Etty Hillesum und Korinth – Predigt vom 3.2.2019, Osterwald

„Gestern Abend, kurz vor dem Zubettgehen, kniete ich plötzlich in diesem großen Zimmer zwischen den Stahlstühlen auf dem hellen Läufer. Ganz spontan. Zu Boden gezwungen durch etwas, das stärker war als ich selbst. Vor einiger Zeit hatte ich mir gesagt: Ich übe mich im Knien. Ich genierte mich noch zu sehr wegen dieser Gebärde, die ebenso intim ist wie die Gebärden der Liebe, über die man auch nicht sprechen kann, wenn man kein Dichter ist. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich Gott in mir trage, sagte einmal ein Patient zu meinem Freund, zum Beispiel, wenn ich die Matthäuspassion höre. Und mein Freund S. erwiderte etwa folgendes: „In solchen Augenblicken spüre er die absolute Verbundenheit mit dem in jedem Menschen wirksamen schöpferischen Kräften. Und das Schöpferische sei doch ein Teil von Gott. Man müsse nur den Mut haben, das auszusprechen.“

Das sind Gedanken aus dem Tagebuch der holländischen Jüdin Etty Hillesum, die am 30. November 1943 in Ausschwitz ermordet wurde. Die Juristin und Slawistin arbeitete lange als Lehrerin, zuletzt als Nachhilfelehrerin. In den Tagebüchern aus den letzten beiden Jahren ihres Lebens begleiten wir sie in der Zeit der deutschen Besatzung, als Juden immer mehr Einschränkungen erleben und die Deportationen nach Westerbork beginnen. Viele kennen diese Jahre aus den Tagebüchern der Anne Frank. Etty Hillesum, die zuletzt auch im Amsterdamer Judenrat mitarbeitete, wusste genau, was geschah – je mehr sie sich engagierte, desto mehr sah sie in die Abgründe. Zugleich aber geht sie einen spirituellen Weg, der einem manchmal die Sprache verschlägt.

„Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgung, die zahllosen Grausamkeiten, all das ist mir wie ein einziges starkes Ganzes und ich nehme alles als ein ganzes hin“, schreibt sie. Diese Erfahrung des Ganzen, des Schöpferischen, die Verbundenheit, die Etty Hillesum spürt, finde ich auch in dem Brief des Paulus, aus dem wir eben ein Stück gelesen haben. Paulus schreibt aus Ephesus an die Gemeinde in Korinth, wo er schon eine ganze Weile abgereist ist. Gut 400 km Luftlinie ist Korinth von Ephesus entfernt – und der tatsächliche Reiseweg ist viel länger. Trotzdem sind die Korinther und Korintherinnen jeden Tag in seinen Gedanken und Gebeten; er empfindet große Dankbarkeit für die gemeinsame Arbeit, die Verbundenheit. Er denkt an die Begabungen, das Engagement, den Reichtum der Gemeinde- er freut sich an den Menschen, die er dort kennt. So sehr, dass die Konflikte in Korinth für einen Augenblick in den Hintergrund treten.

1.Korinther 1, 4- 9 Ich danke meinem Gott allezeit euretwegen für die Gnade Gottes, die euch gegeben ist in Christus Jesus, 5 dass ihr durch ihn in allen Stücken reich gemacht seid, in allem Wort und in aller Erkenntnis. 6 Denn die Predigt von Christus ist unter euch kräftig geworden, 7 sodass ihr keinen Mangel habt an irgendeiner Gabe und wartet nur auf die Offenbarung unseres Herrn Jesus Christus. 8 Der wird euch auch fest machen bis ans Ende, dass ihr untadelig seid am Tag unseres Herrn Jesus Christus. 9 Denn Gott ist treu, durch den ihr berufen seid zur Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn.

Die Gemeinde in Korinth ist vor allem für ihre Streitfälle bekannt: schließlich mischten sich dort ganz unterschiedliche Kulturen und Gesellschaftsschichten. Zum Beispiel Sklaven und freie Bürger: Wenn die Sklaven zu spät zum gemeinsamen Abendmahl kamen – abends, am Sabath, weil ihre Herren sie nicht hatten gehen lassen-, dann konnte es passieren, dass alle anderen schon satt waren. Oder auch Judenchristen und Griechen, die vorher die antiken Götter verehrt hatten. Die einen fanden nichts dabei, das Fleisch zu essen, das den Göttern im Tempel geweiht war, die anderen sahen darin Gotteslästerung. Uneinigkeit gab es natürlich auch über die Frage, ob Frauen im Gottesdienst das Wort ergreifen durften, ob man sich von einem ungläubigen Ehepartner scheiden lassen sollte – ach, einfach alles, was für das Zusammenleben wichtig war, musste erstritten und erkämpft werden. Und leider ging es dabei hart zur Sache – auch Paulus gegenüber.

Deshalb ist es schon erstaunlich, dass Paulus seinen Brief mit der Dankbarkeit beginnt. „Ich denke Gott allezeit für die Gnade, die Euch gegeben ist. Durch die Gnade Gottes seid ihr in allem reich: in allem Wort, in aller Erkenntnis. Ihr habt keinen Mangel.“ Hat er vergessen, wie er dort attackiert wurde? Oder will er seinen Lesern und Leserinnen schmeicheln, damit sie offen sind für die Kritik, die dann folgt? Ich glaube nicht – vielmehr denke ich, dass es ihm geht, wie Etty Hillesum: „Das Leid und die Verfolgung, die wundgelaufenen Füße und der Jasmin hinterm Haus – all das ist ein einziges, starkes Ganzes.“ Der Streit und die Verbundenheit, die Begabungen und die Brüchigkeit in der Gemeinde gehören zusammen. So lese ich den Beginn dieses Briefes wie eine große Umarmung. Für die Gemeinde in Korinth und für das Leben, das Gott schenkt.

Noch einmal Etty Hillesum: „Ich war früh zu Bett gegangen und schaute durch das offene Fenster hinaus. Und mir war wieder, als wäre das Leben mit all seinen Geheimnissen mir nahe, als hörte ich seinen leisen, regelmäßigen Herzschlag. Ich fühlte mich sicher und beschützt und dachte: Es ist Krieg. Es gibt Konzentrationslager. Wenn ich die Straßen entlang gehe, weiß ich von vielen Häusern: Dort ist der Sohn im Gefängnis, dort wird der Vater als Geisel gehalten, dort ist das Todesurteil eines 18-jährigen zu beklagen. Ich weiß von Verfolgung und Unterdrückung, von Ohnmacht und Hass und dennoch: Ich liege an der nackten Brust des Lebens und seine Arme legen sich beschützend um mich und sein Herzklopfen ist so regelmäßig und leise, ach auch treu, als wollte es nie aufhören. Und auch so gut und so barmherzig.“

„Denn Gott ist treu, der Euch berufen hat“, schreibt Paulus – „und er wird Euch fest machen bis ans Ende.“ Im römischen Reich waren die Christen eine verfolgte Minderheit. Sie erlebten Diskriminierung, Folter und Gefängnis bis hin zur Todesstrafe. All das hat ja auch Paulus erlebt. Sie warteten sehnsüchtig auf die Wiederkunft Jesu – darauf, dass das alles ein Ende hätte. Aber dass die Gemeinde unter diesem Druck zusammenblieb, dass die Einzelnen ihren Glauben bewahren, war keinesfalls selbstverständlich. Darum erinnert Paulus sie an ihre Begabungen, ihren Glauben und vor allem an die Gnade Gottes, die er in dieser Gemeinde gespürt hat. Wenn sie am Sabbat zusammen Abendmahl feierten, so verschieden sie auch waren. Wenn Männer und Frauen gemeinsame die Bibel auslegten. Es gab Leute, die schreiben konnten und lesen. Andere brachten gute Speisen mit. Wieder andere konnten kochen oder nähen. Man half, wenn jemand in Not war. Da war so viel Verbundenheit, so viel Aufbruch – und immer wieder war dieser Geist des Friedens zu spüren. Der Geist Christi. Wie ein warme Dusche, die den ganzen Körper durchströmt und alle Verkrampfungen löst. Eine Quelle, die die Sehnsucht nach Leben löscht. Paulus hat das nicht vergessen – wie könnte er auch.

„Ich danke Gott um Euretwillen für die Gnade, die Euch gegeben ist“, schreibt er gleich zu Beginn. Und auch seine Worte sind wie eine warme Dusche. „Gottes Gnade umströmt Euch, sie lebt in Euch – in Euren Gaben.“ Im griechischen Originaltext ist das der gleiche Wortstamm: Gnade/ Charis und Gabe/ Charisma. Vielleicht kennen Sie das, dass Sie sich einfach freuen können an dem, was Sie selbst oder andere Menschen können. So wie Matthias Claudius schreibt: „Ich danke Gott und freue mich wie’s Kind zur Weihnachtsgabe – dass ich bin, bin und dass ich Dich, schön menschlich Antlitz habe.“ Das ist eine andere Art Dank als der bewusste Dank für ein Geschenk. Hier geht es um diese Momente, in denen wir einfach glücklich sind für das, was ist – in denen wir Ja sagen zum Leben, so wie es jetzt gerade ist. So schön und so unvollkommen. Voller Widersprüche und voller Verbundenheit.

Solche Momente beschreibt auch Etty Hillesum. Augenblicke, in denen sie sich unendlich beschenkt fühlt – obwohl sie Mangel genug erlebt. Wer ihren spirituellen Weg in den Tagebüchern mitgeht, der spürt: diese Augenblicke ändern etwas. Sie machen Etty ruhiger und gelassener in ihrem Glauben. Dankbarkeit ist eine Antwort auf Gottes Gnade, auf die Umarmung, die sie spürt – und sie ist auch selbst eine große Umarmung. Da ist plötzlich lauter Güte und Barmherzigkeit – auch noch in Westerbork kann sie das spüren und leben. Gottes Güte und Barmherzigkeit ist größer als alles. Darauf will ich vertrauen.

AMEN