„Zwischen Schlafsack und Nadelstreifen – Kirche sein in einer zerrissenen Gesellschaft“

  1. Der Kampf um Zugehörigkeit

„Sagt es laut, sagt es klar, wir sind alle unteilbar„: Fast eine Viertelmillion demonstrierten im vergangenen Oktober am Alexanderplatz für eine offene und freie Gesellschaft. Das Motto: Solidarität statt Ausgrenzung. „Unteilbar“ – das war der Name des Bündnisses gegen die sichtbare Spaltung unserer Gesellschaft. Gegen rechte Hetze, das Flüchtlingssterben im Mittelmeer und Kürzungen im Sozialsystem. Auf drei Szenarien will ich den Spot richten.

Ein erstes Blitzlicht: Die Essener Tafel. „Solange Deutsche zur Tafel gehen müssen, haben Flüchtlinge da nichts zu suchen“. Die Entscheidung der Essener Tafel, Geflüchtete vorübergehend auszuschließen, machte die Konkurrenz ganz unten zum öffentlichen Thema: Rentnerinnen, Hartz-4-Empfänger, Familien in Armut und Geflüchtete. Alles Menschen, die sich jeden Morgen fragen, wie sie den Tag überstehen. Die die Scham überwinden müssen, sich anzustellen, ihren Ausweis zu zeigen, ein Second-Hand-Leben zu leben. Die um ihre Würde kämpfen – oft gegeneinander statt miteinander. Der Streit um die Essener Tafel hat gezeigt: Es gibt nicht nur den Riss zwischen oben und unten, sondern auch den zwischen Drinnen und Draußen. „Nicht die Flüchtlinge verursachen Probleme, sondern eine verfehlte Sozialpolitik“, sagt Barbara Eschen, zurzeit Sprecherin der nationalen Armutskonfererenz.

Sind die Tafeln die „Suppenküchen“ unserer Zeit? Kann gut sein. Diakonische Vereine ergriffen im 19. Jahrhundert die Initiative, als die große Transformation Familien wie Kommunen überforderte – sie schufen Armenküchen, Kindergärten, Pflegeheime, Rettungshäuser. Es dauerte bis zum Ende des Jahrhunderts, bis nationale soziale Sicherungssysteme geschaffen wurden. Wer erfahren musste, dass sein Leben durch Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit in die Brüche ging, der sollte sich auf die Solidargemeinschaft verlassen können. Dabei ging es nicht nur um Geld – es ging um das Gefühl, auch dann noch dazu zu gehören, wenn man auf Hilfe angewiesen war. Dieses Grundgefühl scheint zu zerbrechen. 250.000 neue Millionäre gab es letztes Jahr in Deutschland; zugleich hat sich die Zahl der Menschen, die trotz Arbeit auf ALG II angewiesen sind, verdoppelt. Was muss geschehen, damit sich die Abgehängten wieder zugehörig fühlen? Als der Streit um die Tafel eskalierte, forderte die Nationale Armutskonferenz, die Regelsätze für Hartz IV, Grundsicherung und Asylbewerberleistungsgesetz um 30 Prozent zu erhöhen. Damit würden sieben Millionen Menschen etwa 100 bis 150 Euro im Monat mehr erhalten. Darum ist es schon wieder still. Hartnäckig hält sich dagegen ein Zauberwort: „Bedingungsloses Grundeinkommen“ – die Lösung der Sozialsysteme vom unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erwerbseinkommen. Es geht um eine grundlegende Reform der Sozialen Sicherungssysteme.

Ein zweites Blitzlicht: „Ausspekuliert“. Unter diesem Motto demonstrierten mehr als 10.000 Menschen in München, Frankfurt und Berlin gegen den Wohnwahnsinn. Lange Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen, Wucherpreise und Entmietung. Studierende, die in der Uni campen. Rentnerinnen, die sich ihre Wohnung nicht mehr leisten können, wenn der Partner ins Heim muss oder stirbt. Rund 37.000 Wohnungslose leben allein in Berlin, fast ein Viertel davon mit Kindern. Viermal so viele wie noch 2014. Gleichzeitig stehen Luxuswohnungen leer, weil sie als Wertanlage und Spekulationsobjekt genutzt werden. Und Städte, die wie gelähmt sind, weil sie Wohnungsbestände veräußert haben. Allein die Firma Vonovia hat im letzten Jahr 1,1 Milliarden Euro Gewinn gemacht. 54 Prozent der Deutschen sind Mieter – und viele haben das Gefühl, dass etwas ins Rutschen gekommen ist.

1,5 Millionen neue Wohnungen sollen nach dem Willen der Bundesregierung gebaut werden. Das wird dauern. Vorläufig werden Genossenschaftsprojekte gegründet. Manche schützen sich mit dem Mietshäusersyndikat. Das Motto „ausspekuliert“ ist eine Mahnung: Der Grund und Boden, auf dem wir leben, ist mehr ist als eine Geldanlage. „Alles Eigentum und aller Reichtum müssen in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit und zum Fortschritt der Menschheit verantwortungsvoll verwendet werden“, heißt es in der allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten, die Helmut Schmidt 1997 zusammen mit Shimon Perez, Franz Vranitzky und anderen veröffentlicht hat.

Ein Zauberwort in diesem Zusammenhang: „Gemischte Quartiere“. Auch hier geht es um das Gefühl, dazu zu gehören – Teil der Stadtgesellschaft zu sein. Aber nicht nur die Wohnsituation verändert sich; seit dem Dieselskandal diskutieren wir auch die Infrastruktur und die Verkehrswende. Und mit der Digitalisierung das Ladensterben. Während in ehemaligen Parkhäusern neue Wohnungen entstehen, regt Ina Prätorius an, die leeren Verkaufsflächen zu kommerzfreien Treffpunkten zu machen: Tauschläden, Quartiersläden, Begegnungszentren. Gerade Menschen, die kaum privaten Lebensraum haben, brauchen öffentliche Orte in der Stadt, frei zugängliche Flussufer, offene Kirchen und Bänke auf dem Marktplatz. Wo neue Wohnquartiere entstehen, leisten Quartiersmanager gute Arbeit. Aber selten gelingt es, alle an einen Tisch zu bringen – von den Wohnungsbaugesellschaften über den Einzelhandel bis zu Wohngenossenschaften, den Trägern der Wohlfahrtspflege und den Kirchengemeinden.

Der dritte Spot: Ein Fernsehstudio. Erinnern Sie sich an Alexander Jörde? Das war der Gesundheits- und Krankenpfleger, der Angela Merkel in der Wahlarena auf den Pflegenotstand ansprach. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sagte er, „aber sie ist bedroht“. Bei denen, die gepflegt werden und bei denen, die pflegen.

1,5 Mio. Menschen werden nach wie vor von Angehörigen gepflegt – neun Jahre im Schnitt; bei steigendem Armutsrisiko. Oft mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes. Das sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege, die am schlechtesten bezahlt werden. In Hannover drohen Diakonie und Caritas gerade damit, dieses Feld aufzugeben. Dabei werden die familiären Netze brüchiger, 43 Prozent der Älteren leben in Einpersonenhaushalten. Osteuropäische Haushaltshilfen sind der Geheimtipp, wenn die Angehörigen zu weit weg wohnen: 600.000 sind es zurzeit. Wo die sozialstaatlichen Konzepte versagen, wird die Sorgearbeit wieder privatisiert und familiarisiert. Die Kämpfe unserer Tage sind Sorgekämpfe, die das Ende der neoliberalen Hoffnungen markieren: Es geht um Ernährung, Wohnen, Pflege, Mobilität.

Bei den Älteren wächst die Sorge, dass niemand mehr für einen sorgt, wenn man sich selbst nicht mehr versorgen kann. Und bei den Jüngeren nimmt das Vertrauen in die Stabilität und Nachhaltigkeit der Sozialen Sicherungssysteme ab. Vor meinem inneren Auge sehe ich ein paar hunderttausend Menschen auf einer Demo, mit Rollstuhl und Rollator. Aber diese Demo lässt auf sich warten. Diese Spaltung unserer Gesellschaft bleibt unsichtbar: Die Spaltung zwischen denen, deren Leben sich um Erwerbstätigkeit dreht und denen die Sorgearbeit leisten – erziehen, pflegen.

Das Zauberwort hier: „Caring Communitys“. Sorgende Gemeinschaften, Nachbarschaftsnetzwerke, in denen die Sorge neu verteilt wird. Netzwerke gegen die Einsamkeit – mit Familien, Nachbarn, Dienstleistern, zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen. Immerhin 25 Prozent engagieren sich schon heute in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten, Kinderbetreuung – und es sind mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. Die wechselseitigen Unterstützungsleistungen, sagen die Interviewten, verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Engagement und Vertrauen schaffen ein Gefühl von Zugehörigkeit, ein Netzwerk gegen die Einsamkeit. „Wo Vertrauen ist, ist Heimat“, sagt Henning Vieregge. Wo aber überforderte Kommunen keine finanziellen Spielräume mehr haben, Erwerbstätige unter dauernder Verfügbarkeit leiden, Familien zwischen den verschiedenen Zeitregimes zerrieben werden, stößt das Ideal an Grenzen. Die Ökonomisierung ist längst in die Familien vorgedrungen.

  1. Heimat- Der Ort, wo das WIR Bedeutung bekommt

„Die Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein WIR gegen DIE… Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst erschaffen, der Ort, an dem das Wir Bedeutung bekommt. Ein Ort, der uns verbindet, über die Mauern unserer Lebenswelten hinweg – den braucht unsere Demokratie“, so F.W. Steinmeier am 3.10.17.

Bedingungsloses Grundeinkommen, Gemischte Quartiere, Sorgende Gemeinschaften – die Zauberworte zeigen: Es geht um Zugehörigkeit und soziale Sicherheit. Wer über ein gut geknüpftes soziales Netz verfügt, wer eine stabile Familie, ehemalige Kolleginnen, Vereinskameraden und Freunde am Ort hat, der kann Herausforderungen mit Gelassenheit begegnen. Aber viele fühlen sich allein gelassen und überfordert. Es gibt inzwischen eine Art „heimatlosen Antikapitalismus“, der zu Abgrenzung und Unsicherheiten führt und zum Treiber der rechts-populistischen Bewegungen wird, sagt Heinz Bude.

Schrumpfende Regionen zeigen, wie Heimat erodiert: Junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, die häufig Wohneigentum haben, das sich kaum noch verkaufen lässt. Paare leben aus beruflichen Gründen die Woche über getrennt; wo Kinder in der Familie leben, sind es dann häufig die Mütter, die bleiben. Mobilität, Freiheit, Selbstverwirklichung lassen sich offenbar am besten in einer Singlegesellschaft leben. Aber Menschen, die häufig umziehen oder auch pendeln, verlieren die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Und das Zerbrechen der hergebrachten sozialen Bezüge ist nicht nur eine emotionale Herausforderung. Familien mit kleinen Kindern, auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags besonders unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Tatsächlich lebt nur noch ein Viertel der erwachsenen Kinder am Wohnort der Eltern.

Die Nachbarschaften verändern sich aber auch, weil Menschen von anderswoher zuziehen – vom Land in die Städte, aus den Städten in den Speckgürtel, als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge. Manche, wie die Einwanderer der 60er Jahre, gehören seit Generationen dazu; und dennoch hat sich noch nicht überall ein echtes Miteinander entwickelt. Wo viele leben, die von Transfereinkommen abhängen, wächst die Angst vor dem Verlust des „Eigenen“ – des eigenen Arbeitsplatzes, der eigenen Kultur, der gewohnten Nachbarschaft. Nicht nur Arme, Obdachlose und ältere Pflegebedürftige, sondern auch Menschen mit Behinderung, Migranten und Alleinerziehende erfahren eine subtile Form sozialer Ausgrenzung, wenn sie vor allem als Hilfebedürftige und nicht als Bereicherung wahrgenommen werden. Das gilt auch zwischen West und Ost.

„Die pluralistische Gesellschaft ist in Gefahr, eine fragmentierte Gesellschaft zu werden“, schrieb Udo di Fabio schon vor 6 Jahren. Seit langem ist von Parallelgesellschaften die Rede. Der Soziologe Andreas Reckwitz geht einen Schritt weiter; er spricht von der Gesellschaft der Singularitäten. Die Schubladen passen nicht mehr – auch nicht im Blick auf Parallelgesellschaften. Es gibt aufgestiegene Migranten, abgestiegene Deutsche, Männer, die ihre Familien versorgen, gleichgeschlechtliche Ehen – mit wachsender Vielfalt wächst auch Verunsicherung, wächst das Gefühl des Fremdseins. Offenbar geht es darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem Begegnungen mit anderen möglich sind. Kann Digitalisierung dazu beitragen? Nebenan.de hatte letztes Jahr bereits 850.000 Nutzer 2018 – monatlich kommen 40.000- 50.000 dazu. Am Tag des Nachbarn hat Diakonie Deutschland zusammen mit der Plattform zu Nachbarschaftsfesten, Wohnzimmerkonzerten, Radtouren aufgerufen. Zu ungezwungenen Begegnungen, die Zugehörigkeit stärken. Es geht ganz real um Quartiersentwicklung und den Schutz von Gemeingütern. Ein Beispiel ist die Neugestaltung des Nelson-Mandela-Parks in Bremen: Kirche und Moscheegemeinde, ein Hotel und die Bewohner einer Anlage für Menschen mit Behinderung engagierten sich gemeinsam. Obdachlose wurden genauso befragt wie Schülerinnen und Schüler.

Wie passt nun eigentlich das Thema Beheimatung zu unserem Auftrag als Christen? Schließlich heißt es zwar beim Exilpropheten „Suchet der Stadt Bestes“ – inzwischen eine Art Leitwort der Gemeinwesendiakonie -, aber im Neuen Testament steht eben auch: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“. Wir sind also nur Gäste auf der Erde, Fremde in der Heimat. Aber vielleicht ist es ja gerade das: Wer sich nicht so tief im Heutigen verwurzelt, wer sich nicht um das „Eigene“ sorgen muss, kann gelassener mir Veränderungen umgehen, offener auf Fremde zugehen und gemeinsam – in aller Vorläufigkeit, Heimat gestalten. Neugierig auf das, was von Gott auf uns zukommt. Die neue Stadt, das neue Jerusalem.

  1. Kommunen und Caring Communitys

Aber das Gefälle wächst – auch zwischen boomenden und schrumpfenden Regionen, Städten und Stadtteilen. Die enormen Transferleistungen in strukturschwachen Regionen, die Folgen des demographischen Wandels und die Notwendigkeit, die Tageseinrichtungen für Kinder auszubauen, haben vielen Kommunen die Möglichkeit genommen, eigene Prioritäten zu setzen. Die Orientierung an den wettbewerblichen Strukturen verändert das Verhältnis zwischen Bürgern, Dienstleistern und Kommunen. In der Dienstleistungsgesellschaft werden alle zu Kunden. Die großen Demonstrationen, zeigen eine Gegenbewegung: Bürgerinnen und Bürger wollen als politische Subjekte wahrgenommen werden. Auf der Suche nach der Stadt, zu der ich „Wir“ sagen kann.

Auf diesem Hintergrund wurde in den letzten Jahren das Quartier wiederentdeckt – der Raum, in dem Menschen sich selbstverständlich begegnen – in Einkaufszentren, bei Ärzten, in Tageseinrichtungen und Schulen und Sportvereinen. Um Bürgerbeteiligung zu organisieren, genügt es nicht, eine Plattform zu installieren – weder digital noch analog. Untersuchungen von Martina Wegner aus München zeigen, dass sich auf diese Weise immer nur die gleichen beteiligen: die hochengagierte Mittelschicht mit ihren eigenen Interessen. Wenn wir die erreichen wollen, die ihre Rechte nicht selbstverständlich wahrnehmen, sind intermediäre Organisationen nötig: Schulen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Parteien. Genau die sind aber in den letzten Jahren auf dem Rückzug – von den Bezirksverwaltungen bis zu den Pfarreien. Wie kann es unter diesen Rahmenbedingungen gelingen, gute Orte zu schaffen – oder genauer: die Bedingungen und Befähigung zu einem guten Leben vor Ort? Entscheidend ist, alle Träger – öffentliche wie private – mit den Engagierten zusammen zu bringen – wie zum Beispiel beim „Sorgenden Bezirk Treptow/Köpenick“.

Wer bestimmte Zielgruppen unterstützen will – Demenzkranke, Menschen mit Behinderung, Geflüchtete, Pflegebedürftige oder Familien in Armut – der muss alle Akteure an Bord holen, die Angebote verknüpfen und Engagierte, Mieter, Betroffene beteiligen. Es genügt nämlich nicht, Rechte zu haben – wir brauchen auch Informationen, die Kraft, Forderungen zu stellen und Menschen, die uns zuhören und uns unterstützen. Welcome-Projekte, alternsgerechte und demenzfreundliche Städte, Inklusionquartiere, die soziale Stadt und compassionate Cities „leben von einem Ineinandergreifen unterschiedlicher Hilfen. Segmentierte Hilfen sind zu überwinden, es muss in wohlfahrtspluralistische Hilfearrangements investiert werden.“ heißt es im 7.Altenbericht. Wenn wir Kommunen nicht nur als Wirtschaftsstandorte, sondern als Ort des guten Lebens begreifen wollen, dann sind sie auf soziale Investitionen angewiesen. Wo der Busverkehr eingestellt ist, Schule und Kindergarten nicht mehr vor Ort sind, wo sich kein Arzt mehr niederlassen will, fehlt es eben auch an tragfähigen Säulen für das zivilgesellschaftliche Engagement.

„Es kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Selbstorganisation von Bürgern und Bürgerinnen, etwa in der organisierten Nachbarschaftshilfe, aber auch in Seniorengenossenschaften und in Bürgervereinen ohne Hilfe „von außen“ auskommt. Vielmehr benötigen solche Formen der Selbstorganisation in der Regel Anstöße, Förderung und Unterstützung auch durch die Kommune“, heißt es im 7. Altenbericht. Als „Sparmodell“ ist die aktive Bürgergesellschaft nicht geeignet, auch wenn sich immer mehr Menschen engagieren und der Einsatz Ehrenamtlicher gesellschaftlich hoch willkommen ist. Hospizarbeit und ambulante Pflege rechnen mit diesen Diensten. Von der Demenzbegleitung bis zur Integration von Flüchtlingen werden Engagierte mit Übungsleiterpauschale oder 450-Euro-Jobs eingesetzt.

Sabine Pleschberger von der Universität Graz untersucht zurzeit informelle außerfamiliäre Hilfen in der Pflege. Dabei zeigt sich: Der soziale Nahraum, der sich durch individuelle Hilfen, durch Nähe, Freiwilligkeit, Wechselseitigkeit auszeichnet, braucht die Ergänzung durch bedarfsorientierte, qualifizierte und organisierte Hilfesysteme. Entscheidend wird sein, beides in der je eigenen Dignität und Logik zu begreifen. Die Förderung „Sorgender Gemeinschaften“ muss eingebettet sein in Sorgestrukturen und ein breit angelegtes Kommunalentwicklungsprogramm. Der Tafelstreit Streit in Essen zeigt: Ehrenamtliche Tätigkeiten dürfen sozialgesetzlich geforderte Aufgaben nicht ersetzen. Sie sind aber unverzichtbar, um die Gesellschaft für Probleme zu sensibilisieren.

Vielleicht haben die Erfahrungen in der Flüchtlingskrise dazu neue Anstöße gegeben. Das Engagement in der Flüchtlingshilfe sei „nicht länger als bloße Zutat zu verstehen, sondern als ein Schlüsselfaktor bei der Bewältigung der dringlichsten Anforderungen“, meint Adalbert Evers. Die Grenzziehungen zwischen Professionellen und Engagierten verwischten. Die Dynamik der Situation erlaubte keine Abgrenzung – auch nicht zwischen den Trägern. Laut einer Allensbach – Untersuchung zum Engagement in der Flüchtlingshilfe vom April 2017 arbeiteten 40 Prozent der Engagierten in Gruppen, die sich ausschließlich zu diesem Zweck gegründet haben – ohne Rechtsform, mit flachen Hierarchien und einem hohen Maß an Beteiligungsmöglichkeiten, 23 Prozent haben sich auf eigene Faust und außerhalb aller Institutionen engagiert. Es dominierten junge Leute zwischen 20 und 30 – und sie organisierten sich nicht zuletzt über die neuen Medien. Wie zuvor schon Hospiz- und Tafelbewegung stellten sie die traditionellen Wohlfahrtsstrukturen in Frage. Gleichwohl: inzwischen haben sich runde Tische gebildet, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Parteien sind einbezogen. Aber, so Wolfgang Picken in seinem Buch „WIR“, in Bad Godesberg hat es drei Jahre gedauert, bis der Runde Tisch in die Bezirksvertretung eingeladen wurde, obwohl die Arbeit der Engagierten auf die Informationen angewiesen war. Es fehlt an Respekt.

  1. Qualifiziert fürs Quartier

Nach dem großen Brand in Hamburg, 1846, konzipierte Johann Hinrich Wichern ein Wohnungsbauprogramm. Eine Art Gehöft mit 150 und 200 Wohnungen – in der Mitte eine Schule. Wie wichtig Bildung als Schlüssel zur Teilhabe ist, das hatte er mit der Sonntagsschularbeit selbst erlebt. Genauso wesentlich war ihm aber eine funktionierende Nachbarschaft und Zivilgesellschaft. Deshalb sollten sich die Bürgerinnen und Bürger in einem Kranken- und Begräbnisverein organisieren. Alleinlebende sollten in ein das „Familiengemeinwesen“ integriert werden. Es ging darum, den Benachteiligten einen Platz in der Gesellschaft und eine Perspektive für die Zukunft zu geben.

Auch heute geht es um mehr als Sozialpolitik, es geht um eine Mentalitätsveränderung, einen gesellschaftlichen Aufbruch. Zwischen Quartierscafés, Familienzentren, Mehrgenerationenhäusern und Kirchengemeinden entwickelt sich der Dritte Sozialraum – ein neues Quartier, nicht an Defiziten orientiert, sondern an Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit oder Bildung – wie bei Wohnquartier hoch vier in RWL. Damit das gelingt, brauchen wir Begegnungsorte. Am besten solche, die keiner Gruppe eindeutig zuzuschreiben sind, wo sich die Verschiedenen ohne Hierarchisierung begegnen und ihre Anliegen aushandeln können. „Dritte Orte“ – offen, niedrigschwellig und kostenlos. Dorfläden, Stadtteilbüchereien, Quartierscafés können diese Funktion erfüllen. Auch der Wickrather Gemeindeladen, wo meine Gemeinwesendiakonie begann. Bis in die 60er Jahre waren Gemeindehäuser solche dritten Orte, Versammlungsräume und Vereinshäuser alle. Heute werden sie oft als halb leerstehende Clubhäuser für Hochverbundene wahrgenommen. Das enttäuscht. Denn viele Beispiele aus Ostdeutschland (Kirchenkuratoren, Orgelpaten…) zeigen: Kirchen sind Orte der Zugehörigkeit. Deshalb geht es darum, die Türen zu öffnen – gerade da, wo andere Träger sich zurückziehen – und den frei gewordenen Raum mit anderen zu teilen. Vom Sportverein bis zur Musikschule, vom Mieterbund bis zur Beratungsstelle. In Gelsenkirchen-Hasselt, zum Beispiel hat die Kirchengemeinde einen Bürgerverein gegründet und das Gemeindehaus zum Bürgerzentrum ausgebaut. Die Gebäude und Liegenschaften, die oft nur noch als überdimensioniert wahrgenommen werden, sind ein Asset für die Neugestaltung der Quartiere. Am Ende wird es darauf ankommen, dass Gemeinden und Kommunen, Kirchenkreise und Landkreise gut verzahnt arbeiten – nicht zuletzt, weil die Zuständigkeiten und Finanzierungsmöglichkeiten in Staat und Kirche oft unterschiedlich verteilt sind.

Kirchengemeinden verfügen über lokales Wissen, sie haben Vertrauen und können Impulsgeber sein. In dem Projekt „Qualifiziert fürs Quartier“ des Evangelischen Johanneswerks in Bielefeld fängt alles mit Recherche von Sozialraumdaten, mit Experteninterview und einer Stadtteilerkundung an. Wer lebt eigentlich in unserem Stadtbezirk, wie hoch ist das Durchschnittalter, wie ist das Verhältnis von Alleinlebenden und Familien? Was wissen Ärzte und Pflegedienste darüber, wie hier gepflegt wird? Dann geht es darum, Gemeindemitglieder und andere Bürgerinnen und Bürger einzuladen, gemeinsam zu planen und Ideen auszutauschen.

In den EKD-Denkschriften und -Orientierungshilfen der letzten Jahre – zu Armut, Familie, Pflege, Alter oder Inklusion – ging es immer wieder um die Frage, wie es gelingen kann, die Schranken zu öffnen, die die Gemeinde zum Club gemacht haben – und ganz bewusst auf die Nachbarschaften zuzugehen. Eine New Yorker Journalistin hat ein ganzes Jahr lang jede Woche einen Stadtspaziergang mit einer fremden Person gemacht. Sie war unterwegs mit einer älteren Dame mit Rollator, mit einem Architekten und mit einem zweijährigen Kind. Sie hat einen Blinden begleitet und einen Arzt, der ihren Blick für die Entgegenkommenden schärfte. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie ihre Stadt neu entdeckt.

Manche Kirchengemeinden und Quartiersprojekte sind diesen Weg gegangen. In einer süddeutschen Kleinstadt fand ich eine Karte für Familien – herausgegeben von der Stadtmission: da waren nicht nur die Kirchen und Tageseinrichtungen, sondern auch die Spielplätze und Kinderärzte, die Schulen und Sportvereine verzeichnet und natürlich auch die familienfreundlichen Restaurants und die Gemeinden mit Angeboten für Kinder und Familien. Ein echter Service für eine kinderfreundliche Stadt. Und in meiner ehemaligen Gemeinde in Mönchengladbach hat eine Gruppe im Gemeindeladen einen inklusiven Stadtplan für Ältere erarbeitet. Dort werden die Zugangswege für alle öffentlichen Gebäude verzeichnet – gut auch für Eltern mit Kinderwagen genauso wie für Menschen mit Rollator oder Rollstuhl. Wer eine Stadtführung mit Obdachlosen mitmacht, der weiß: ein Stadtplan für diese Zielgruppe fehlt. Darauf wären die Plätze zu sehen, wo man eine Dusche, einen PC und einen Schlafplatz findet, die Bäcker, die gegen Abend zu günstigeren Preisen verkaufen, die Bahnhöfe, an denen man noch nicht verbrauchte S-Bahn-Karten bekommen kann und die öffentlichen Plätze, wo man noch immer auf einer Bank liegen kann, ohne vertrieben zu werden. Solche Karten gibt es nicht – aber die Zinken fielen mir ein, die am Pfarrhaus meiner Kindheit zu sehen waren. „Freundliche Menschen“ stand da. Wo Karten nicht weiterhelfen, brauchen wir Solidarität.

Es geht darum, die Interessen der unterschiedlichen Gruppen wahrzunehmen – und mehr noch: den Geist eines Ortes. Eine Untersuchung des SI über Ehrenamt in der Uckermark hat gezeigt, dass es dabei nicht hilft, Konzepte aus anderen Kontexten überzustülpen. Ein Gemeinwesen lässt sich nicht managen wie ein Unternehmen – Diakoniewerke, die inklusive Quartiere aufgebaut haben, haben diese Erfahrung gemacht. Die Seele eines Ortes lässt sich nicht implantieren – sie braucht Pflege und Entwicklung, Diskurs, Seelsorge und Rituale. Deshalb ist es problematisch, wenn Kirchengemeinden sich ins Vereinsleben zurückziehen. Gemeinwesendiakonie lebt von einer guten Mischung: Sie ist Management, sozialpolitische Entwicklungsarbeit und öffentliche Seelsorge.

Dazu gehört ein regelmäßiger Kontakt zur Kommune, selbst dann, wenn von dort keine Finanzierung zu erwarten ist. Kommunale Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzung und das zur Verfügung stellen von Räumen oder Informationsplattformen können entscheidend für den Erfolg eines Projekts sein. Umgekehrt Gemeinwesendiakonie beteiligt sich an kommunalen Initiativen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bei altersgerechten Städten oder Bürgerkommunen. Gerade die Ehrenamtlichen, die keiner Organisation verpflichtet sind, können Brücken in die Zivilgesellschaft schlagen. Wo Gemeinden so sehr mit den eigenen Schrumpfungs- und Schließungsprozessen beschäftigt sind, dass sie keine Zeit für kommunale Absprachen haben, fehlt am Ende auch die Basis zur Umgestaltung der eigenen Häuser und Räume.

  1. Not only fridays for future:

In der Gemeinwesendiakonie geht es um die Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen, die Entwicklung von Kooperationen, die Zukunft der Demokratie. Es geht aber auch um ein nachhaltiges Wohlstandsmodell mit lebenswerten Wohnquartieren, gesicherter Sorgearbeit und den Schutz öffentlicher Güter. Das gesellschaftliche Ziel der Steigerung des materiellen Wohlstandes, das in den letzten Jahrzehnten im Zentrum gestanden hat, muss heute überprüft, jedenfalls ergänzt werden. Deshalb gehören soziale und ökologische Nachhaltigkeit zusammen – da gibt es vor Ort in den Gemeinden noch einiges zu tun. Vielleicht können uns die jüngsten Demos daran erinnern. Die Herausforderungen in Gemeinde und Kommune hat Thomas Klie so zusammengefasst: Es geht um die Überwindung einer Logik der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die Überwindung eines anachronistisch-romantischen Familialismus, die Praxis einer neuen Gastfreundschaft und die Offenheit für genossenschaftliche Antworten.

Cornelia Coenen-Marx, Netzwerk Gemeinwesendiakonie, Frankfurt, 3.4.19