Selbst-Für-Sorge: Die neue Sorgeethik

1.Tischgemeinschaften als Sorgegemeinschaften

Ein kleines Dorf in Pennsylvania wurde in den 60er Jahren berühmt: Roseto. Das Dorf, das von italienischen Auswanderern gegründet wurde, hatte eine besonders niedrige Sterberate bei den unter 65-jährigen – 30 – 35 Prozent unter dem Durchschnitt. John Bruhn, Mitglied in einem Forscherteam, berichtete, man habe dort keine Selbstmorde gefunden, keinen Alkoholismus, keine Magengeschwüre; die meisten Leute seien einfach an Altersschwäche gestorben. In den nächsten Jahren ging man verschiedenen Hypothesen nach: war es ein besonderes Olivenöl, das so gesund erhielt oder insgesamt eine gesündere Kost? Tatsächlich aber nahmen die Leute dort 41 Prozent Fett zu sich. Lag es an den Genen? Am Trinkwasser, der medizinischen Behandlung in der dortigen Klinik? Keine Hypothese hielt der Forschung stand. Erst in den 70er Jahren kam das Forscherteam zu einem ganz anderen, überraschenden Ergebnis. Damals starb in Roseto der erste junge Mann am Herzinfarkt. Da hatte das Dorf seinen ursprünglichen Charakter verloren; die jungen Leute zogen zur Arbeit raus, man ging nicht mehr regelmäßig zur Kirche oder in den Club, aß abends nicht zusammen auf der Piazza. Im Rückblick zeigte sich: Genau das war das Geheimnis: Wer in eine solidarische Gemeinschaft eingebunden ist, lebt entspannt und vertrauensvoll. Gesundheit hat mindestens drei Dimension: eine körperliche, eine psychische und eine soziale.

Essen und Trinken hält bekanntlich Leib und Seele zusammen. Nicht nur wegen der Nährstoffe und der Energiezufuhr, sondern auch wegen des Austauschs mit anderen und der Gemeinschaft, die stärkt und trägt. Überall entstehen in den letzten Jahren gemeinsame Mittagstische. In Gemeindehäusern treffen sich Ältere einmal die Woche; da wird gemeinsam eingekauft, reihum gekocht, Rezepte werden ausgetauscht und Geschichten erzählt. Und wenn jemand fehlt, fragt bestimmt eine andere nach. Anderswo öffnet die Cafeteria im Altenzentrum für die Kinder der nahegelegenen Tageseinrichtung. In Neukölln kochen Flüchtlinge für Obdachlose. In den interkulturellen Gärten werden Gerichte aus fremden Heimaten serviert. Und in der Schweiz gehören 450 Gruppen zum Tavolata-Netzwerk. Dort wird reihum in den Häusern gekocht und: „Ich weiß nicht, was schöner ist“, sagt Erna Plüss: „Gemeinsam zu planen, zu kochen, einzukaufen und Gäste zu bewirten oder sich als Gast an einen einladenden Tisch zu setzen und das Essen zu genießen.“ Tischgemeinschaft, das ist Geben und Nehmen, Austausch und Zugehörigkeit.

Und so ist es von Anfang an. Schon wenn Babys gestillt werden, erleben sie die intensivsten Momente der Nähe und Zugehörigkeit. Mutter und Kind stehen im Austausch – nicht nur körperlich, sondern auch mit Blicken und Bewegungen. Schon nach kurzer Zeit synchronisiert sich der Herzschlag – selbst dann, wenn Eltern und Kind einander gar nicht berühren, sondern nur ansehen. Der schreiende Säugling kann nicht unterscheiden, ob die Bauchschmerzen, die ihn plagen, Hunger oder Sehnsucht sind. Er spürt nur diese furchtbare, schmerzende Leere. Das „still face“-Experiment von Edward Tronick zeigt eindrücklich, dass Babies auch dann verzweifelt schreien, wenn sie kommunizieren, aber keine Resonanz bekommen. (Youtube)

Marco von Münchhausen, der ein Buch mit dem Titel „Wo die Seele auftankt“[1] geschrieben hat, spricht davon, dass wir auch als Erwachsene solche Momente kennen. Das sind die Momente, wo wir uns etwas gönnen. Wir empfinden ein inneres Vakuum, spüren die tiefe Sehnsucht nach Erfüllung, nach wirklicher Begegnung. Zu uns selbst kommen und neue Kräfte tanken. Uns lebendig fühlen im Austausch mit anderen. Jeder kennt das Gefühl, sich in den täglichen Zerreißproben selbst zu verlieren. Vor lauter Anforderungen, vor lauter To-dos in Beruf, Familie, Nachbarschaft die innere Mitte zu verlieren. Wir funktionieren, aber wir spüren uns nicht mehr – es sei denn mit Kopf- oder Rückenschmerzen. Wir finden keine Resonanz; und Hartmut Rosa hat eindrücklich beschrieben, dass die dauernde Erreichbarkeit und Verfügbarkeit das Problem verstärkt hat. Die Zeitstruktur steht unter Dauerspannung. Übergaben und Teambesprechungen fallen aus, weil doch alles im PC dokumentiert ist.

Momente der Leere, während das Hamsterrad sich zugleich immer schneller dreht. Und die Sehnsucht nach Entschleunigung, die damit einhergeht. Was dagegen hilft, hat mit unseren leiblichen und sozialen Rhythmen zu tun: Spazieren gehen statt Auto fahren, selbst kochen und gemeinsam essen. Oder auch nur eine Viertelstunde auf die Matte gehen, Stille erleben, im Atmen zur Ruhe kommen, die Mitte stärken, die alles tragen muss.

Tu Deinem Leib Gutes, damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Theresa von Avila, eine spanische Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert, verstand den Leib als Tempel der Seele. Gebaut aus dem gleichen Stoff wie die Welt, in der wir leben. Aus Erde gemacht, wie die Bibel erzählt – und lebendig, weil der Atem Gottes auch in uns atmet und durch unsere Körper fließt. Der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin spricht von der verleiblichten Seele. Welche Rolle unser Leib spielt, wird im Zeitalter der Digitalisierung neu zum Thema. Die Journalistin Elisabeth von Thadden hat gerade ein Buch mit dem Titel „Die berührungslose Gesellschaft“ geschrieben. Sie erzählt von Jugendlichen, deren bester Freund das Smartphone ist, von einsamen Älteren und dem Boom der Wellnesshotels. Und ich denke an free hugs auf unseren Straßen und die Tischgemeinschaften, die überall entstehen.

„Der moderne Individualismus steht nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel, einen Mangel an Ritualen“, schreibt Richard Sennett in seinem Buch über Zusammenarbeit. „Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt.“ Rituale haben „Zauberkraft“: sie können eine Gemeinschaft in Umbrüchen stärken, sie können eine schwierige Situation in einen neuen Rahmen stellen und alle Beteiligten wieder an den gemeinsamen Werten auszurichten. Rituale können in wenigen Minuten entschleunigen und erden. Fast immer haben sie mit sinnlichen Erfahrungen zu tun: mit einem Klang oder Duft, einer Berührung, einer Geste. Das gilt für persönliche Rituale wie die morgendliche Joggingrunde, die Tasse grünen Tee, die Lieblingsmusik auf dem Weg nach Hause oder das Dankbarkeitstagebuch. Aber auch für das kurze Blitzlicht im Team oder den kleinen Schoko-Osterhasen, der morgens am Schreibtisch liegt.

2. Du sollst nicht funktionieren

Auch der Buddhismus kennt die Idee, dass der Körper Tempel der Seele ist und dass in unserem Atem eine andere Energie lebt. Sie fließt durch die Meridiane, sie sammelt sich in den Chakren – und diese Bewegung der inneren Energien ist mit dem Energiefluss und den Rhythmen der Außenwelt durch den Atem verbunden. An unserem Atem spüren wir Druck und Enge, im bewussten Atmen lösen sich aber auch Verkrampfungen. Erfahrungen verleiblichen sich – wir sprechen heute von Embodiment. Wer einen anderen berührt, rührt damit an Erfahrungen, die sich tief in den Körper eingeprägt haben. Der Körper antwortet auf Berührung wie auf ein Gespräch.

Ich bin mein Leib. Mein Gang, meine Haltung, meine Verletzungen und Schmerzen erzählen von meiner Lebensgeschichte. Wer mit einer Behinderung lebt, weiß, in welchem Maße dieser Leib auch unsere soziale Biographie, die Beziehungen und Berufswege bestimmen kann. Ich kenne aber auch Menschen, die andere ihre Behinderung einfach vergessen lassen. Denn wir können uns auch von körperlichen Erfahrungen distanzieren, uns über Körperbilder hinweg setzen. Ich bin Leib, aber ich habe eben auch einen Körper. Ich kann an meinem Körper arbeiten, ihn gestalten, in der Bewegung neue Kraft und meine Energie gewinnen. Jedes Sportstudio zeigt, wie Menschen sich darum bemühen. In ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“ erzählt Ariadne von Schirach[2] von Stresskörpern und Fitnessleibern und von den Best Agern, die das Älterwerden wie eine lästige Krankheit verdrängen. Wie wir über unseren Körper kommunizieren, ihn anderen präsentieren, liegt es nahe, ihn stark zu machen und aufzuhübschen, um unsere Chancen im Beruf und im Privaten zu verbessern. Wir fliehen vor der Endlichkeit, meint von Schirach; dabei wäre es besser, sich den Tod zum Verbündeten zu machen. Und auch der Körper ist ein Verbündeter, wenn er mal Macken hat und uns zum Beispiel eine Erkältung präsentiert, wenn wir sie überhaupt nicht brauchen können. Wer den eigenen Körper für pausenlos überholungsbedürftig hält, verliert das Gefühl für sich selbst – eine Grundbedingung, sich in andere einfühlen zu können. Der Psychologe David Richo spricht von einfühlsamer Präsens: Aufmerksamkeit, Annahme, Wertschätzung, Zuneigung und Zulassen. Diese Qualitäten sind notwendig, um Mitgefühl zu entwickeln – mit anderen und auch mit mir selbst. Selbstsorge beginnt mit Selbstmitgefühl.

Es scheint so, als ob wir in der Diakonie vor lauter Fürsorge die Selbstsorge vergessen haben? Haben Selbstvergessenheit, Pflichtbewusstsein und Disziplin dem Funktionieren den Boden bereitet? In jedem Fall hat Max Webers protestantische Arbeitsethik auch in der sozialen Arbeit nicht Halt gemacht. Dass Fürsorge ohne Selbstsorge nicht nachhaltig ist, ist uns erst in den letzten Jahrzehnten bewusst geworden. Dazu brauchte es Kritiker wie Wolfgang Schmidtbauer mit seinen Untersuchungen über die „Hilfslosen Helfer“, die Erfahrungen von Burnout und schließlich die Berufsflucht aus den Pflegeberufen. Rückenprobleme, psychische Erkrankungen.

Franziskus von Assisi spricht vom Leib als dem Bruder Esel. Damit erinnert er an die alte Geschichte von Bileam[3], dem biblischen Propheten, der mit seinem Esel unterwegs ist. Plötzlich bleibt der Esel stehen. Bileam gibt ihm einen Klaps, er brüllt den Esel an, schließlich prügelt er ihn, aber der Esel steht – alle Hufe fest am Boden. Denn im Unterschied zu Bileam sieht er den Engel, der ihnen den Weg versperrt. Ein Warnsignal – die beiden sind auf Abwegen. Bileams Esel ist nicht einfach nur störrisch, er nimmt mehr wahr als der Prophet selbst. So, sagt Franz von Assisi, sei es mit unserem Leib, dem Bruder Esel. Der sei oft klüger als unser Kopf mit all seinen Plänen. Er sieht die Grenzen, die Gefahren auf unserem Weg. Und sendet Warnsignale. Ich kann das nur bestätigen.

Wenn und solange unser Körper funktioniert, solange wir uns bei einer sinnvollen Aufgabe selbst vergessen können, solange die Energie reicht, um unseren Projekten nachzugehen, denken wir nicht viel darüber nach. Der Philosoph Hans Georg Gadamer hat von Gesundheit als dem selbstvergessenen Weggegebensein an das Leben gesprochen. Erst wenn die ersten „Warnsignalen des Körpers“[4] sich bemerkbar machen, wenn der Körper schlapp macht oder wenn wir krank werden, spüren wir, dass unser Leib eben mehr ist als ein verfügbares Instrument. Plötzlich geht es wieder um uns selbst, um unseren Lebensstil, unsere Motivation und unsere Kraftquellen, um den Sinn unserer Arbeit. Allerdings dauert es meist eine Weile, bis wir begreifen, dass eine Krankheit so etwas ist wie die Kehrseite unseres Alltags. Zuerst mal tun wir so, als sei die Krankheit uns einfach nur zugelaufen wie eine fremde Katze. Die Grippe, der wiederkehrende Infekt, die Entzündung. Wir hoffen, dass sie sich bald verzieht, wie sie gekommen ist. Und machen weiter wie gehabt.

„Ich fürchte, dass Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr siehst und deshalb Deine Stirn verhärtest; dass Du Dich nach und nach des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst. Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem du nicht landen willst. Du fragst an welchen Punkt? An den Punkt, wo das Herz anfängt, hart zu werden. Frage nicht weiter, was damit gemeint sei: wenn Du jetzt nicht erschrickst, ist Dein Herz schon so weit“, heißt es in einem Brief von Bernhard von Clairvaux. Nicht an irgendwen, sondern an einen Papst, Papst Eugen III.[5]

Inzwischen haben wir eine Reihe von Möglichkeiten, uns Freiräume zu schaffen. Vom Homeoffice über Jahresarbeitszeitkonten bis zum Sabbatjahr. Dazu gehört die Bereitschaft, loszulassen und andere ans Ruder zu lassen. Das lässt sich im Alltag einüben – mit regelmäßigen Pausen, Momenten des Innehaltens, ausreichend Schlaf. Neinsagen und Grenzen setzen. Das gelingt nur, wenn wir uns selbst, unseren Körper und unsere Gesundheit respektieren. Uns wertschätzen, wie wir andere wertschätzen. Uns selbst wie unseren Nächsten lieben.

Der Philosoph und Politikwissenschaftler Matthew Crawford, der mit den widersprüchlichen Anforderungen in dem Thinktank, in dem er arbeitete, nicht mehr zurecht kam, kündigte und eröffnete eine Motorradwerkstatt. Aus seiner Sicht ist es entscheidend, dass Arbeit uns in einer Wertegemeinschaft verankert. Was ich tue, sagt er, muss Teil eines umfassenderen Bedeutungskreises sein – es soll dem Leben dienen. Ich arbeite nur mit Menschen, denen es genauso geht. Dieses Bewusstsein, das gar nicht ausgesprochen werden muss, konstituiert unser Team. Wir stehen in einer Art „tätigem Gespräch“ miteinander – und durch dieses Gespräch kann die Arbeit unser Leben zu einem in sich schlüssigen Ganzen machen. Das entlastet uns allerdings nicht von der Eigenverantwortung. Matthew Crawford musste kündigen, bevor er diese Teamerfahrung machte.

3. Gesundheit und die starke Mitte

„Die Arbeit ist für viele Menschen der Ort, an dem sie sich selbst verwirklichen möchten – und zugleich der Ort, an dem die Auswirkungen von Beschleunigung, Rationalisierung und Globalisierung großen Druck ausüben. Die Anpassung an diese Bedingungen fordert Reflexion und Verantwortung. Zum einen müssen wir unseren Referenzwert, die Orientierungskoordinaten für unser Leben ständig überprüfen, zum anderen müssen wir Aufmerksamkeit für die Gefahr der Erschöpfung entwickeln“, schreiben Unger und Kleinschmidt in ihrem Buch „Bevor der Job krank macht“.[6]

Ich denke an ein Schaubild, dass Studentinnen der Pflege- und Gesundheitswissenschaft in einem Ethikseminar entwickelt hatten. Es ging um die Werte der Organisation und die Werte der Personen. Auf dem Plakat sah man oben die Leitung mit ihren Erwartungen an die Mitarbeitenden – Leistung, Einsatz, Qualitätsmanagement, Loyalitätserwartungen. Unten die Kunden mit ihren Erwartungen an gute Pflege, Akzeptanz ihrer jeweiligen Biografie und ihrer persönlichen Werte. Und dazwischen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – zwischen Kassen und Kunden. Eine der Studentinnen hatte das Gefühl, nur noch Handlangerin ethischer Entscheidungen zu sein, die sie selbst so gar nicht getroffen hätte. Eine andere hatte sich komplett ohnmächtig gefühlt, als der zuständige Hausarzt den Missbrauch nicht anzeigen wollte, den sie zur Sprache gebracht hatte.

Die meisten Teilnehmenden in diesem Seminar waren Musliminnen. Ihre Werte waren ihnen wichtig für die eigene Arbeit – im Blick auf Altern und Sterben, Religion und Geschlechterrollen. Aber sie hatten bis dahin wenig Gelegenheit gehabt, aus ihrer eigenen Haltung heraus auf ihre Arbeit zu schauen und das auch zu formulieren. Meist gab es schon fertige Leitbilder und Ziele, an die sie sich anpassen sollten.

„Entspricht meine Arbeit noch meinen persönlichen Werten und Zielen? Achte ich gerade genug auf mich selbst, meine Rhythmen und Körpersignale? Wie verantwortlich und wertschätzend bin ich mir selbst und mir wichtigen anderen Menschen gegenüber?“ Unger und Kleinschmidt, die sich damit beschäftigt haben, was gute Arbeit ausmacht, empfehlen, sich regelmäßig Auszeiten zu nehmen, um sich solche Fragen zu stellen. Es geht um eine furchtlose Inventur, wie wir sie aus der Suchtkrankenhilfe kennen; ein Coaching oder eine Supervision können dabei hilfreich sein. Vielleicht auch einfach eine Zeit am Tage, in der wir die Stille auf uns wirken lassen.

Soziale Arbeit ist immer auch Beziehungsarbeit. Sie kann nur gelingen, wenn Sie sich mit ihrer Person einlassen können, ihre Sensibilität und Professionalität, ihre Menschlichkeit und Fachlichkeit, die eigenen Grenzen und Widersprüche einbringen in ihren Dienst. Mit anderen Worten: Diakonische Arbeit ist eben nicht einfach Dienstleistung, sondern immer Koproduktion. Dienstleistung wird nach Zeit berechnet. Und weil Zeit in den sozialen Diensten das teuerste Gut ist – wird, wo immer möglich, an Zeit gespart. Damit werden die „Resonanzflächen“ geringer und die Möglichkeiten, sich einzufühlen und Feedback im Alltag aufzunehmen, schwinden. Außerdem kommt es zu einer wachsenden Spreizung von Qualifikationen und Einkommen: Einfache Tätigkeiten werden outgesourcet, Fachdienste oft teuer eingekauft und Mitarbeiter ohne weitere Zusatzqualifikationen möglichst flexibel eingesetzt. Teams werden immer neu gemischt, einzelne Module und Dienstleistungen im Case Management aneinandergereiht – die Beziehungen geraten in Zerreißproben und werden brüchig.[7] Wer Hilfebedürftige nur noch ein kleines Stück auf dem Weg begleiten kann und nicht mehr sieht, wie es weiter geht, wer sich immer neu einlassen und schnell wieder abgeben muss, verliert das Kostbarste, was diese Berufe ausmacht: die Erfahrung, wie Begegnungen Menschen heilen und verändern.

Eine neue Ethik der Sorge ist also mehr als notwendig. Mit dem Begriff „Sorge“ – einem Versuch, das englische Care zu übersetzen problematisiert die feministische Theorie die Dominanz einer ökonomisierten Sichtweise im Sozial- und Gesundheitswesen, die den Menschen zum bloßen Kunden und Empfänger von Dienstleistungen macht. „Sorge“ steht für alle Beziehungs- und Zuwendungsarbeit privater wie professioneller Natur, für das grundlegende, umfassende Für-einander-da sein, wie wir es in den Tischgemeinschaften und Caring Communities erleben.

Ein Forschungsprojekt des Instituts für Diakoniemanagement in Bethel zu den Merkmalen diakonischer Kultur zeigt: Es geht um die Qualität der Arbeit, den Umgang mit ökonomischen Herausforderungen, die bewusste Wahrnehmung von Führung. Aber für die Mitarbeitenden geht es zentral um Zeitgestaltung am Arbeitsplatz, im Umgang mit Klienten, aber auch in Pausen und bei Festen. Und um Fehlerfreundlichkeit – also um eine Kultur, in der keiner wie ein Roboter funktionieren muss. Wenn diakonischer Anspruch und gelebte Wirklichkeit in einem eklatanten Widerspruch stehen, dann wächst die Burnout Gefährdung, steigen die Fehltage. Dann wird es Zeit, wieder neu zu klären, was wir mit unserer Arbeit erreichen, wofür wir uns einsetzen wollen, was uns heilig ist. Wir schließen ja nicht nur Verträge mit unserem Arbeitgeber, sondern in gewisser Weise auch mit uns selber, wenn wir einen Beruf wählen, einen Job beginnen.

4. Und was ist Ihre Berufung – oder die Suche nach Sinn (Work is not a job)

„Wann haben Sie zuletzt aus tiefster Überzeugung heraus geliebt, was Sie tun? Kompromisslos, begeistert, enthusiastisch?“ Das fragen Anja Förster und Peter Kreuz in ihrem Buch „Hört auf zu arbeiten! Eine Anstiftung zu tun, was wirklich zählt“. Dabei geht es nicht um den Ruhestand, auch nicht um die vielbeschworene Work-Life-Balance, sondern um eine lohnende Aufgabe, die Freude macht, unsere besten Kräfte herausfordert und unserer Berufung entspricht.

In den letzten Jahren ist das Thema Berufung wieder wichtiger geworden. In einer Welt, in der wir Jobs und Positionen, Wohnorte, Familien und Freundeskreise oft mehrfach im Leben wechseln, fragen sich viele, was der Sinn ihres Lebens ist, was sie an Unverwechselbarem einzubringen haben und wofür sie gebraucht werden. Es geht darum, etwas zu finden, was unseren Einsatz und unsere Hingabe lohnt.

Der moderne Arbeitnehmer soll flexibel, mobil und jederzeit verfügbar sein wie seine Produkte. Das ist in Diakonie und Kirche nicht anders als in Banken und anderen Dienstleistungsunternehmen. Auch Diakonie fragt nach Input und Output, nach Effektivität und Effizienz, macht Gewinn- und Verlustrechnungen auf. So haben die allermeisten gelernt, das professionelle Handeln von ihrer Motivation und auch von ihren Gefühlen abzuspalten. „Professionalisierung, Effektivität und Effizienz heißt immer auch Vereisung“, sagt der Ethiker Andreas Heller. Wo dauernd Budgets und Ziele verglichen werden, zählt am Ende Konkurrenz mehr als Kooperation. Und wer nicht mehr mit einem festen Einkommen rechnen kann, weil er von Zeitvertrag zu Zeitvertrag lebt, lässt sich möglicherweise nicht mehr wirklich ein – auf einen beruflichen Kontext ebenso wenig wie auf einen Wohnort. Vielleicht stehen Familie und Freundschaft, aber auch Nachbarschaftsinitiativen, freiwilliges Engagement und Gemeinwohl gerade deshalb so hoch im Kurs, weil wir spüren, wie viel Kälte in der Funktionalisierung steckt, wie wenig Nachhaltigkeit in der bloßen Marktlogik. Kein Wunder also, dass wieder nach Berufung gefragt wird.

Den Zusammenhang zwischen Beruf und Berufung hat vor allem Martin Luther hervorgehoben. Er sah in den unterschiedlichsten Tätigkeiten – vom Bauer bis zum Handwerker, von der Hausfrau bis zum Soldaten – „Berufe“, weil er Menschen sah, die sich dazu „berufen“ wussten; die einen tieferen Sinn in ihrer Arbeit fanden und damit dem Ganzen dienen wollten. Vielleicht ist das schwieriger geworden in unserer Welt, in der viele mehrere Berufe und Jobs in ihrem Leben haben. Vielleicht aber auch einfacher. Denn kein Mann muss mehr den Beruf seines Vaters ergreifen und die Firma seiner Eltern fortführen. Und Frauen können auch ohne Mutterschaft ein erfülltes Leben führen. Wir sind frei, unsere ganz eigene Berufung zu entdecken, einen eigenen Weg zu gehen – mit Scheitern und Neuanfängen und unterschiedlichen Lebensabschnitten. Es geht nur um eins: dass wir leben, wachsen und mit unseren Gaben dem Leben dienen.

Wer keine Chance mehr sieht, den eigenen Anspruch im Berufsalltag zu verwirklichen, wer sich nicht gewürdigt sieht mit seiner Biographie, mit dem, was er einzubringen hat, geht vielleicht in die innere Kündigung. Besser: er oder sie macht sich äußerlich auf den Weg – wechselt die Stelle, bildet sich weiter, spezialisiert sich. Andere reduzieren die Erwerbsarbeit, um mehr Zeit für die Familie zu haben, oder machen sich selbständig – mit einem Kinderhospiz, einem Jugendhilfeprojekt. Eine Berliner Lehrerin gründete ein Theaterprojekt mit Migrantinnen und Migranten. Andere suchen neben dem Beruf ein ehrenamtliches Standbein, einen Ort, an dem sie ihre Berufung leben können: eine Imkerei vielleicht, ein Theaterprojekt, eine Yogaschule.

Dass Arbeit mehr ist als nur ein Job, dass sie mit Passion, Begegnung, Kreativität – eben mit Sinnsuche – zu tun hat, das wird zur Zeit vor allem in der Szene der Gründer, Freiberuflichen und Künstler neu entdeckt. „Work is not a job“, heißt ein kürzlich erschienenes Buch von Catharina Bruns. Sie versteht Arbeit als Umwandlung von Energie, als unseren Selbstausdruck in der Welt, ein Gestaltungselement mit persönlicher, aber auch mit gesellschaftlicher Dimension. „Ist es zu viel verlangt, sich in dem, was man den ganzen Tag tut, wiederfinden zu wollen“ fragt sie. Wer seine Arbeit nur als Job verstehe, der sortiere am Ende alles nach Arbeitszeiten und Zuständigkeiten. Und suche dann die Work-Life-Balance in dem, was vom Leben übrig bleibt. Wer aber seine Arbeit als Berufung verstehe, der engagiere sich für die Rahmenbedingungen und kämpfe darum, dass die eigene Arbeit im Einklang mit den persönlichen Begabungen und Interessen bleibe.

5. „Dienet dem Herrn mit Freuden oder Wo bleibt der Spaß

Tu deinem Leib Gutes, damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Das Wort von Theresa von Avila erinnert daran, wie wichtig es ist, uns die Lebensfreude zu erhalten – gerade dann, wenn uns die Sorge für andere belastet. Deswegen gefällt es mir eigentlich sehr gut, wenn über manchem Mutterhaus der Diakonie zu lesen ist: „Dienet dem Herrn mit Freuden“. Die Diakonissen, für die das einmal geschrieben wurde, wussten, dass sie Rückzugszeiten brauchten, um sich neu an ihre Kraftquellen anzuschließen, sich vielleicht auch neu zu orientieren. „Einkehrtage“ nannte man das damals. „Auftanken“ würden wir vielleicht sagen.

Alles fängt damit an, dass wir unsere Ressourcen kennen, uns über unsere Energiegeber klar sind. Das ist für jeden unterschiedlich. Musik hören oder besser noch Musik machen – viele Filme erzählen, wie ein Chor Menschen verändern kann. Die eigene Stimme hören, die Lebendigkeit des Körpers wahrnehmen. Unter grünen Baumdächern walken und beobachten, wie das Licht die Farben verändert. Beim Tiefseetauchen ganz neue Welten entdecken. Sich bewegen und die Kraft im eigenen Körper spüren, seine Lebendigkeit wahrnehmen. Oder Lesen und in eine andere Welt versinken; neulich erschien ein Buch über Romane als Therapie. Und lachen! Lachen entspannt und bringt unsere Energie zum Fließen. Kinder lachen übrigens im Schnitt etwa 400-mal täglich, Erwachsene nur noch 15 mal – vielleicht, weil wir uns immer ein bisschen kindisch vorkommen, wenn wir uns begeistern. Lachyoga-Kurse sind ein guter Anfang. Und die Seminare in Eckart von Hirschhausens Stiftung „Humor hilft heilen“, zu denen er Mitarbeitende in Krankenhäusern einlädt – seit 10 Jahren mittlerweile.

Aber auch aufräumen kann befreien, Gartenarbeit kann erden und das Engagement für andere kann uns spüren lassen, dass es Freude macht, da zu sein. Horst Krämer, der ein Buch über Soforthilfe bei Stress und Burnout geschrieben hat[8], sagt, wir fänden am besten aus Belastungssituationen heraus, wenn wir wieder spüren, dass wir die Lust und die Kraft haben, Ziele zu erreichen, uns selbst und unsere Umwelt zu verändern. Abhängen und sich verwöhnen lassen genügt also nicht, wenn wir uns leer und kraftlos fühlen. Letztlich kommt es darauf an, unseren Alltag neu zu gestalten, eine neue Balance zu finden zwischen Anspannung und Entspannung. Zwischen Fürsorge und Selbstsorge. Energiegeber in den Alltag einbauen – vom genussvollen Essen bis zum Joggen am Morgen. Und vielleicht auch ganz neue Talente zu entdecken. Herausforderungen, an denen wachsen können, auf der einen Seite und stabile Beziehungen auf der anderen – das sei das Geheimnis eines erfüllten Lebens, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther. Also: ab und mal raus aus der Box – es muss ja nicht gleich Bungeejumping sein.

5. Auf den eigenen Atem achten – und in Beziehung bleiben

Wir bleiben Beziehungswesen – auch wenn wir herauswachsen aus der Symbiose von Mutter und Kind, die am Anfang unsere Sehnsucht stillt – letztlich sind wir in jedem Alter auf Anerkennung und das Wohlwollen anderer angewiesen. Der Wirtschaftstheoretiker Adam Smith hat diesen Gedanken in seiner Theorie der ethischen Gefühle für die moderne Wirtschaft herausgearbeitet. „In einer zivilisierten Gesellschaft ist der Mensch ständig und in hohem Maße auf die Mitarbeit und Hilfe anderer angewiesen. Doch reicht sein ganzes Leben gerade aus, um die Freundschaft des einen oder anderen zu gewinnen…“.

Trotz oder wegen wachsender Agilität und Flexibilitätserwartungen spielen Kolleginnen und Kollegen eine wichtige Rolle. Wir sind darauf angewiesen, dass Informationen fließen, dass wir Rückmeldungen bekommen und geben können, dass wir uns einmischen können, wenn unsere Arbeit sich verändert. Da ist es wichtig, zu wissen, wem wir vertrauen können. Angesichts der Zeit, die Menschen am Arbeitsplatz verbringen, angesichts der Tatsache, dass viele Paare pendeln und sich nur am Wochenende sehen, bleiben Kolleginnen und Kollegen wichtige Partner und werden oft zu Freunden, zu Frollegen.

Theodor Fliedner, der Gründer von Kaiserswerth, hatte klare Kriterien, wann er seine Diakonissen aus einem Krankenhaus zurückzog. Dabei ging es um Qualität und Ethik der Pflege, es ging aber auch um die Gesundheit der Schwestern, dass sie Urlaub und dass sie Zeit genug zur Erholung hatten. Was für Klienten wichtig ist, das brauchen Mitarbeitende genauso: Wir alle brauchen tragfähige Netze, inspirierende Begegnungen, den Austausch untereinander, und Orte, an denen man sich gern aufhält. Wir brauchen Zeit, uns gut zu versorgen, eine Aufgabe, die uns fordert, das Gefühl, unser Leben gestalten zu können und eine Gemeinschaft, in der wir Zugehörigkeit erfahren.

Ein Einführungskurs, ein Ethikzirkel, aber auch ein Fachtag geben die Chance, uns klar zu machen, wo wir stehen und wohin wir unterwegs sind. In Gruppengesprächen, beim gemeinsamen Essen, im Plenum entsteht ein Resonanzraum, der über den Augenblick hinausweist, unsere Rollen überschreitet und unsere Gefühle einbezieht. Das macht Lust, zusammen zu arbeiten. Weil auch die Seele ihren Platz wieder findet. Das alles gilt es zu pflegen, damit der Spirit sozialer Arbeit erhalten bleibt.

Sie sind dazu ausgebildet, auf die Bedürfnisse anderer zu achten und für sie zu sorgen. Vielleicht gehört dazu auch die Hoffnung, dass von den Menschen, denen wir Zuwendung geben, etwas zurückkommt. Wenn die Resonanz fehlt, führt das manchmal dazu, dass wir noch mehr tun und uns selbst vergessen. Bis eben nichts mehr geht. Wenn es soweit ist, dann gibt es nur eines: Da anfangen, wo der Schmerz sitzt – bei der Wut, der Enttäuschung. Sich die uneingestanden Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu machen. Und wirklich zu begreifen, dass wir uns zuerst selbst gut tun müssen.

„Bitte ziehen Sie zuerst die Atemmaske zu sich herunter und helfen Sie dann Kindern, Schwächeren, Ihren Nachbarn“, erklären die Flugbegleiter, bevor wir abheben. Am vergangenen Samstag habe ich das gerade wieder erlebt – da saß auf der anderen Seite am Fenster eine blinde Frau. „Bitte fassen Sie die Atemmaske einmal vorher an“, erklärte die Stewardess, damit Sie wissen, wie sie sich anfühlt, wenn sie runterfällt. „Und dann achten Sie bitte darauf, dass sie sie hier befestigt“, erklärte sie weiter – jetzt zu ihrer Begleiterin. „Nicht über uns ohne uns“, dachte ich, während das Gespräch weiterging. Der Zusammenhang zwischen Selbstsorge und Empowerment wurde greifbar deutlich. Ganz bewusst für uns selbst zu sorgen, ehe wir uns anderen zuwenden, das müssen wir vielleicht auch in der sozialen Arbeit wieder lernen. Ein Lehrbuch zur Thaimassage fiel mir ein, das ich vor Jahren aus Bangkok mitgebracht habe. Es zeigt die Gesten und Haltungen der Vorbereitung: Reinigungsgesten, Gebetsgesten. Und ich dachte an die regelmäßigen Gebetszeiten in den Klöstern, die ganz selbstverständlich die Arbeit unterbrachen. Auch das waren Gelegenheiten, die Gedanken zu klären. Es ist hundertfünfzig Jahre her, dass der Elisabethorden in München mit seinen Geldgebern darüber stritt, ob diese Gebetszeiten und die gemeinsamen Mahlzeiten zur Arbeit gehören oder nicht. Wir wissen, wie der Streit ausging.

6. Beseelte Orte

Die Psychoanalytikerin Ingrid Riedel[9] hat ein Buch geschrieben, in dem sie ihre Seelenorte vorstellt. Die Tempelanlage der Erdmutter auf Malta kommt da vor, das Kloster der Hildegard von Bingen auf dem Disibodenberg, das Labyrinth in Chartres, das Meditationszentrum Neumühle. Kraftorte, die – wie sie schreibt, in ihrer stimmigen Ganzheit das Gefühl von Ganzheit in ihr selbst geweckt haben. „Woher mag es kommen, dass wir in den letzten Jahrzehnten in breiten Kreisen eine solche Faszination durch beseelte Orte erfahren?“, fragt Ingrid Riedel. Sie meint, es müsse mit einer Art von Heimweh zu tun haben, das viele ergreift. In einer Welt, die sich rasch verändert und uns hin und hertreibt, suchen wir Wurzeln, die über unsere einzelnen Projekte, Lebensabschnitte, ja, über unsere individuelle Geschichte hinausreichen. Orte eben, in denen unsere Seele zu Hause sein kann wie in einem größeren Leib.

Als ich das Buch vor einigen Jahren gelesen habe, begann ich ganz unwillkürlich meine eigene Liste der beseelten Orte hinzu zu fügen. Das 400 Jahre alte Fachwerkhaus, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, die Klagemauer in Jerusalem, und auch die Kaiserswerther Diakonie, die mir ja eigentlich ein Arbeitsort war. Wer durch die alten diakonischen Gründungsorte wie Bethel, die Karlshöhe hier in Ludwigsburg oder das Rauhe Haus geht, der erspürt schon in der Anlage der Häuser und Friedhöfe, in den Bibelworten und Bildern an den Wänden eine faszinierende Verbindung von Innen und Außen, von Spiritualität und sozialem Engagement. In Kaiserswerth gehört auch die Natur dazu: die alte Zeder, die Fliedner aus dem Libanon mitgebracht hat, die Apfelplantagen, die von der Gartenbauschule übrig geblieben sind. Das alles zusammen macht den Zauber aus – es ist der Zauber längst vergangener Zeiten.

Die Schönheit und der Zauber der alten diakonischen Einrichtungen sollten die Prozesse des Zu-sich-selbst-Kommens unterstützen. Seit den 80er Jahren hatten die Ökonomisierungsprozesse im Sozialen dazu verführt, Räume zu funktionalisieren. Im Wettbewerb um die günstigsten Pflegesätze wurden die schönen Gründerzeithäuser zu groß, die Parkpflege unbezahlbar und die gemeinsamen Tischzeiten schwanden. Nun aber kehrt hier und da etwas davon zurück. Ob Haus der Stille oder Mehrgenerationenhaus, ob Familienzentrum oder Obdachlosen-Café – Plätze entstehen, wo man freundlich empfangen wird, gemeinsam essen und reden und auch Gäste einladen kann. Meditative Labyrinthe und Cafés werden neu entdeckt und gebaut. Gemeinsame Mittagstische und Vesperkirchen haben wieder Konjunktur. Wo sind die Räume, in denen Sie loslassen und zu sich selbst kommen? Wo sie sich zurückziehen, reden und feiern können? Stehen da Obst und Wasser für Sie bereit? Etwas anderes, was Ihnen gut tut?

Mir hilft auch eine Erfahrung von Theresa von Aquila: die innere Burg. Oder – wie es die Hypnotherapeuten sagen: die innere Kapelle. Es tut gut, in Stille und Meditation, irgendwo im Grünen oder auf einer Yogamatte, den Ort aufzusuchen, an dem meine Seele zur Ruhe kommt. Dieser Raum ist immer da – wir tragen ihn in uns. Meiner ist eine Bergwiese. Vielfältig bunt, mit dem Summen von Grillen. Am Rand steht eine alte Holzbank auf der ich liege und lese. Ein Steinbrunnen mit Bergwasser plätschert. Ich liege da und lese, mehr noch – ich schaue in den Himmel. Nichts fehlt mir. Der Himmel sorgt für mich. Wie für die Spatzen und den Klatschmohn, hat Jesus mal gesagt. Ein wunderbarer Gedanke. Ich fühle mich leicht. Für einen Augenblick sind Innen und Außen eins. Ich atme tief und tanke auf.

Cornelia Coenen-Marx, Ludwigsburg 14.5.19


[1] Marco von Münchhausen, Wo die Seele auftankt, Frankfurt 2004

[2] Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren – Für eine neue Lebenskunst, München 2014

[3] 4. Mose 22, 21 ff.

[4] Vgl. z.B. Volker Fintelmann, Marcela Ullmann, Warnsignale des Körpers, Beschwerden von Körper und Seele ganzheitlich verstehen, München 2004

[5] Zitiert nach Anselm Grün, Buch der Lebenskunst, Freiburg 2002

[6] Unger, Hans-Peter/ Kleinschmidt, Carola: Bevor der Job krank macht, München 2006.

[7] Vgl. die Überlegungen von Hartmut Rosa zu „Beschleunigung. Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Berlin 2005 – und seitdem vielfältige Aufsätze und Texte zu Resonanz und Beschleunigung vom gleichen Autor

[8]Horst Krämer, Soforthilfe bei Stress und Burn-out, München 2010

[9] Ingrid Riedel, Beseelte Orte, Stuttgart 2001