Newsletter Nr. 14 / Januar 2019

Brennende Themen. Ideen, Inspirationen und Projekte aus Kirche und Diakonie


THEMENÜBERSICHT IN DIESEM NEWSLETTER:
THEODOR FONTANE   ÄLTERWERDEN ALS EINLADUNG   MAKE EUROPE GREAT FOR ALL   VERTRAUEN IST HEIMAT   SOZIALES IN DER GESELLSCHAFT DER SINGULARITÄTEN   FREIRAUM GEBEN, TRÄUME REIFEN LASSEN


Geburtstag eines wachen Zeitgenossen

„Oft möchte man einfach nur Augen und Ohren zumachen, um immer neue Schreckensmeldungen nicht mehr zu hören. Und ich ertappe mich manchmal bei einer Meldung dabei, dass ich denke: ‚Das muss ich nicht mehr erleben‘“, schrieb eine Freundin zu Weihnachten. „Dabei klagen wir wohl auf hohem Niveau“, meinte sie, „mein Mann und ich blicken auf eine intakte Familie, die gesund und finanziell abgesichert ist, und auf ein intern friedliches Weihnachtsfest.“ Wir sind ja nicht nur Getriebene – wir können uns erinnern, unseren Standort klären, uns auseinandersetzen. Zu Silvester 1895 – er war gerade fünfundsiebzig Jahre geworden – schrieb Theodor Fontane ein Neujahrsgedicht, ein Altersgedicht zugleich. Wir feiern übrigens in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag. „Eigentlich ist mir alles gleich“, dichtet er. „Der eine wird arm, der andre wird reich. Aber mit Bismarck – was wird das noch geben? Das mit Bismarck, das möchte’ ich noch erleben.“ Bismarck war im Frühjahr achtzig Jahre alt geworden – und sein Geburtstag hatte das Land in Bewegung gesetzt. Dabei war er seit fünf Jahren aus dem Amt entlassen. „Es ist ein Glück, dass wir ihn los sind […]“, hatte Fontane geschrieben und damit der allgemeinen Stimmung Ausdruck gegeben. „Seine Größe lag hinter ihm“, pointierte er, aber noch aus der zweiten Reihe hatte der so genannte „Reichsgründer“ enormen Einfluss. Gerade hatten ihm 370 deutsche Städte die Ehrenbürgerschaft verliehen.

Und wie geht es Ihnen, wenn Sie an Angela Merkel oder Emmanuel Macron denken, an den Brexit oder die Europawahlen – verspüren Sie Neugier oder Überdruss? „An nichts nehme ich mein Alter so sehr wahr“, schrieb Fontane schon 1891 an Emilie, seine Frau, „als an dieser Art Interesselosigkeit. Nichts verlohnt sich mehr …“ „Denn ich bin nicht wie Bogumil Goltz,“ – ein polnischer Schriftsteller und Zeitgenosse – „der vor Wuth über sein Alter auf den Tisch schlug. Resignieren können ist ein Glück und beinahe eine Tugend.“ Aber nicht in jedem Lebensbereich. Denn „mein Enkel, so viel ist richtig, wird mit nächstem vorschulpflichtig, und in etwa vierzehn Tagen wird er eine Mappe tragen. Löschblätter will ich ins Heft ihm kleben – ja, das möcht’ ich noch erleben.“ „Wenn man sich gedanklich damit befasst, das Leben von hinten zu betrachten – mit dem letzten Tag als Startpunkt – und dann dabei versucht, nach Geschichten zu suchen, die erzählenswert sind, dann wird es interessant. Wann kannst du sagen: jawohl, ich habe gelebt?“, fragt Evelyn Wenzel, die Autorin des „Lebensfreude-Blogs“. Und sie kommt zu dem Schluss, dass die bewegendsten Momente nicht die sind, in denen wir in unserer Komfortzone vor uns hindümpeln. „Meine ‚Geschichten des Lebens’ sind sehr emotional, mich bewegend, teilweise sehr belastend, aber am Ende immer extrem bereichernd. Doch was habe ich noch vor? Welche Geschichten will ich noch erleben?“ Am Jahresanfang, wenn wir persönliche oder ehrenamtliche Projekte planen, Urlaube oder Schwerpunkte für unser weiteres Lernen, dann ist Zeit, solchen Fragen nachzugehen. Eine Sprache lernen vielleicht, ein genossenschaftliches Wohnprojekt gründen, die Polarlichter sehen oder einen Garten in der Stadt anlegen. Jetzt ist Zeit, Projekte in uns reifen zu lassen und eins oder zwei davon in die Tat umzusetzen.

 

Älterwerden als Einladung

„You don’t stop dancing because you are old; you are old because you stop dancing“, stand auf einer Karte, die ich zum Geburtstag bekam. „Het Volle Leven“ hieß eine Ausstellung, die wir im Oktober in Groningen gesehen haben. Die Künstler Hella und Freek de Jonge, beide schon in der „dritten Lebenshälfte“, waren für vier Wochen ins Museum gezogen, mit ihren Büchern und Skulpturen, mit Küche und Kino. Hier moderierten sie Veranstaltungen, luden Besucher zum Frühstück ein, teilten ihre Kunst mit jedermann und hatten dabei immer ein volles Haus. Überlegen, was das Wichtigste und Schönste ist in meinem Leben, aber auch, was ich teilen und weitergeben möchte, ist ein starker Anreiz zur Selbstprüfung und gibt zugleich Resonanz und Ermutigung. Das war in Groningen zu spüren, das Kunstmuseum brummte und summte. Auch die Schriftstellerin Ulrike Draesner beschäftigt sich mit dem Älterwerden – obwohl sie selbst, Jahrgang 1962, damit erst langsam anfängt. Ihr Buch „Eine Frau wird älter“ nähert sich diesem in unserer Gesellschaft besonders für Frauen noch so schwierigen Thema jedenfalls auf ebenso kluge wie heitere Weise.

Zum Thema „Älterwerden im Beruf“ und zum Übergang in den Ruhestand plane ich übrigens einen Vortrag am 29. Januar in Hamburg – als Eröffnung einer Reihe in Eilbek. Um die Zukunft der Arbeit wird es auch beim diesjährigen Kirchentag in Dortmund gehen. Am 20. Juni moderiere ich dort in Halle 2 ein spannendes Podium zu diesem Thema. Und am 4. April bin ich einen Nachmittag im Pastoralkolleg in Hessen, wo es dann darum geht, wie sich Pfarrer oder Pfarrerinnen auf die nächste Wegstrecke vorbereiten.

Was mir ein „Smart Home“ nutzen könnte, wenn ich nicht mehr tanzen kann, das habe ich neulich bei der Veranstaltung „Wohnen und Älterwerden“ in Neu-Isenburg gehört, bei der ich über „Neue Wege im Alter“ gesprochen habe. Die kleine Stadt in der Nähe von Frankfurt ist wirklich alternsgerecht aufgestellt mit Seniorenbüros, Demenznetzwerk, unterschiedlichsten Wohnangeboten. Die geradezu modellhafte Quartiersarbeit wurde über Jahre im Vertrauen zwischen Kommune, Kirchengemeinden, Verbänden aufgebaut, ganz ähnlich wie auch in Marbach am Neckar. Und auch in anderen Städten und Regionen boomt das Thema Quartiersarbeit, zum Beispiel im Hochtaunus. Dort werde ich am 1. Februar mit einem Vortrag teilnehmen.

Wie sich solche Zusammenarbeit auch in Zukunft bewähren kann, so dass es auch für Alleinlebende möglich wird, bei Pflegebedürftigkeit in ihrem Zuhause, in ihrer Nachbarschaft zu bleiben und dort auch zu sterben, das wird im Augenblick an verschiedenen Stellen bedacht. Die Themen „Alter, Pflege und Quartier“ verschränken sich mehr und mehr und gehören inzwischen zu meinen Schwerpunkten bei „Seele-und Sorge“. Darum wird es auch gehen bei der Tagung zur neuen Sorgeethik, die Andreas Heller am 15./16. März in Graz veranstaltet, bei den Hospiztagungen am 9. März in Arnoldshain und den 20. Süddeutschen Hospiztagen vom 3. bis 5. Juli in Bad Herrenalb sowie bei den Hospizgruppen in Borgholzhausen und Bad Iburg, wo ich am 21. März mein Buch „Noch einmal ist alles offen“ vorstelle.

Noch scheitern viele Initiativen daran, dass die unentgeltliche Sorgearbeit in Erziehung, Pflege, Hauswirtschaft, die vor allem Frauen leisten, oft in Überlastungssituationen führt und sich zudem noch in geringen Renten niederschlägt. Das gilt für Familienarbeit genauso wie für Berufsarbeit und für ehrenamtliche Tätigkeiten. Auf europäischer Ebene werden zurzeit neue Modelle gedacht, wie sich Carearbeit ganz unabhängig vom Familienstand denken lässt. Eine Tagung der Schweizerischen Fachstelle Reformierte im Dialog, bei der ich im Dezember einen Vortrag gehalten habe, widmete sich dem Thema „Vielfältige Paare und Familien – herausgeforderte Kirchen“. Die auf der Website der Tagung verlinkten Papiere der Vortragenden zu Psychologie und Geschlechterforschung, Politik und Recht (besonders instruktiv für mich der Vortrag von Frau Pfaffinger) sowie Theologie und Kirche vermitteln ein recht differenziertes Bild der Herausforderungen und auch von möglichen Antworten.

 

Make Europe great for all!

„MEGA: Make Europe Great for All“ heißt eine aktuelle Kampagne der Europäischen Zivilgesellschaft, die in Deutschland über das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, wo ich mich als Einzelmitglied engagiere, promotet wird. Europa als Kulturraum ist in seiner Verschiedenheit zugleich ein Lernraum und ein politisches Feld. Glücklicherweise habe ich zurzeit des öfteren Gelegenheit zu Besuchen in der Nachbarschaft: in der Schweiz, wo ich am 6. Mai einen Vortrag in Olten bei Tavolata halte, dem Netzwerk für selbstorganisierte Tischgemeinschaften, in Österreich, aber auch im holländischen Friesland, mit dem wir so viel Kultur und Geschichte teilen. In Groningen entdeckte ich in der Synagoge auch eine Ausstellung über Clara Asscher-Pinkoff, die große Pädagogin und Frau des dortigen Rabbiners, deren Buch „Sternkinder“ über die Kinder, die den Davidstern tragen mussten, meine Kindheit begleitet und geprägt hat.

„Make Europe great for all“ – auch damit Diskriminierung, Antisemitismus, Progrome keinen Nährboden finden. Eine wichtige Analyse und Inspiration am Beispiel der USA ist  für mich das Buch „Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können“ von Steven Levitzky und Daniel Ziblatt. Um die Demokratie zu stärken, ist es sicherlich auch notwendig, mehr als bisher miteinander ins Gespräch zu gehen, auch mit der AfD. War es richtig, sie beim Kirchentag weitgehend außen vor zu lassen? (Hier die entsprechenden Pressemitteilungen.) Ist die AfD eine „Alternative für Christen?“ – dieser Frage gehen der Herausgeber Wolfgang Thielmann und zahlreiche Autoren sehr ernsthaft nach, auch unter Überschriften wie „Fromm und rechts – das passt zusammen“ und „Warum ich für die AfD kandidiere“ und mit dem Aufruf: „Wir müssen reden!“. Dass es aber genau darum geht, wie wir miteinander sprechen, welche Sprache und welche Begriffe wir finden, um unsere Demokratie zu stärken, das hat gerade Robert Habeck in seinem klugen Buch „Wer wir sein könnten“ entfaltet. Hilfreich ist sicher auch die Handreichung der Diakonie für den Umgang mit Rechtspopulismus im Alltag. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (hier der Link zu deren Newsletter) hat im Dezember in Brüssel auf einer Tagung unterschiedliche Facetten des Rechtsextremismus in Europa beleuchtet. Über gute Erfahrungen des Miteinanders, aber auch über Misstrauen und Missverständnisse zwischen Juden, Christen und Muslimen im Nahen Osten schreibt der ehemalige Jerusalemer Propst Uwe Gräbe in seinem lesenswerten Buch „Jerusalem, Muristan“. Wer auf den Geschmack kommen will: In meinem Kraftorte-Blog berichtet Uwe Gräbe über seine Arbeit an Schulen im Libanon und in Jordanien. Ich meine aus eigenem Erleben: Erfahrungen mit den vielfältigen Kulturen und Religionen im Nahen Osten können immun machen gegen simple Parolen, in jedem Fall führen sie zur Differenzierung, auch in unserem Land. Wir brauchen mehr Austausch, nicht nur von Politikern, sondern beispielsweise auch von Jugendlichen, von Kirchen und anderen Glaubensgemeinschaften und von Wissenschaftsnetzwerken. Gerade rund um das Mittelmeer ist so ein Austausch und ist engagiertes Handeln dringend notwendig. Wir können nicht hinnehmen, dass Monat für Monat hunderte Menschen in dessen Fluten ertrinken, weil Sprachlosigkeit und Gewalt herrschen. Die Initiativen des Netzwerks der Anna Lindh Stiftung, beispielsweise auch ihr mit Erasmus+ organisiertes, leider inzwischen ausgelaufenes Projekt für Online Debate, liefern hier gute Beispiele. Ein Projekt, das in Deutschland Geflüchtete selbst zur Sprache kommen lässt, statt weiter über sie zu sprechen, ist übrigens Weiter Schreiben.

 

Vertrauen ist Heimat

Auch an vielen Orten in Deutschland sind Netzwerke für Geflüchtete inzwischen fest geknüpft. „Wir sind ein ganzes Stück entfernt von der Ersthilfe und dem Bereitstellen von Unterkünften, Kleidung, Möbeln und der Organisation von Deutschkursen“, sagt Rebekka Hinze vom Evangelischen Flüchtlingsnetzwerk an meinem Wohnort Garbsen. „Aber wir können nie sagen, dass wir am Ziel sind.“ Im Netzwerk Willkommen, das 1.100 Neuankömmlinge aus den letzten drei Jahren begleitet, treffen sich monatlich Vertreter von Kirchengemeinden, Bildungsträgern, Jugendwerkstatt, dem Jobcenter, dem Integrationsbeirat, der Stadt. Effektive Vernetzung und kreative Aktionen sind auch für die Ehrenamtlichen attraktiv: eine Schreibwerkstatt, das Rudelstricken für Schals, deren Erlös syrischen Flüchtlingskindern zugute kommt, und eine Nähstube gehören dazu, genauso wie ein Solidaritätskonzert und eine Freizeit.

Hier gilt das Gleiche wie bei der Nachbarschaftsarbeit mit Pflegebedürftigen, den sorgenden Gemeinschaften: „Wo Vertrauen ist, ist Heimat“ – so formuliert es Henning von Vieregge als Titel seines neuen Buchs, das ich hier nach denen von Wolfgang Thielmann und Uwe Gräbe als drittes „Buch von Freunden“ empfehlen möchte. Henning von Vieregge engagiert sich seit Jahren stark für den ehrenamtlichen Einsatz der „Powerager“. Denn für eine Kultur der Sorge spielt die Zivilgesellschaft eine wesentliche Rolle. Über so zahlreiche wie vielfältige Initiativen, mit denen Menschen sich für Dialog und Teilhabe einsetzen, wie auch über wissenschaftliche Analysen zu unterschiedlichen Aspekten unserer komplexen Gesellschaft informiert regelmäßig der Newsletter des BBE. Besonders aufschlussreich fand ich gerade den Bericht über eine Münchener Initiative, die den Blick auf hiesige Nachbarschaftskulturen sowie auf solche in den Herkunftsländern Geflüchteter warf. Noch bis zum 17. März zeigt eine Ausstellung im Leipziger GRASSI Museum für Angewandte Kunst, wie gemeinschaftliches Wohnen hier funktionierem kann. Mit 32,5 Millionen Euro soll nun die neue Ehrenamtsstiftung ausgestattet werden, die das Familienministerium in diesem Jahr auflegen will. Sie soll unter anderem Fortbildungsangebote für Ehrenamtliche durchführen und fördern – eine Chance für die Arbeit mit Geflüchteten oder auch für die Demenzhelferinnen und Demenzhelfer. In diesen Feldern sind Kirche und Diakonie engagiert, genauso wie im Besuchsdienst oder in der Hospizarbeit. Wie Ehrenamtliche und Berufliche gemeinsam Kirche gestalten, darum geht es in der epd-Dokumentation zum Thema Ehrenamt, die kurz vor Weihnachten erschienen ist und die Sie ab Februar auch auf meiner Website finden werden. Meine Beiträge aus dieser und anderen Publikationen finden Sie auf meiner Website auf der Publikationsliste, genauso wie die Titel meiner unveröffentlichten Vorträge.

 

Soziales in der Gesellschaft der Singularitäten

In einer Zeit der absoluten Individualisierung in der westlichen „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) Gemeinschaften zu stärken: Familien, Vereine, Teams im Beruf, auch politische Institutionen, die Demokratie tragen, das ist eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ein schönes Beispiel ist die Initiative Schule im Aufbruch der ehemaligen Leiterin der Evangelischen Schule Berlin-Mitte Margret Rasfeld. Welche Rolle Religion dabei spielen kann, darum geht es bei einer Tagung in Hofeismar am 15. und 16. Februar in Hofgeismar, an der ich mich mit einem Workshop beteilige. Ich gehe dort der Bedeutung von Religion, Spiritualität und Gemeinschaft in der sich rasant verwandelnden Arbeitswelt nach – und Changeprozessen, die ich in der Sozial- und Gesundheitsbranche erlebe. Pflege zum Beispiel kann nicht nur von Einzelnen geleistet werden – Pflege braucht Teamarbeit und eine starke Lobby. Die dramatischen Zahlen, die gerade von neu aufgestellten Niedersächsischen Pflegekammer veröffentlicht wurden, zeigen, was passiert, wenn es nur noch um Wirtschaftlichkeit geht. Jetzt allerdings ist ein heftiger Streit um die Wirtschaftlichkeit der Mitgliedschaft in der Pflegekammer, diesem gerade erst gegründeten Zusammenschluss von Pflegenden, entbrannt: Die (verpflichtenden) Beiträge wurden offenbar zu hoch angesetzt, was den Widerstand von inzwischen 40.000 Mitgliedern, Pflegenden und anderen Interessierten, ausgelöst hat. Der Versuch, eine gemeinsame Lobby aufzubauen, führt zunächst einmal zu öffentlichem Streit – ein Desaster. Wie kann es gelingen, die gemeinsamen Interessen stark zu machen? Ob sich dabei noch etwas lernen lässt von den alten diakonischen Schwesternschaften, das beschäftigt mich immer wieder bei meiner ehrenamtlichen Arbeit im Evangelischen Diakonieverein Zehlendorfder am 11. April 125 Jahre alt wird. Der Diakonieverein hat übrigens entschieden, die Pflegekammer-Mitgliedsbeiträge für die Schwestern und Brüder zu übernehmen. Und noch eine gute, längst überfällige Nachricht: In diesem Monat sollen die Verhandlungen über einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag Altenpflege aufgenommen werden.

Nach siebzig Jahren sozialer Marktwirtschaft stehen wir vor großen Herausforderungen: mit Blick auf die sozialen Sicherungssysteme – hier auch die Rolle der Wohlfahrtsverbände –, aber auch auf den Klimawandel (hierzu auch die epd-Dokumentation 48). Im letzten November ist mir das am Beispiel Wuppertal deutlich geworden. Bei meinen Vorträgen und Workshops habe ich immer wieder die Gelegenheit, Städte, Gemeinden, Netzwerke wahrzunehmen, zu denen ich mich früher einmal zugehörig fühlte – Mönchengladbach oder Kaiserswerth, das Ruhrgebiet oder eben Wuppertal, wo in letzter Zeit Theater geschlossen wurden und zurzeit auch die Schwebebahn nicht fährt. Wo ich Infrastruktur, Kirche, Diakonie und Nachbarschaften kenne, sehe ich – gerade mit meinem heutigen Blick von außen – besonders deutlich, was sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Die Kirche in Mönchengladbach-Rheydt, in der meine Mutter konfirmiert wurde, gibt seit langem einem sozialen Wohnungsbauverein Raum. Und das Gemeindehaus, in dem ich konfirmiert wurde, gehört einem Eventveranstalter – Rückzugszeichen überall. Zugleich aber wachsen neue Ideen, wie im WiKi, der zum Stadtteilzentrum umgebauten Wichlinghauser Kirche. Oder auch im Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. „In Deutschland und gerade im wirtschaftlich starken Bayern haben wir die Chance, ein ökologisches Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das nicht auf der Zerstörung der Natur beruht“, sagte Heinrich Bedford-Strohm kürzlich im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst: „Das wird man uns in spätestens zehn Jahren förmlich aus den Händen reißen. Alle, die heute eine Transformation der Wirtschaft vorantreiben, handeln nicht nur entlang ethischer Grundorientierungen, sie sind auch besonders klug.“

Meinen Vortrag zur Zukunft unserer Kirchen und Gemeindehäuser finden Sie übrigens hier.

 

Freiraum geben, Träume reifen lassen

So allmählich ist alles wieder beim Alten. Der Kalender für das Jahr ist gefüllt, der Betrieb hat Fahrt aufgenommen. Und die Weihnachtsbäume sind längst geschreddert, aber noch komme ich regelmäßig zum Sport, noch kommen schöne Briefe zum neuen Jahr. Und die Tulpen auf dem Esstisch erinnern an die Hoffnung auf den Frühling. Wie kommt das Neue in die Welt?

Seit vielen Jahren schreibe ich Tagebuch. Nicht jeden Tag, aber oft am Wochenende und jedenfalls in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Beim Rückblättern fällt mir auf, wie lang meine Projektlisten zu Beginn des Jahres immer sind. Klar, vieles habe ich umgesetzt, aber manches schiebt sich unerledigt über Jahre. Und bleibt ein Traum. Vielleicht weil die Ideen noch nicht stimmig waren? Zu meinen Vorhaben in diesem Jahr gehört – neben meinem aktuellen, diesmal literarischen Buchprojekt – ein neuer Anlauf für die diakonischen Pilgerreisen: Das Projekt beschäftigt mich, seit ich 2015 „Seele und Sorge“ gegründet habe. Aber noch fehlt die entsprechende Resonanz. Nun will ich das Angebot auf zwei Tage „schrumpfen“ und mich ab Herbst/Winter auf das Thema „Altern“ konzentrieren. Inspirierende Orte gehören natürlich dazu. So wie die diakonischen Pilgerorte, die wir im Kraftorte-Blog vorstellen, aktuell mit einem schönen Text von Günter Tischer über die Rummelsburger Diakonie. Und weil uns schöne Orte immer gut tun, hier wieder eine Hotelempfehlung: Kolping-Hotel Ohlstadt in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen mit herrlichem Alpenblick – ein perfektes Fortbildungshotel!

„In der Stille geschehen die großen Dinge“, steht auf einer alten Postkarte, die ich irgendwann ins Tagebuch geklebt hatte. Damals hatte ich das Gefühl, beruflich auf der Stelle zu treten. Die Freundin, die mir diese Karte schickte, wollte Mut machen, eben nicht nur auf mein Handeln zu vertrauen – sondern auf das, was wird und wächst, während ich nur träume, leide, mich ärgere. „Es wächst viel Brot in der Winternacht“, heißt es in einem Gedicht von Friedrich Wilhelm Weber. „Sei still und habe des Wandels acht; es wächst viel Brot in der Winternacht“. Die Natur erneuert sich in ihrem Innern, erst dann kann sich der Wandel auch außen zeigen. Es braucht Zeit, das Neue wachsen zu lassen. Sich diese Zeit zu lassen, ist nicht so einfach, wenn schon wieder alles auf Hochbetrieb läuft. Aber vielleicht gelingt es ja doch, in den gut gefüllten Kalendern noch ein paar Freiräume zu lassen. Leere Seiten: Zeit für Reisen, für Sport, für Träume, für Gespräche und Gebete – oder einfach nur fürs Innehalten und Teetrinken.

Mehr dazu, wenn Sie mögen, in meiner Sendung Lebenszeichen im SR2 Kultur am 19. Januar. Oder in dem Blog der Fachstelle zweite Lebenshälfte der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck mit Inspirationen zur Jahreslosung von Annegret Zander.

Mit den besten Wünschen für ein gesegnetes 2019 verabschiede ich mich diesmal mit einem passenden und vielleicht auch für Sie inspirierenden Gedicht.

teebeutel

I
nur in sackleinen
gehüllt. kleiner eremit
in seiner höhle.

II
nichts als ein faden
führt nach oben. wir geben
ihm fünf minuten.

Jan Wagner
(publiziert auf lyrikline.org)

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