Liebe Schwestern und Brüder,

Haben Sie schon mal von Roseto gehört? Das ist ein kleines Dorf in Pennsylvania, das in den 60er Jahren berühmt wurde. Roseto war von italienischen Auswanderer gegründet wurden und es hatte damals eine besonders niedrige Sterberate bei den unter 65-jährigen – 30 – 35 Prozent unter dem Durchschnitt. John Bruhn, Mitglied in einem Forscherteam, berichtete, man habe dort keine Selbstmorde gefunden, keinen Alkoholismus, keine Magengeschwüre; die meisten Leute seien einfach an Altersschwäche gestorben. In den nächsten Jahren ging man verschiedenen Hypothesen nach: war es ein besonderes Olivenöl, das so gesund erhielt oder insgesamt eine gesündere Kost? Tatsächlich aber nahmen die Leute dort 41 Prozent Fett zu sich. Lag es an den Genen? Am Trinkwasser, der medizinischen Behandlung in der dortigen Klinik? Keine Hypothese hielt der Forschung stand. Erst in den 70er Jahren kam das Forscherteam zu einem ganz anderen, überraschenden Ergebnis. Damals starb in Roseto der erste junge Mann am Herzinfarkt. Da hatte das Dorf seinen ursprünglichen Charakter verloren; die jungen Leute zogen zur Arbeit raus, man ging nicht mehr regelmäßig zur Kirche oder in den Club, aß abends nicht zusammen auf der Piazza. Im Rückblick zeigte sich: Genau das war das Geheimnis.

Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. Aber die Energie, die dabei entsteht, kommt nicht nur aus den Nährstoffen, sie stammt auch aus dem Austausch mit anderen. Gemeinschaft macht stark! Das ist der Grund, weshalb Tischgemeinschaften Konjunktur haben. In Gemeindehäusern treffen sich Ältere einmal die Woche; da wird gemeinsam eingekauft, reihum gekocht, Rezepte werden ausgetauscht und Geschichten erzählt. Und wenn jemand fehlt, fragt bestimmt eine andere nach. Anderswo öffnet die Cafeteria im Altenzentrum für die Kinder der nahegelegenen Tageseinrichtung. Und in der Schweiz gehören 450 Gruppen zum Tavolata-Netzwerk. Dort wird reihum in den Häusern gekocht und: „Ich weiß nicht, was schöner ist“, sagt Erna Plüss: „Gemeinsam zu planen, zu kochen, einzukaufen und Gäste zu bewirten oder sich als Gast an einen einladenden Tisch zu setzen und das Essen zu genießen.“ Drei Sätze sollte jeder im Leben einmal hören, sagte mir kürzlich ein Freund: Der erste heißt: „Ich liebe Dich“. Der zweite: „Ich vergebe Dir“. Und der dritte: „Das Essen ist fertig!“

Tischgemeinschaft, das ist Geben und Nehmen, Austausch und Zugehörigkeit. Nur selbstverständlich, das ist sie eben nicht mehr. Wir sind alle Bürger von Roseto. Die familiären Netze dünnen aus; das Leben verändert sich rasant. Und auch die Nachbarschaften verändern sich – angestammte Mieter müssen ausziehen, andere ziehen in die dann schick sanierten Viertel. Ladenzeilen verschwinden und auf den Straßen hört man andere Sprachen.

Jeder zehnte Deutsche gibt an, dass er sich einsam fühlt. Und es sind nicht nur die über 60-jährigen, sondern auch besonders viele junge Leute zwischen 20 und 30. In Großbritannien hat man schon ein Ministerium gegen Einsamkeit geschaffen. Und in Hildesheim, Fulda und Zürich machen sich Menschen aus dem Kirchenvorstand auf den Weg durch ihr Viertel, treffen andere und schauen, was sie gemeinsam mit anderen tun können. Für Asylsuchende im Quartier. Für Menschen, die Gemeinschaft suchen. Für Leute, die Unterstützung brauchen, um sich in ihrem Lebensumfeld heimisch zu fühlen. Es geht nicht um volle Kirchenbänke. Es geht um das volle Leben. Und das findet sich auch vor der Kirchentür“, sagt Martin Piller.

So fängt es immer an. So war es ja auch in Jerusalem. Am Anfang steht der pfingstliche Sturm, der die Gemeinde aus den festen Mauern auf die Plätze der Stadt treibt. Und das Sprachenwunder, das nicht nur Sprachgrenzen überschreitet. Die Bibel zählt die Volksgruppen auf, die damals in der Stadt waren. All die fremden Namen: Parther und Meder und Elamiter, Menschen aus Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, aus Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene… – und viele mehr. Von überall her sind sie in die Stadt gekommen, um das Wochenfest zu feiern. Aber jetzt spricht Petrus von Jesus, von seiner Auferstehung und von Gottes Geist, der alles neu macht. Die Stadt und ihre Menschen. Die Bibel, wie Menschen sich begeistern ließen und Feuer fingen. Und es blieb nicht bei diesem einen Event. Das Fest ging weiter – im Alltag.

Apg 2  42 Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet“, heißt es. „Und alle, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. 45 Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. 46 Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen 47 und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.“

Das stärkste Symbol der Jerusalemer Gemeinde ist die Tischgemeinschaft. Jeder sollte satt werden – egal, wo er herkam, egal, ob er ein eigenes Einkommen hatte oder nicht. Die Gemeinde war bunt zusammengewürfelt – Juden aus Palästina, aus Kleinasien und Griechenland, Wohlhabende wie Tagelöhner und auch die Witwen, die vollkommen abhängig von Hilfe waren. Heute würde man von einer sorgenden Gemeinschaft sprechen – man sorgte füreinander als wäre die Gemeinde eine Großfamilie. Normalerweise gingen Witwen nämlich in ihre Herkunftsfamilien zurück, schließlich konnten sich Frauen nicht selbst versorgen. Der neue Glaube aber hatte sie aus ihren Familien herausgelöst – und so wurde die Gemeinde ihre Wahlfamilie. Von Schwestern und Brüdern war jetzt die Rede. Von Vätern und Müttern im Glauben.

Dass der Jerusalemer Jude aus der Rabbinerfamilie und die griechische Witwe jetzt Geschwister sein sollten – das ging nicht von heute auf morgen in die Köpfe. Herkunft, Milieu und Sprache spielen eben doch eine große Rolle in den Gemeinden. Damals wie heute. Die griechischen Witwen saßen also ganz unten am Tisch – und kamen oft zu kurz. Frauen, Alte, Fremde…. sie wurden schlicht übersehen. Und wer sind die Unsichtbaren in unseren Gemeinden? Die Demenzkranken vielleicht und ihre Angehörigen? Die vielen Pflegenden, die seit Jahren zu Hause gebunden sind? Alleinerziehende? Eine Untersuchung zeigt, dass die Taufquote in dieser Gruppe besonders gering ist – sie haben das Gefühl, nicht wirklich dazu zu gehören. Nehmen wir das hin?

Apg. 6: Damals erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. 2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. 3 Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. 4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. 5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. 6 Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf.

Diese Geschichte gilt als Ursprungslegende der Diakonie. Endlich sind Leute da, die sich um die Übersehenen kümmern können – das Problem ist delegiert. Und darin steckt eine große Gefahr. Am Ende sitzen die Armen dann nicht mehr am gemeinsamen Tisch, sondern an der Tafel. Und die es sich leisten können, teilen nicht wirklich, sondern geben vom Überfluss. Aber so war es damals nicht. Denn die Namen der Diakone, die hier ausdrücklich genannt werden, zeigen: ausnahmslos alle sind Griechen. Und bei Stephanus, dem ersten in der Reihe, wird ausdrücklich sein Glaube betont – nicht sein Organisationstalent oder seine Dienstbereitschaft. Stephanus, das ist ja derjenige, der kurz darauf wegen seiner begeisternden Predigten zum Märtyrer wird!

Nein, Diakonie und Kirche werden hier gerade nicht getrennt – die ganze Gemeinde verändert ihre Perspektive. Die Übersehenen treten ins Rampenlicht und die Schweigenden bekommen eine Stimme. Die Caring Community wird zugleich eine enabling Community, eine, die auch die Gaben der Übersehenen entdeckt. So ist es bis heute: die Diakonie kann den Kirchengemeinden helfen, wieder wahrzunehmen und zu verstehen, was in ihrer Nachbarschaft geschieht – in den von Armut betroffenen Familien, in den Häusern, in denen gepflegt wird oder wo Menschen von Obdachlosigkeit bedroht sind. Diakonie kann Wege aufzeigen, mit diesen Nöten umzugehen, sich zu engagieren und Lobbyarbeit zu leisten. Aber letztlich kommt es darauf an, dass die Gemeinde sich öffnet. Für die Notlagen anderer, für einen ehrlichen Umgang mit den eigenen Nöten.

„Gemeinden sind heilige Orte, an denen sich Menschen frei und offen begegnen und austauschen können, anstatt eine Rolle spielen zu müssen“, sagt Beate Jakob. Wo Menschen sich nicht als stark und als „Sieger“ präsentieren müssen, sondern auch einmal ihre Schwachheit und Hilfsbedürftigkeit benennen dürfen. Dadurch wächst das Bewusstsein, nicht eine Gemeinschaft von Starken zu sein, sondern von Un-Perfekten, die alle auf Gottes Gnade angewiesen sind.“ Wenn wir gleich miteinander zum Tisch des Herrn gehen und Abendmahl feiern, dann lassen wir uns daran erinnern. Wir leben von Gottes Gnade wie vom täglichen Brot. Und wir haben genug davon, andere glücklich zu machen. Amen.

Predigt 14.06.2019, Christuskirche Velbert