und Neuordnens ein hohes Maß an Kommunikation und Absprachen. Wann und wo soll die Bestattung sein, wer kann teilnehmen? Welche Art der Bestattung ist gewünscht? Todesanzeigen müssen ausgehandelt werden, manchmal erscheinen einfach mehrere aus einer Familie. Was wird aus der Wohnung, den Erbstücken? Zugleich hat die Dynamik des Alltags zugenommen. Nicht immer gelingt es den Betroffenen, gemeinsame Wege zu finden.

Kein Wunder, dass Dienstleister auch beim Sterben eine immer größere Rolle spielen – wie bei der Hochzeit, wo es inzwischen Hochzeitsmanager gibt, hat sich auch hier ein freier Markt von Rednern und Begleitern entwickelt. Hinzu kommt ein ausgeklügeltes Sterbemanagement – von der Patientenverfügung bis zu den Dienstleistungen des Bestatters. Aber das kann uns nicht vor der Wucht des Todes schützen. Er bleibt die ungeheure Zumutung, die unsere Existenz in Frage stellt. „Das natürliche Ende des Lebens ist in jeder Hinsicht unberechenbar und unvorhersehbar. Er verlangt inmitten der jeweils besonderen Situation die Bereitschaft, sich dem Geschehen offen zu stellen. So merkwürdig es klingt: Kreativität ist gefragt“, schreiben Annelie Keil und Hennig Scherf in ihrem Buch: „Das letzte Tabu – Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen.“ Wie Klaus Dörner gehören sie zur Bewegung der jungen Alten; sie stehen für neue Nachbarschaftsmodelle, Seniorenwohngemeinschaften, Mehrgenerationenhäuser. Sie haben erfahren, wie Wahlfamilien und Sorgende Gemeinschaften beim Abschiednehmen helfen. Aber sie wissen auch: Persönliche Auseinandersetzung ist nötig, Kreativität ist gefragt. Weil immer weniger vorgegeben ist und weil man Trauer nicht delegieren kann. Wir müssen unseren Abschied selbst gestalten. Abschiednehmen braucht biographische und historische Bewusstheit, sagt Annelie Keil. Und Trauer braucht Zeit.

4. Was noch erzählt werden muss

„Was noch erzählt werden muss“, heißt das jüngst erschienen Buch des Magdeburger Krankenhausseelsorgers Hans Bartosch. Die Lebensgeschichten, die darin aufgeschrieben sind, sind Beiträge zur Zeitgeschichte, entstanden aus Gesprächen am Krankenbett. Erzählungen aus den letzten Kriegstagen, von Flucht und Vertreibung, von Nachbarschaft und Verrat. In den Begegnungen wird deutlich, wie kostbar jeder einzelne Beitrag ist, welche Bedeutung die Einzelnen haben. Die meisten, die hier zur Sprache kommen, sind Atheisten oder jedenfalls Agnostiker – aber sie schätzen, dass da einer ist, der genau ihre Geschichte hören will. Als werde sie noch einmal aufgezeichnet in Gottes Buch. Viele Menschen ahnen vielleicht, dass Christinnen und Christen einen Deutungshorizont haben, der über das eigene Leben hinausgeht. Der helfen kann, auch dem einen Ort zu geben, was droht, verloren zu gehen. Ich glaube, wir können darauf vertrauen, dass Gott unserer gedenkt, wie es oft in der Bibel beschrieben ist. Dass Gott unser Leben in seine Hände geschrieben hat und die Puzzleteile zusammenfügt. „Gedenke, Herr“, heißt es in vielen biblischen Gebeten. Dass Gott unserer gedenkt und unsere Identität zusammenhält, davon leben wir.

Henning Scherf erzählt in dem schon zitierten Buch, wie er als junger Zivi eine ganze Nacht an einem Sterbebett saß und eine Lebensbeichte hörte. Es ging über seine Kraft, aber er spürte, dass Zuhören das Beste war, was er tun konnte. Jeder, der das letzte Kapitel des eigenen Lebens bewusst gestalten will, sollte die notwendige Unterstützung bekommen, um die eigene Geschichte zu erzählen, Beziehungen abzuschließen, das eigene Vermächtnis weiter zu geben, und denen, die bleiben, Segen zu hinterlassen. Ich erinnere mich an die alt gewordene Nachbarin, deren Sterben ich als Kind miterlebte. Sie hatte mir noch lange aus den geliebten Pixibüchern vorgelesen und bestrickte meine Puppen. Meine Mutter versorgte sie zusammen mit der Gemeindeschwester. Ich sehe die Girlande aus Wiesenblumen vor mir, die wir knüpften und um ihren Sarg legten – so wie sie mir oft Blumenkränze in die Zöpfe geflochten hatte. Die Sammeltasse, die sie noch im Herbst als Weihnachtsgeschenk für mich kaufen ließ, blieb eine greifbare Erinnerung, als sie schon gegangen war. Am Ende war es ganz selbstverständlich, dass sie zu Hause aufgebahrt war. Damals, in den 50-ern, lebte der Tod noch nebenan. Inzwischen aber scheint es, als kehrte etwas von diesen Kräften zurück.

Heute wagen es manche wieder, ihre Lieben zu Hause aufzubahren. Der Prozess des Abschiednehmens verändert sich, Traditionen erodieren – zugleich aber werden die Rituale wieder persönlicher, individueller und phantasievoller. Immer mehr Menschen gestalten Särge für ihre Lieben, Kinder bemalen das Holz. Manche möchten die Asche an einem geliebten Ort verstreuen. Und andere halten ein Festmahl auf dem Friedhof – unter Bäumen, wo die Vögel singen. Damit das gelingt, müssen Ängste überwunden und Tabus abgebaut werden.

Die Autorin Petra Schuseil hat mit ihrer Freundin Annegret Zander einen Totenhemd-Blog ins Netz gestellt. Da sieht man bunte Hemden an einer Leine hängen und Promis werden interviewt, wie sie sterben möchten. Annegret Zander hat sich eine bunte Patchwork-Totendecke nähen lassen mit all den Symbolen des Lebens, die ihr wichtig waren. Nicht weiß und anonym wie die Hemden der Bestatter, sondern in allen Farben des Regenbogens. Sie hat dabei an ihre kleine Tochter gedacht, die vor dem Tod nicht erschrecken soll. Andere hatten die Idee, aus den T-Shirts, Pullis oder Schlafanzügen verstorbener Eltern eine Puppe zu nähen – etwas Weiches und Vertrautes, an dem das Kind sich festhalten kann. Die Mapapus sind Seelentröster zum Weinen und Ankuscheln. Wer möchte nicht etwas Greifbares mitnehmen von dem Verstorbenen – eine Erinnerung, die ihm heilig ist. So wie einst Schillers Locke aufbewahrt wurde, kann man sich heute eine Haarsträhne in Glas verschließen lassen und als Schmuck tragen. Als Kette oder als Ring.

Schon vor Jahren schickte der Bestatter Fritz Roth seinen Koffer zu Prominenten, damit sie hineinlegten, was sie mitnehmen wollten auf die letzte Reise – und konzipierte damit eine Ausstellung für Gemeindehäuser und Museen. Immer mehr Menschen denken nicht nur über ihr Sterben, sondern auch über ihre Beerdigung nach, gestalten die Todesanzeige und das Fest im Voraus. „Wenn ich die Chance dazu bekomme, möchte ich gern auf meiner eigenen Trauerfeier etwas sagen – per Video, wie das ja längst möglich ist“, schrieb die Journalistin Christine Westermann, die dieses Jahr 70 wird. „Chance heißt, wenn ich bewusst sterben kann. Wenn abzusehen ist, dass mein Leben zu Ende geht. Ich möchte etwas dazu sagen, wie es war, mein Leben zu leben. Meine Pläne für mein Begräbnis sind weit gediehen. Die Musik ist noch ein unsicherer Faktor, sie wechselt von der Fledermausouvertüre über das Trinklied aus La Traviata bis hin zu Eric Claptons „Autumn leaves“ – ein Lied, das mich zu Lebzeiten zu Tränen rührt. Und wenn alle Tränen geweint sind, soll es fröhlich und ausgelassen zu gehen bei meinem Leichenschmaus.“ Heute schreiben auch Eltern Tagebücher, sprechen Videos für ihre Kinder. Gestalten, was sie weitergeben wollen – Fotoalben, Musik, ein Kleidungsstück. Auch darin kehren Traditionen wieder; früher hat man Bibeln oder Gesangbücher mit Widmung weitergegeben.

Wer sich in Seelsorge, Besuchsdienst oder Hospizarbeit engagiert, hat das Privileg, andere Menschen in diesem Prozess zu begleiten. Denn wer einen Sterbenden begleitet, tut auch etwas für sein eigenes Leben. So wie umgekehrt jeder, der seinem Begleiter, der Begleiterin das eigene Leben anvertraut, ihn beschenkt – mit anderen Zeiterfahrungen, ungeahnten Möglichkeiten, ehrlichen Aussagen über Scheitern und Sackgassen. Die letzte Lebensphase bringt einen unschätzbaren Gewinn: ein Reservoir an Erfahrungen und die Möglichkeit, mit Distanz darauf zu schauen. Wenn mich jemand daran teilhaben lässt, kann ich entdecken, was für mich selbst wesentlich ist. Der Liedermacher Martin Buchholz hat die Besucher seiner Konzerte gebeten, Augenblicke des Glücks auf einer Postkarte aufzuschreiben und ihm zu schicken.

Kirchengemeinden können dafür sorgen, dass diese Erfahrungen Raum bekommen – im doppelten Sinne des Wortes. Pfarrerinnen und Pfarrer können daran arbeiten, dass andere Gemeindemitglieder ermutigt werden. Sie können ihr Expertenwissen weitergeben – ganz im Sinne des Priestertums aller Getauften. Dabei helfen ganz praktische Angebote: Erzählcafés zum Beispiel, biographisches Schreiben oder Feste, bei denen das Leben der Älteren im Mittelpunkt steht. Es geht um Räume, in denen Erinnerungen Resonanz erfahren. Ich denke an einen Wochenendworkshop, bei dem Konfirmanden und ihre Großeltern über ihre Konfirmationssprüche ins Gespräch kommen. Oder an ein Jubiläum, bei dem Menschen aus unterschiedlichen Jahrzehnten der Gemeindearbeit berichten Kirchengemeinden haben viele Möglichkeiten, Menschen und ihre Geschichten zu würdigen. Sie sind Erzählgemeinschaften und können sich hochschätzen, Erzählorte in ihrer Mitte zu haben – bis hin zu den Friedhöfen.

Inzwischen entstehen aber auch neue Orte – Gedenkorte an Synagogen, Erinnerungsorte an der Stelle, wo jemand mit dem Motorrad ums Leben kam. Wo Terroristen einen Club überfielen, werden Blumen niedergelegt, Gedenktafeln aufgehängt. Angesichts von Flugzeugunfällen strömen die Menschen zu überfüllten Gottesdiensten. Die öffentliche Trauer hat sich gewandelt; sie bleibt nicht hinter Friedhofsmauern. Das politische Gedenken ist zurück gekehrt. Wir spüren das auch an den Gedenktagen – vom Holocaustgedenken bis zu Martin Luther King.

Aber nicht nur der öffentliche Kalender hält Erinnerungstage bereit – an Heilige, Dichter, historische Gestalten. Auch unsere persönlichen Kalender halten diese Momente des Gedenkens bereit. Die Geburts- und Sterbedaten unserer Eltern, von Freunden und Nachbarn müssen wir kaum eintragen – sie bleiben eingeschrieben in unsere eigene Geschichte. Aber wir können sie sichtbar machen: mit einer Kerze am Foto, einem Eintrag im Internet, mit Blumen auf dem Friedhof. Und auch bei Familienfesten, bei Hochzeiten, Taufen oder Konfirmationen, bleiben die Verstorbenen präsent – in den Reden, den Geschichten oder einfach als schmerzhafte Lücke. Wir bleiben verbunden über den Tod hinaus – eine Gemeinschaft der Lebenden und der Toten, die gemeinsam auf die neue Welt warten. Erzählgemeinschaften, Tischgemeinschaften – Musik gehört genauso dazu wie ein gutes Essen, die Spiele der Kinder wie die Blumen der Nachbarin und die Seelsorge. Aus all dem bildet sich ein gemeinsamer Geist, der uns auch in den Umbrüchen, die wir erleben, Mut machen kann.

Cornelia Coenen-Marx