Was soll das noch werden und was geht es mich an?

Eine Schatz- und Spurensuche auf dem Weg ins neue Jahr

1. Hab Mut, genau hinzusehen

„Ab 21.12. werden die Tage wieder länger“; las ich, „das ist gut für die Stimmung. Genau wie der Merkur-Jupiter-Rat, am Wunschzettel für 2019 zu basteln. Zudem ruft Mars „Sei mutig“ – und Saturn “aber mit Augenmaß“: Ein idealer Mix“. Ja, ich las es diese Woche in der „Brigitte“. Auch wer nicht an Horoskope glaubt, kommt in diesen Tagen nicht an den Jahreshoroskopen vorbei, die jetzt alle Illustrierten füllen. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass die Sternkonstellationen so mächtig sind, mein Schicksal zu beeinflussen- es sind, so denke ich, politische und wirtschaftliche und ganz persönliche Entscheidungen, die mein Leben prägen. Es sind meine Werte und Visionen, die mir die Richtung zeigen. Und es ist auch die Stimme, auf die ich höre, nach der ich frage in den Stimmen der Zeit.

Von Politik und Wirtschaft allerdings wollen immer mehr meiner Bekannten nichts mehr wissen. „Oft möchte man einfach nur Augen und Ohren zu machen, um immer neue Schreckensmeldungen nicht mehr zu hören. Und ich ertappe mich manchmal bei einer Meldung dabei, dass ich denke: „Das muss ich nicht mehr erleben“, schrieb eine Freundin zu Weihnachten. „Dabei klagen wir wohl auf hohem Niveau“, meinte sie, „mein Mann und ich blicken auf eine intakte Familie, die gesund und finanziell abgesichert ist und ein intern friedliches Weihnachtsfest“. In einer Zeit, in der die politischen Grundkonstellationen sich verschieben, wo die globale Unsicherheit wächst und jedem bewusst ist, dass berufliche Entscheidungen eine geringe Halbwertzeit haben, wo Menschen sich alle paar Jahre neu erfinden müssen, da halten sich viele fest an Sternkonstellationen und Sternbildcharakteren. „Löwe eben- da kannst Du nichts machen…“ Ich fürchte, das ist eine trügerische Gewissheit.

Also versuche ich auch weiter, genau hinzusehen, was auf der Welt geschieht, mir klar zu machen, was sich verändert – versuche, den Wandel zu verstehen, der so viele beunruhigt. Was kommt auf uns zu im Jahr 2019? Der Brexit? Geordnet oder ungeordnet? Die Europawahl mit ihren Zerreißproben- was wird sie bedeuten für die Große Koalition, die Regierung im Land? Wie geht es weiter in Syrien und in Afghanistan nach dem Abzug der Amerikaner? Und in den USA mit Donald Trump? 2019 ist wieder ein Gedenkjahr. Ein Freund erinnerte mit seiner Weihnachtskarte daran: „Drei Ereignisse jähren sich, die das letzte Jahrhundert in besonderer Weise prägten: 1939 begann der Zweite Weltkrieg, im Mai 1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet und im November 1989 fiel die Berliner Mauer. Das kann Verpflichtung sein für die kommenden politischen Auseinandersetzungen.“ Für das Ringen um eine lebendige Demokratie, um eine konstruktive Weiterentwicklung der Europäischen Union, um die Integration in unserm Land- von Geflüchteten, Migranten, aber eben auch von Ost- und Westdeutschen. Übrigens wurde im Oktober 1949 auch die Verfassung der DDR verabschiedet. Wer sich deren erste Artikel anschaut, kann manchen hellsichtigen Kommentar zu den Ereignissen in Chemnitz finden. In den Bahnhofskiosken findet sich jetzt das Grundgesetz als Zeitschrift – vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, auch die „anderen“, die vergessene Verfassung noch einmal zur Hand zu nehmen und zu verstehen, wo unser Land herkommt. Da steht zum Beispiel in Artikel 6: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegendemokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches“. Da zeigen sich die Lektionen des 3. Reiches, die wir heute wieder brauchen können; eine Erinnerung daran lohnt.

Denn wir sind ja nicht nur Getriebene – wir können uns erinnern, uns auseinandersetzen. Etwas ändern. Politisch kämpfen. Gegen die schlechten Rahmenbedingungen und die Zeitknappheit in der Pflege zum Beispiel, den ökonomischen Druck in den Krankenhäusern, die mangelnden Investitionen in den Schulen. Mir liegt viel an einer neuen Wertschätzung der Sorgearbeit; dafür trete ich mit meiner Arbeit ein. Und was würden Sie gern ändern, was möchten Sie noch erleben? Die Verkehrswende vielleicht? Oder wirklich angemessene Maßnahmen gegen den Klimawandel? Es geht darum, genau hinzusehen – auf den Wandel in der äußeren Welt, aber auch darauf, was uns selbst antreibt.

 

2. Bleib neugierig und engagiert

Zu Silvester 1895 schreibt Theodor Fontane ein Neujahrsgedicht; ein Altersgedicht zugleich. Denn am 30. Dezember feierte er Geburtstag; 1895 den 75.

„Eigentlich ist mir alles gleich“, schreibt er,
„Der eine wird arm, der andre wird reich,
Aber mit Bismarck – was wird das noch geben?
Das mit Bismarck, das möcht‘ ich noch erleben“.

Bismarck war im Frühjahr 80 Jahre alt geworden – und sein Geburtstag hatte das Land in Bewegung gesetzt. Eigentlich war er seit 5 Jahren aus dem Amt entlassen. „Es ist ein Glück, dass wir ihn los sind […]“, hatte Fontane geschrieben und damit der allgemeinen Stimmung Ausdruck gegeben. „Seine Größe lag hinter ihm“, schreibt Fontane, aber noch aus der zweiten Reihe hatte der so genannte „Reichsgründer“ enormen Einfluss. Nicht zuletzt durch seine Biographie „Gedanken und Erinnerungen.“ Als der Reichstag im Winter 95 darüber abgestimmt hatte, ob man eine offizielle Grußadresse schicken sollte, waren die Anhänger unterlegen- stattdessen aber hatten 370 deutsche Städte den Altkanzler zum Ehrenbürger ernannt. Mit Interesse beobachtet Fontane dieses Hin und Her – mit Neugier fragt er sich, wie es weiter gehen soll. Da kommt der Journalist zum Tragen, der er eben auch war – seit 1851 Mitarbeiter der Centralstelle für Pressangelegenheit, Auslandskorrespondent in England und Schottland und Journalist der Vosseschen Zeitung über Jahrzehnte. Der gelernte Apotheker Fontane lebte vom Schreiben; mit dem Schreiben musste er Frau und vier Kinder ernähren, aber mit Versen allein wäre das nicht möglich gewesen. So lebte er an verschiedenen Schreibtischen- zu Hause, in Hotels unterwegs durch England und Schottland, in einer eigenen Kammer im Kloster am Stechlinsee. Die professionelle Neugier allerdings war mit dem Alter gedämpft. Denn

Eigentlich ist alles soso,
Heute traurig, morgen froh,
Frühling, Sommer, Herbst und Winter,
Ach, es ist nicht viel dahinter.

Nicht viel dahinter. Sätze wie diese finden sich zu Hauf in Fontanes Briefen und Tagebüchern – oft mit einem resignativen Unterton. „An nichts nehme ich mein Alter so sehr wahr, schreibt er schon 1891 an Emilie, seine Frau, „als an dieser Art Interesselosigkeit. Nichts verlohnt sich mehr …“ „Denn ich in nicht wie Bogumil Goltz“- ein polnischer Schriftsteller und Zeitgenosse- „der vor Wuth über sein Alter auf den Tisch schlug. Resignieren können ist ein Glück und beinahe eine Tugend.“ Fontane aber schwankt – neben der Resignation steht Lebenslust, Neugier neben Interesselosigkeit – ja, und auch Engagement für das, was kommt. Für seine Enkel jedenfalls.

Aber mein Enkel, so viel ist richtig,
Wird mit nächstem vorschulpflichtig,
Und in etwa vierzehn Tagen
Wird er eine Mappe tragen,
Löschblätter will ich ins Heft ihm kleben –
Ja, das möcht‘ ich noch erleben.

Löschblätter, damit die Tinte sich nicht abdrückt auf der gegenüberliegenden Seite. Oder um einen Tintenfleck zu vermeiden, wenn mal zu viel davon fließt. Löschblätter, um mit Fehlern umgehen, sich selbst korrigieren zu können- die will der Schriftsteller seinem Enkel ins Heft kleben. Das gefällt mir: Ein kleines Vermächtnis, eine liebevolle Begleitung. Trotz allem. Denn

Eigentlich ist alles nichts,
Heute hält’s, und morgen bricht’s,
Hin stirbt alles, ganz geringe
Wird der Wert der ird’schen Dinge;

Doch wie tief herabgestimmt
Auch das Wünschen Abschied nimmt,
Immer klingt es noch daneben:
Ja, das möcht‘ ich noch erleben.

 

Eine schöne Beschreibung des Alterns ist das – dieses Hin und Her. Das Wünschen nimmt Abschied, aber Sehnsucht und Hoffnung, Neugier und Lebenslust bleiben doch. Wie könnte es auch anders sein? Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagen wir. „Nur wer sich aktiv bemüht, Veränderungen in der Welt mitzukriegen, wird den Anschluss nicht verlieren“, schreibt die Altersforscherin Ursula Staudinger. „Wir wissen aus der Forschung, dass es wichtig ist, im Leben mehrere Dinge zu haben, für die man sich interessiert“. Dinge, an denen man sich reibt, mit denen man sich auseinandersetzt, gleich wie es einem selbst geht. Weil die Welt weitergeht- und weil wir sie lieben. Und die, die nach uns kommen, auch gut leben sollen. Ich erinnere mich an das letzte Buch, das auf dem Nachtisch meines sterbenden Großvaters im Krankenhaus lag – es war der katholische Holländische Katechismus, der die Neuerungen des zweiten Vatikanums aufnahm. Ökumene war keinesfalls sein Lebensthema, eher eine späte Einsicht. Dann aber mit umso mehr Ernst verfolgt. „Auf das sie alles eins seien“, steht auf seinem Grabstein- das Gebet Jesu aus dem Johannesevangelium war die Vision, das Versprechen, das sein Handeln und Nachdenken und Beten antrieb. Ein Vermächtnis auch das.

Fontane gehörte zu den Menschen, die den Zyklus ihres Lebens vor Augen hatten. Spätestens, seit er seinen Vater altersmäßig überlebt hatte, taxierte seine Kraft regelmäßig. Seit er 60 war analysierte er Blutbild und Herzschlag – er nutzte das medizinische Wissen, das ihm als Apotheker zur Verfügung stand, um seine Lebenszeit im Blick zu behalten. Denn Lebenszeit -das war für Fontane Schreibzeit. Die wichtigste Frage war also: Wieviel Zeit bleibt mir noch für mein Werk? 1895, als das kleine Gedicht entstand, hatte Fontane große Erfolge mit seinem Roman „Effi Briest“ – und arbeitete zugleich an seinem Alterswerk, dem „Stechlin“. Am Weihnachtsabend 1895 war die erste Fassung geschafft. Mit seinem Körper war er wohl eine Art Bündnis eingegangen, meint Hans-Dieter Rutsch, einer seiner Biographen, dass dieses Werk – nur dieses! – noch vollendet werden sollte. Dabei war er endlich auf dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen- der Fünfundsiebzigjährige erhielt jetzt einen Ehrensold des Kaisers von 3000 Reichsmark. Eine gute Grundlage zum Leben nach all den Jahren schlecht bezahlter journalistischer Arbeit. Zugleich aber spürte er eine zunehmende Erschöpfung- Grippeanfälle, Phasen von schweren Depressionen wie noch im Frühjahr 95. Aber das Bündnis mit seinem Körper hielt. Als Fontane im Herbst 98 starb, war der Stechlin vollendet – und darüber hinaus ein weiterer Roman und der zweite Teil seiner Biographie.

2019 ist auch Fontane -Jahr. Das Jahr seines 200.Geburstags. Ich habe mich in den letzten Tagen gefragt, was uns mit diesem Dichter verbindet- und ich glaube, es ist dieses Gefühl der Zeitenwende, das auch sein Werk bestimmt. Das Neujahrsgedicht entstand 25 Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Reichsgründung. Mehr als 28 Jahre nach der deutschen Einheit können wir diese Zeitspanne abschätzen. In der Folge hatte sich Deutschland enorm verändert. Innere Landesgrenzen waren weggefallen; Wanderungsbewegungen in die Städte waren die Folge, Wanderarbeiter aus dem benachbarten Osteuropa strömten ein – in Landwirtschaft und Industrie. Ist Preußen untergegangen oder ist Deutschland preußischer geworden, fragte man sich damals. Fontane spricht vom Wertewandel, von Werteverlusten. Manches daran kommt mir bekannt vor – nicht zuletzt das Gefühl der bleiernen Jahre in der letzten Bismarckzeit. Fontane ist ein wacher Zeitgenosse- er kämpft gegen die Interesselosigkeit, die er gelegentlich spürt.

 

3. Erkenne, was wirklich wichtig ist

„Wenn Sie einmal am Ende Ihres Lebens stehen – Was möchten Sie dann erreicht haben? Das war vor einiger Zeit die letzte Frage in einem Interview“. Ja, welche Träume habe ich noch, welche Wünsche will ich mir erfüllen? Zwei Bücher sind in Arbeit und ein Blog, ich möchte meine Coaching-Fortbildung abschließen – vieles von dem, was mir noch am Herzen liegt, entspricht einfach dem Weg, den ich seit langem beschreite. „Haben Sie einen Wunsch, den Sie sich noch erfüllen müssen?“, hat auch Iris Radisch den Schriftsteller Andrej Bitow gefragt. „Ich möchte immer nur das nächste tun, das nächste von allem, was ich noch nicht getan habe. Ich möchte, dass es eine Fortsetzung gibt“, antwortet er. „Aber im Grunde denke ich, dem Wesentlichen kann man nichts hinzufügen. Das Wesentliche kann man nicht erreichen. Man kann darum herum schreiben, schöne Verse machen, guten Wein trinken, einen guten Stuhl bauen. Mehr schafft man nicht“, so Bitow.

Jetzt ist Zeit für Träume, dachte ich, als eine Krankheit mich zum Innehalten zwang und dann zum Ausstieg aus der bisherigen Berufstätigkeit. Wenn ich will, kann ich noch einmal etwas ganz Neues machen. Ein Lokal aufmachen vielleicht oder wenigstens einen literarischen Salon? Als wir vor Jahren das alte Diakonissen- Mutterhauses in Kaiserswerth zum Hotel umbauten, hatte ich mit der Architektin lange davon geträumt. Oder sollte ich für eine Weile raus aus Deutschland und eine Aufgabe im Ausland übernehmen? Als ich für die Nahostarbeit zuständig war, war ich mir sicher, dass es spannend sein würde, die letzten Berufsjahre im Ausland zu verbringen – in einer deutschen Gemeinde vielleicht, an einer deutschen Schule. Oder vielleicht auch eine lange Reise machen, Orte der Diakonie im In- und Ausland besuchen und über die Inspirationen schreiben, die mir dort begegnen. Träume.

Und dann war ich erstaunt, wie schnell die gewohnten Mechanismen greifen- ich filtere meine Träume wie ein berufliches Projekt. Was können wir uns leisten, wo sind die gesundheitlichen Grenzen, was wird aus unserer Wohnung? Ach, überhaupt die Wohnung: Wäre es nicht sinnvoll, über ein alternsgerechtes Wohnen, eine generationenübergreifende Genossenschaft vielleicht? Ein Wohnprojekt, in dem ich auch einen Beratungsraum unterbringen könnte? Erstmal ins Ausland vielleicht, die Möbel solange unterstellen und dann ein Umzug? So viele Möglichkeiten wie lange nicht mehr.

Ich erinnere mich, dass die Fülle der Optionen mich fast erschlug, als ich auf den Schulabschluss zuging. Ein Studium oder erst einmal ein Auslandsjahr? Weit wegziehen oder erst einmal zu Hause wohnen? Die Vorstellung, mich festzulegen, wenn ich den einen oder anderen Weg einschlug, machte mir Angst – ich kannte mich nicht genug, wusste nicht, wie es sich anfühlt, Journalistin, Ärztin oder Architektin zu sein. Unbekanntes Gelände alles –selbst die besten Reisebeschreibungen sorgten nur begrenzt für Anschaulichkeit. Jetzt geht es mir manchmal umgekehrt: ich kenne die Straßen und Pfade, kann die Zeichen dechiffrieren. Spätestens zur Lebensmitte wurden die Spielräume enger; die Wege, die hinter mir lagen, legten mich auch fest. Und jetzt? Was will ich noch fortführen, was noch einmal anders machen? Gibt es vielleicht noch unerledigte Geschäfte? Habe ich den Mut, noch einmal in unbekanntes Gelände aufzubrechen, wie damals, als ich erwachsen wurde? Die neue Freiheit des Alters macht stark. Aber sie zwingt auch zur Klarheit. Manche sprechen von einem zweiten “ Coming of age“. Wieder geht es um Entscheidungen.

Das wurde dem französischen Soziologen Roland Barthes klar, als seine Mutter gestorben war. Bei aller Trauer des Abschieds – in diesem Augenblick begann für ihn ein neues Leben. Er wollte endlich tun, was ihm längst vorschwebte – er wollte einen Roman schreiben. Aber das neue Leben beginnt nicht einfach von selbst; es braucht einen bewussten Entschluss. Ich darf mich nicht festlegen lassen auf das, was ich war. Ich darf mich nicht irritieren lassen durch die Erwartungen anderer. Und ich muss bereit sein, für neue Perspektiven.

Die Philosophin Margarete Mitscherlich, die 95 Jahre alt wurde und sich bis zuletzt gesellschaftlich einmischte, hat das in einem Rundfunkinterview so formuliert: „Viele Dinge, die einem früher sehr wichtig waren, die werden unwichtig. Man erkennt auch, was wirklich wichtig ist im Leben. Man erkennt das stärker, genauer. Illusionen benötigt man irgendwie doch sehr viel weniger. Das Denken wird eindeutiger und vorurteilsfreier. In jedem Fall will ich lieber provozieren – zum Nachdenken anregen, was heute sinnvoll und was unsinnig ist – als eine weise Alte werden.“ Auch Fontane unterscheidet, was sinnvoll ist und was keine Bedeutung mehr hat.

Eigentlich ist alles nichts, heute hält’s, und morgen bricht’s,

Hin stirbt alles, ganz geringe wird der Wert der ird’schen Dinge;

Aber mein Enkel, so viel ist richtig, wird mit nächstem vorschulpflichtig,

Und in etwa vierzehn Tagen wird er eine Mappe tragen,

Löschblätter will ich ins Heft ihm kleben -Ja, das möcht‘ ich noch erleben.

 

4. Werde, wer Du bist

„Noch bist du da. / Wirf deine Angst in die Luft. / Bald ist deine Zeit um/ bald wächst der Himmel/ unter dem Gras/ fallen deine Träume ins Nirgends.

Noch duftet die Nelke/ singt die Drossel/ noch darfst du lieben/ Worte verschenken/ noch bist du da/ sei was du bist/ gib, was du hast“, schrieb die jüdische Dichterin Rose Ausländer gegen Ende ihres Lebens.

1901 in Czernowitz geboren- eine Bürgerin des 20. Jahrhunderts mit all seinen Schrecken, die sich zu Fontanes Zeit erst ankündigten- in wachsendem Nationalismus und Antisemitismus. Eine Vielfachüberlebende. Geflüchtete, Migrantin, die am Ende in einem Düsseldorfer Altenheim starb. Was sie schreibt, gilt aber nicht nur den Alten- vielleicht gilt es gerade den Nachgeborenen; jedenfalls ist es einer Schulklasse gewidmet. „Noch bist Du da-sei, was Du bist, gibt, was Du hast.“ Erkennen, was wirklich wichtig ist, das heißt eben, erkennen, was mir wirklich wichtig ist. Und: warum ich wirklich wichtig bin. Was einen Unterschied macht in meinem Leben- und womit ich einen Unterschied machen kann, würde man in Amerika sagen. In den Sternen steht das nicht geschrieben, vielleicht aber in meinen Träumen. Und da, wo meine Gaben auf unsere Aufgaben, die gemeinsamen Herausforderungen stoßen. Wo ich Bürgerin bin in meiner Zeit- Zeitgenossin eben.

Vielleicht haben Sie schon einmal von der Löffelliste gehört. Gemeint ist eine große oder kleine Liste auf der steht, was für Träume wir uns noch erfüllen wollen. In Robert Reiners Film „Das Beste kommt zum Schluss“ von 2007 wurde sie bekannt – die Bucketlist, übersetzt die Löffelliste. In dem Film mit Jack Nicholson liegen zwei krebskranke Männer, die kaum gegensätzlicher sein könnten, in einem Krankenzimmer. Und beide erfahren, dass sie nur noch sechs bis zwölf Monate zu leben haben. Da beginnt einer der beiden eine Liste der Dinge zu erstellen, die er in seinem Leben noch tun will, bevor er den Löffel abgibt. Die Idee dazu stammt aus der Zeit seines Philosophiestudiums, als er diese Aufgabe als Übung aufgetragen bekam. Er schreibt einige Punkte auf – dann landet die Liste zerknüllt auf dem Boden. Sein Bettnachbar findet sie und schreibt weiter, was ihm am Herzen liegt. So entsteht die gemeinsame „Bucket List“: Ein Fallschirmsprung, eine Reise zu den Pyramiden, der Wunsch einem fremden Menschen etwas Gutes tun oder so sehr zu lachen, bis man weint. Der Film erzählt, wie die beiden sich tatsächlich auf die Reise begeben und dabei zu Freunden werden. Und am Ende unterstützen sie sich darin zu verstehen, dass es nicht um den Taj Mahall oder den schnellsten Wagen, sondern um Freundschaft und Versöhnung.

Ich hatte meine Liste schon begonnen, bevor der Begriff „Löffelliste“ durch die Blogs geisterte- und manchmal schon habe ich mit leisem Lachen festgestellt, dass einiges, was darauf steht, nicht mehr wichtig ist. Aber es ist schön, die liegengebliebenen Aufgaben, die losen Projekte noch einmal aufzunehmen, die man im Stress des beruflichen Alltags fast vergisst.

Die Stern-Kolumnistin Maike Winnemuth, die damit bekannt wurde, dass sie ein Jahr lang um die Welt reiste und nur von ihren Reportagen lebte, entdeckte das an einem Totensonntag in der Kirche St. Petri in Hamburg. Bei einem Gottesdienst für die Verstorbenen, die einsam und ohne einen Angehörigen gegangen sind. „Seit jenem Nachmittag habe ich begonnen, aufzuräumen in meinem Leben“, schreibt sie. „Ich wühle mich gerade durch Dinge, die ich seit Jahren vor mir herschiebe- Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht, Testament-; ich ordne mein Zeug, ich hefte ab, ich werfe weg, ich kündige dies und das. Sollte ich plötzlich umkippen, soll es zumindest in dieser Hinsicht einfach sein für meine Hinterbliebenen… Aber wichtiger noch sind die losen Fäden, die abgebrochenen Konversationen, vernachlässigten Freundschaften, ungesagten Sätze, aus denen jedes Leben irgendwann besteht, die werden jetzt repariert. Jeden Morgen schreibe ich derzeit eine Stunde lang Mails. An Leute, die lange nichts von mir gehört haben… „Wie schön“, höre ich zurück. „Endlich mal wieder“, und „Lass uns doch.“. Es ist ganz leicht. Aber man muss es auch machen. Es ist so viel wichtiger als fast alles, womit wir unsere Zeit verbringen (Stern 8.12.16 – S. 136).

„Wenn man sich gedanklich damit befasst, das Leben von hinten zu betrachten- mit dem letzten Tag als Startpunkt und dann dabei versucht, nach Geschichten zu suchen, die erzählenswert sind, dann wird es interessant. Wann kannst du sagen: jawohl, ich habe gelebt?“ fragt auch Evelyn Wenzel, die Autorin des „Lebensfreude-Blogs“. Und sie kommt zu dem Schluss, dass die bewegendsten Momente nicht die sind, in denen wir in unserer Komfortzone vor uns hindümpeln. „Meine „Geschichten des Lebens“ sind sehr emotional, mich bewegend, teilweise sehr belastend, aber am Ende immer extrem bereichernd. Doch was habe ich noch vor? Nun bin ich 37 und wenn alles gut läuft, habe ich noch mehr als die Hälfte meines Lebens vor mir. Es steht also noch eine Menge an. Welche Geschichten will ich noch erleben?“

Mein Leben muss nicht aufregend und beeindruckend werden – aber es soll wahrhaftig sein. Es soll mein Leben sein, in dem ich meine Träume und Visionen lebe, anstatt auf einen optimalen Moment zu warten (…, wenn die Kinder größer sind, dann…, wenn ich mehr Zeit habe, dann…).“Obwohl ich mich beruflich sehr intensiv mit Zielen und Visionen beschäftige und auch verschiedenste Lebenspläne begleite, habe ich doch tatsächlich noch nie meine eigene Löffelliste erstellt“, schreibt Evelyn Wenzel. „Dann tue ich es eben genau jetzt – denn es ist ja bekanntlich nie zu spät für eine gute Idee.

Und dann notiert Evelyn Wenzel die Fragen, die ihr geholfen haben, die eigene Löffelliste zu erstellen- sie können auch anderen helfen auf dem Weg dahin:

  • Was würdest du tun wollen, wenn du unbegrenzt Zeit und Geld zur Verfügung hättest?
  • Was würdest du noch tun wollen, wenn du nur noch zwei Wochen zu leben hättest?
  • Wovon hast du früher immer wieder geträumt?
  • Was möchtest du auf diesem Planeten noch unbedingt sehen oder erleben?
  • Welche Ziele willst du noch erreichen?
  • Welche Erfahrung möchtest du noch machen?
  • Gibt es etwas, das du noch lernen möchtest?
  • Mit welchen Menschen möchtest du zusammentreffen?
  • Gibt es schwebende Konflikte, die du noch lösen möchtest?
  • Gibt es Dinge, die du bestimmten Menschen noch sagen möchtest?

 

Und hier ein Auszug aus Evelyns Löffelliste:

1. Spanisch lernen. (begonnen im April 2014!)

2. Menschen, die in einem Hospiz im Sterben liegen, begleiten und ihnen Mut machen auf ihrem letzten Weg. (Zwar nicht im Hospiz, aber begleitet)

3. Ein Gemeinschaftswohnprojekt verwirklichen mit mehreren Familien und einem Gemeinschaftsgarten.

4. Reisen: Australien, Peru, Kolumbien und Kuba.

5. Polarlichter live sehen.

6. Mit einer Frauenband auftreten und singen.

7. Eine Schule gründen, in der Lernen Spaß macht und die Kinder Begeisterung erleben. (Dieses Projekt habe ich 2014begonnen, aber mittlerweile aufgegeben, da sich zwischenzeitlich mehrere Angebote in dieser Richtung entfaltet haben – was ganz wunderbar ist)

8. Noch ein Buch schreiben.

9. Mit meinem Blog 5000 Besucher pro Tag erreichen.

10. Ein wahrhaftig herzliches Verhältnis zu meinem kleinen Bruder.

11. Meinen Kindern immer eine Freundin sein können. (geschafft)

Evelyn Wenzels Löffelliste bleibt in Bewegung- so wie meine. Das muss so sein, wenn wir in unserer Zeit leben- und unsere Träume erden. Mit all den Enttäuschungen, die dann eben auch dazu gehören. Übrigens stelle ich mir vor, was Fontane ohne seine Träume gewesen wäre. Er war einer der ersten, der versucht hat, vom Schreiben eine Familie zu ernähren. 1891 schreibt er an Emilie, seine Frau: „Das Endresultat ist immer eine Art dankbares Staunen darüber, dass man, von so schwachen wirtschaftlichen Fundamenten aus, überhaupt hat leben, 4 Kinder großziehen, in der Welt umherkutschieren und stellenweis eine kleine Rolle spielen können. Alles auf nichts andres hin, als auf die Fähigkeit, ein mittleres lyrisches Gedicht und eine etwas bessere Ballade schreiben zu können…Zurückblickend komme ich mir doch vor wie der Reiter über den Bodensee in der gleichnamigen Ballade von Gustav Schwab.“ Vielleicht entsteht dieses Erstaunen, entsteht diese Dankbarkeit genau dann, wenn wir unseren Träumen wirklich gefolgt sind und das Leben, nein, unser Leben, gewagt haben.

 

5. Dem Vergangenen Dank

„Dem Vergangenen: Dank, dem kommenden: Ja!“ Auch das ist ein Neujahrsvers – ein ganz kurzer. Dag Hammerskjöld, der spätere Uno-Generalsekretär, schrieb diese Worte an der Jahreswende 1953 in sein Tagebuch. Kurz vor seinem gewaltsamen Tod im Jahr 1961 schrieb er dazu: „Ich weiß nicht, wer- oder was- die Frage stellte. Ich weiß nicht, wann sie gestellt wurde. Ich weiß nicht, ob ich antwortete. Aber einmal antwortete ich Ja zu jemanden- oder zu etwas. Von dieser Stunde her rührt die Gewissheit, dass das Dasein sinnvoll ist und dass darum mein Leben, in Unterwerfung, ein Ziel hat. Seither hat das Wort Mut seinen Sinn verloren, da ja nicht mehr genommen werden konnte.“ Das ist nun eine innere Gewissheit, die ich so bei Fontane nicht gefunden habe- dort lese ich eher Fragen und Staunen, dass der Ritt über den Bodensee gelingt.

Gotthard Fuchs, ein katholischer Theologe, spricht- mit einem Begriff von Robert Musil- über Hammerskjölds „Möglichkeitssinn“. Dieser Möglichkeitssinn habe nichts zu tun mit blauäugiger Träumerei, aber auch nichts mit einem resignierten Realismus. Dieser Möglichkeitssinn setze darauf, dass für Gott nichts unmöglich ist, dass er alles neu machen kann – auf diesem Grund kann er sich engagieren für Veränderbarkeit der Welt. Gotthard Fuchs zitiert Bonhoeffer, einen Zeitgenossen Hammerskjölds und Rose Ausländers: „Nur aus dem Unmöglichen kann die Welt erneuert werden: dies Unmögliche ist der Segen Gottes.“ Vom Unmöglichen her die Welt erneuern- das ist, wie die Löffelliste vom letzten Tag aus schreiben und die Tage vom Ende her zählen. Leider wagen wir ja kaum noch, das Unmögliche zu denken. Manche träumen trotzdem von einer Post-Wachstumsgesellschaft, von der Republik Europa oder vom Bedingungslosen Grundeinkommen. Ob das Wege weist? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, wie notwendig es ist, immer wieder über das scheinbar selbstverständlich Gegebene hinaus zu denken. Den Rahmen zu sprengen und wirklich Neues zu erwarten. Manchmal fängt es übrigens ganz unspektakulär an – so wie Weihnachten.

Auch den Segen erkennt man oft nicht gleich. Man sieht ihn man am besten im Rückblick. Auch Dankbarkeit wächst im Rückblick. Deshalb finde ich es wunderbar, dass dem neuen Jahr Weihnachten voraus geht – und die Tage zwischen den Jahren als eine Vermählung von Rückblick und Ausblick. Das Weihnachtsgedicht von Theodor Fontane, mit dem ich schließen möchte, ist nur wenige Jahre jünger – es stammt von 1890 – und es ist in vieler Hinsicht ein dankbarer Rückblick:

Noch einmal ein Weihnachtsfest,

Immer kleiner wird der Rest,

Aber nehm ich so die Summe,

Alles Grade, alles Krumme,

Alles Falsche, alles Rechte,

Alles Gute, alles Schlechte –

Rechnet sich aus all dem Braus

Doch ein richtig Leben heraus.

Und dies können ist das Beste

Wohl bei diesem Weihnachtsfeste.

 

Ein richtiges Leben – da sagt einer Ja zu dem, was war – zu seinen Träumen wie zu seiner Realität. Und nimmt daraus Kraft für die weitere Arbeit. Das wünsche ich mir und Ihnen auch an diesem Jahreswechsel.

 

Cornelia Coenen-Marx, Pastorin und Autorin, Texte, Blog und Newsletter bei:

Hofgeismar, 29.12.18

 

Literatur
Hans- Dieter Rutsch: Der Wanderer, Das Leben des Theodor Fontane, Berlin 2018
Christine von Brühl: Gerade dadurch sind sie mir lieb – Theodor Fontanes Frauen, 2018
„Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles“ – Emilie und Theodor Fontane, Eine Ehe in Briefen, 2018
Cornelia Coenen-Marx, Noch einmal ist alles offen- Vom Geschenk des Älterwerdens, München 2016,
Cornelia Coenen-Marx, Aufbrüche in Umbrüchen, Göttingen 2015