Blickpunkt Senioren: Sorgende Gemeinde werden (Essen)

281.Älter werden – neue Chancen und Herausforderungen

„Älter werde ich später“, hieß das Buch von Iris Berben, das 2001 Jahren erschien. Da war Iris Berben 51 Jahre. Seitdem ist der Titel mehrfach aufgenommen worden – unter „Älter werden wir später“ finden sich ganze Buchreihen im Netz. Iris Berben, heute 68, erzählt, was ihr hilft, jung zu bleiben – es geht um Mode, Sport, Entspannung und Ernährung, vor allem um die Haltung. „Ich halte mich an die Regeln, aber nur, wenn sie mir gefallen“, sagte Berben kürzlich in einem Interview mit „Brigitte WIR“. In Osterwald, wo ich wohne, kommt eine solche Frau gelegentlich zum Gottesdienst. Neulich erzählte sie mir, dass sie lange in Frankreich gelebt hatte. Als sie in unser Dorf gezogen sei, hätten die Nachbarn sie alle einmal besucht; aber das sei es auch gewesen. Danach habe sich keiner mehr für sie interessiert. Sie passe eben nicht in den Seniorenclub, sei als Single viel unterwegs. Sie hat keine Enkel, aber sie hat noch Träume und Fragen. Und wenn ich mir ihr ins Gespräch komme, spüre ich ihre Neugier auf ein anderes Leben.

Annegret Zander von der Fachstelle Zweite Lebenshälfte der Evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck hat vor einiger Zeit dazu ermutigt, den Seniorenkreis abzuschaffen, wenn er nicht mehr gefragt ist. Natürlich nicht ohne den langjährigen Mitarbeitenden zu danken. Dafür mit Mut zur Offenheit und zur Lücke. Denn es ist klar: Vor allem die jungen Alten wollen sich nicht mehr betreuen lassen, sie haben vielmehr Lust auf einen neuen Aufbruch, wollen sich einbringen und einmischen, wollen gestalten. Und sie werden ja auch gebraucht und umworben. Sportvereine und Parteien, Schulen und Hospizvereine wissen: Mit den Angehörigen dieser so gesellschafts- und politikerfahrenen Generation lässt sich einiges auf die Beine stellen. Und in den letzten Jahren haben sich auch die Kirchen aufgemacht.

„Was füllt mein Leben aus? Was suche ich? Und was machen andere?“ Das sind Fragen aus dem Modellprojekt „Alter neugestalten“ der evangelischen Kirche in Württemberg. Da haben sich Gemeinden zusammengetan, die nicht einfach nur schrumpfen wollen auf den bekannten Kern. Gemeinden, die neugierig sind auf das, was die Älteren zu geben haben. „Geht da was zusammen? Es geht darum, andere Menschen kennen zu lernen, die auch ihre Herausforderungen bestehen, ihre Chancen nutzen wollen.“

Noch vor 15 Jahren gehörten 80 Prozent der über 60-jährigen dem konservativen oder traditionellen Milieu an. Mit über 65 wurde man zum Seniorenkreis eingeladen, mit 75 gab es Geburtstagsbesuche des Pfarrers. Inzwischen haben wir es mit mindestens zwei Altersgenerationen zu tun, dem dritten und vierten Lebensalter. Die heute 60- 69-jährigen haben durchweg bessere Bildungsabschlüsse und sind nach wir vor interessiert an Bildung und Reisen. Sie engagieren sich vielfältig, aber sie möchten das Leben auch genießen, Sport treiben, Musik hören – 75 Prozent der 50-59-jährigen hören am liebsten Rock- und Pop- Musik. Sender wie WDR4, die bis vor einigen Jahren vor allem deutsche Schlagermusik für diese Altersgruppe im Programm hatten, haben sich inzwischen darauf eingestellt.

Legt man den Alterssurvey von 2014 zugrunde, sind Siebzigjährige kaum weniger leistungsfähig als gesunde 55-Jährige. Und 73 Prozent der Befragten ab sechzig Jahren fühlen sich jünger, als sie es vom kalendarischen Alter her sind, und zwar im Durchschnitt 5,5 Jahre. Wir sind gesund. Aber das ist nicht das ganze Bild! Im Alterssurvey 2014 zeigen sich deutliche Gruppenunterschiede: Insbesondere Personen mit niedriger Bildung, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund sind bei allen Gesundheitsdimensionen benachteiligt. Nicht alle haben Zeit und Geld, nicht alle sind fit genug für ein Studium oder eine Kreuzfahrt.

Insgesamt aber ist das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der zweiten Lebenshälfte kontinuierlich gestiegen. Wir stehen gut da. Das gilt vor allem für die 54- bis 65-Jährigen. Dabei spielt die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit eine entscheidende Rolle. Das bedeutet aber auch, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger Beruf und Haushalts- beziehungsweise Sorgetätigkeiten vereinbaren zu müssen. Denken Sie an die Frauen, die die Betreuung der Enkelkinder und die Unterstützung ihrer betagten Eltern übernehmen. Ihr Anteil hat sich zwischen 1996 und 2014 vervierfacht. Viele von ihnen leben von relativ niedrigen Einkommen – vor allem alleinstehende oder geschiedene Frauen, die wegen der Kinder, die sie versorgt haben, nur eine kleine Rente haben.

Inzwischen findet ein Drittel der Älteren, dass digitale Technik das Leben erleichtert. Neuzugezogenen zum Beispiel helfen Projekte der digitalen Nachbarschaft – wie z. B. das Portal www.nebenan.de . Es ist auch nicht ehrenrührig, sich Unterstützung zu organisieren – vom Einkaufsservice bis zum Wäschedienst. Das nutzen auch die mobilen Berufstätigen. Und wir sind innovativ. Wer von Grundsicherung lebt, hat allerdings weit weniger Möglichkeiten, sich zusätzliche Freiheit zu „kaufen“. Aber was ich nicht kaufen kann, kann ich vielleicht tauschen oder teilen – und manches lässt sich auch gemeinsam mit Freunden und Nachbarn organisieren. Denn wir sind nachhaltig. Überall entstehen inzwischen Tauschbörsen und Reparaturcafés. Dazu braucht es die Bereitschaft zum Engagement und Kompetenzen aus Handwerk oder Verkauf und ein tragfähiges soziales Netz. Allerdings: nicht nur das ökonomische, auch das soziale Kapital ist ungleich verteilt – und wer ökonomisch benachteiligt ist, dem fehlt oft auch das Vitamin B. Da ist es gut, wenn man Kontakte zu einer Organisation hat, die Räume zur Verfügung stellt – eine Kirchengemeinde zum Beispiel oder ein Mehrgenerationenhaus.

Laut Alterssurvey hat die Mehrzahl der Älteren stabile Bezugsnetze. Zwar nehmen traditionelle Formen der Partnerschaft ab, dennoch teilen die meisten ihr Leben bis ins hohe Alter mit einer Partnerin oder einem Partner. Und schließlich spielen Freundinnen, Freunde und Wahlverwandtschaften eine immer größere Rolle. Wir sind gut eingebunden. Immerhin 40 Prozent der Älteren leben allerdings allein. Viele lieben ihre Unabhängigkeit und Einsamkeit ist für die Mehrheit kein Problem. Aber es gibt sie, die Singles ohne Freunde und Kontakte in der Nachbarschaft. Und nur noch ein Viertel der Befragten hat erwachsene Kinder am selben Ort. Und bei einem weiteren Viertel sind die Wohnungen mehr als zwei Stunden voneinander entfernt. So erhalten die über 70-jährigen immer seltener praktische Hilfe; die Quote sank um 8 Prozentpunkte von 19,5 Prozent 1996 auf 11,7 Prozent 2014. Und geschätzte 300.000 Haushaltshilfen aus Osteuropa springen ein, wo familiäre Pflege nicht mehr leistbar ist.

Alter ist vielgestaltig geworden. Generationen und Lebenslagen im Alter differenzieren sich weiter aus. Ressourcen, Bildung, Wohnbedingungen, soziale Netze und Gesundheit. Eine Auseinandersetzung mit Sorgearrangements für ältere und mit älteren Menschen muss die Verschiedenheit der Generationen, der Lebenslagen, Möglichkeiten und Bedarfe berücksichtigen, so der 7. Altenbericht von 2016.

Ein kleines Schaubild zeigt die gesellschaftspolitischen Prägungen der Alternsgenerationen. Da ist die Adenauer-Generation mit ihrem Pflichtbewusstsein und der Anpassungsbereitschaft. Und dann die 55- 69-jährigen „jungen Alten“, Generation Woodstock oder Willy Brandt, geprägt durch die sozialen Bewegungen der 60-er und 70-er Jahre. An Lebensqualität interessiert und an persönlicher Entwicklung. Sie leben oft länger am Ort, sind Kennerinnen des Quartiers und engagieren sich in Vereinen und Verbänden genauso wie in der Kirchengemeinde. Sie stärken die Eckpfeiler des nachbarschaftlichen Lebens, gründen Stadtteilläden und Nachbarschaftscafés oder Bürgerbuslinien. Und sie organisieren sich auch in Parteien. Bei der letzten Kommunalwahl wurde mir klar, dass es vor allem Freiberufler, Hausfrauen, Migranten und eben junge Alte sind, die sich für ihren Ortsteil engagieren – für den öffentlichen Nahverkehr oder die Schwimmbäder. Dabei geht es keinesfalls um selbstvergessenen Altruismus. Gerade die Älteren, die sich engagieren, tun das auch für sich selbst. Engagement ist Teilhabe und stärkt Teilhabe. Wer sich engagiert, gewinnt zugleich neue Beziehungen und eigene Netzwerke, Lebensvertiefung und soziale Kompetenzen. „Ich für mich. Ich mit anderen für mich. Ich mit anderen für andere. Andere mit anderen für mich“, schreibt Margret Schunk, die auch beim Projekt „Alter neugestalten“ in Stuttgart beteiligt ist „Weil wir uns vorgenommen haben, etwas gemeinsam zu tun, was uns allen nützt, was uns allen hilft. Eine Gemeinschaft soll entstehen und wachsen können, dass uns allen etwas bringt.“

„Es ist einfach notwendig, als Bürger da zu sein“, schreibt Annelie Keil, die sich mit Henning Scherf zusammen seit Jahren für neue Wohnprojekte und Nachbarschaftsarbeit Älterer engagiert. „Zivilgesellschaftliches Engagement ist kein Zuckerbrot, kein Nachtisch zu den Hauptmahlzeiten des Lebens nach dem Motto: Jetzt habe ich noch ein bisschen Zeit. Nein, die Notwendigkeit wird leibhaftig erlebt… Der Weg muss vom Einzelnen in die Gemeinschaft gehen. Und umgekehrt tue ich ja alles, was ich noch für die Gemeinschaft tue, im Wesentlichen für mich. Und dann durchbricht sie das Dogma vom aktiven Altern: „Wenn ich als alleinlebende Frau nicht mehr hinausgehe, in meine Suppenküche oder zu einem Vortrag oder in die Schule, um mit den Kindern zu diskutieren, dann wird mein Leben ärmer. Aber müssen müssen wir nicht mehr. Wer krank ist und Gebrechen hat, oder einfach nichts mehr leisten möchte, muss auch auf dem Sofa alt werden dürfen.“

 

2.Unter den Dächern der Nachbarschaft – Sorgende Gemeinschaften

Je älter wir werden, desto mehr sind wir auch selbst auf soziale Netze angewiesen. Das betrifft besonders die Hochaltrigen. „Die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben“, sagt Prof. Eckart Hammer aus dem Beirat des Projekts „Alter neu gestalten.“ Dabei ist es keinesfalls so, als ob alt sein unbedingt Pflegebedürftigkeit nach sich zieht. Tatsächlich braucht nur ein kleiner Teil der Älteren Pflege: Es sind zwischen 70 und 75: 5 Prozent, zwischen 75 und 80: 10, zwischen 80 und 85: 20 Prozent, erst zwischen 85 und 90: 40 Prozent. Ähnliches gilt für die Demenz. Und gerade hier wissen wir, dass ein gesunder Lebensstil und ein überschaubares, vertrautes Umfeld viel dazu beitragen, dass die Erkrankung sich nicht verschlimmert.

Vor gut 20 Jahren hat der Gütersloher Sozialpsychiater Klaus Dörner die Einrichtungen und Verbände der Altenhilfe provoziert; er forderte die Auflösung der Heime – wie vorher schon durchaus erfolgreich für Psychiatrie und Behindertenhilfe. „Ich will alt werden und sterben, wo ich dazugehöre habe“ – Klaus Dörners eingängiger Satz stand paradigmatisch für einen neuen Umgang mit Alter, Pflegebedürftigkeit und Sterben. Seitdem haben sich die Einrichtungen der Altenhilfe differenziert; mit betreutem Wohnen und Kurzzeitpflege, ambulanter Pflege und hauswirtschaftlichen Hilfen, mit Cafés und vielfältigen Kooperationen immer mehr ins Quartier geöffnet. Klaus Dörner hat viel angestoßen: Auch Stadtplanung, Architekturbüros und Wohnungsbaugesellschaften machen öfter ernst damit, dass in den neuen Wohnquartieren Rollatoren wie Kinderwagen über die Schwelle kommen müssen. Dennoch: Seit Einführung der Pflegeversicherung ist der Trend zur stationären Pflege kaum abgemildert – trotz des Grundsatzes „ambulant vor stationär“. Der prozentuale Anteil der Pflegebedürftigen in Heimen ist nur geringfügig gesunken; die absoluten Zahlen steigen angesichts des demographischen Wandels ohnehin.

Allerdings werden nach wie vor zwei Drittel der Pflegebedürftigen oder 1,5 Mio. Menschen in Deutschland von Angehörigen gepflegt – oft mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes. Das sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege, die am schlechtesten bezahlt werden. Und die Schwiegertöchter, die die kranke Mutter über Jahre pflegen, die Männer, die ihre Frauen pflegen – sie verzichten auf eigenes Einkommen und Karriere und werden oft nicht einmal gesehen. Sie verschwinden einfach aus dem Kollegen- und Freundeskreis, haben keine Zeit und kein Geld mehr für Einkaufsbummel und Geburtstagsbesuche, für Urlaub oder den Friseur. Neun Jahre dauert die häusliche Pflege im Durchschnitt. Und dabei steigt das Armutsrisiko erheblich.

40 Prozent der 70- bis 85-jährigen können allerdings bei Alltagsproblemen oder im Pflegefall nicht auf Familie und Freunde zurückgreifen – sie leben allein. Auch deshalb wird die häusliche Pflege inzwischen von ca. 300.000 privaten Haushalthilfen und Pflegekräften aus Osteuropa gestützt. Es kann nicht sein, dass Menschen nur deswegen in stationäre Einrichtungen ziehen, weil die Wohnung nicht barrierearm ist oder die Versorgung zu Hause nicht gewährleistet. Weil sie mit einer chronischen Erkrankung oder ihren Finanzen nicht mehr zurechtkommen oder weil die Wege zum Einkaufen nicht mehr zu bewältigen sind. Stationäre Einrichtungen sind die teuerste Lösung. Und „ein Zuhause ist der einzige Ort, wo die eigenen Prioritäten unbeschränkte Geltung haben“, schreibt Atul Gawande in seinem Buch „Sterblich sein“, in dem er sich mit der Altenhilfe in den USA auseinandersetzt. „Zu Hause entscheidet man selbst, wie man seine Zeit verbringen will, wie man den zur Verfügung stehenden Platz aufteilt und wie man den eigenen Besitz verwaltet.“

Wenn wir wollen, dass wir auch im Alter möglichst lange in unserem Umfeld bleiben können, dann brauchen wir eine qualitativ gute und auch gut bezahlte ambulante Pflege, die Betroffene und Angehörige unterstützt – auch mit Pools von Haushaltshilfen und anderen Dienstleistern vom Einkauf bis zur Gartenarbeit. Präventive Hausbesuche gehören ebenfalls dazu. Gute Pflegeberatungsangebote sind nötig und die selbstverständliche Zusammenarbeit zwischen ambulanter Pflege, Servicewohnen, Tagespflege und Kurzzeitpflege bis hin zu stationären Angeboten und Rehazentren im Sinne einer integrierten Versorgung. Aber auch: andere Wohnformen, wie sie jetzt schon erprobt werden. Eine gute Kombination von privatem Rückzug und gemeinschaftlichen Angeboten vom Bistro bis zu Bibliothek und Gästewohnung. Architekturausstellungen und Modelle zeigen: die neuen Wohnformen sind nicht nur für Senioren interessant, sondern auch für Studierende – und warum nicht für beide gemeinsam. Notwendig ist auch eine tragfähige Infrastruktur mit Läden, öffentlichem Nahverkehr, Cafés. Vor allem aber eine aktive Bürgerschaft, die sich selbst um Dorfläden und Bürgerbusse kümmert, wo Markt und Kommunen versagen. Und natürlich starke Nachbarschaften, in denen man einander unterhalb der Schwelle professioneller und bezahlter Dienstleistungen wechselseitig hilft. Beim Einkaufen, bei kurzen Erkrankungen, beim Babysitten, bei einer Fahrt zum Arzt.

Im letzten FWS wurde deshalb zum ersten Mal die informelle, außerfamiliale Unterstützung in Freundschaft und Nachbarschaft abgefragt, soweit sie eben unentgeltlich und außerhalb beruflicher Tätigkeiten erfolgt. Es ging also nicht um gering bezahlte „Jobs“ in der Pflege – auch wenn der Übergang manchmal unscharf und der gesellschaftliche Druck gerade hier immens ist. Dabei zeigte sich: immerhin 25 Prozent engagieren sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. In der Befragung wird deutlich: die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Zu wissen, dass jemand da ist, der dich kennt, das nimmt die Einsamkeit. Und die Angst.

Es ist kein Zufall, dass das Thema „Wohnen“ so viel Gewicht bekommen hat – das gilt grundsätzlich im Blick auf verfügbaren Wohnraum und Mietpreisspiegel. Es gilt aber eben auch für die Wohnsituation von Älteren. Mehr noch als andere Gruppen sind sie auf gemischte Wohnquartiere und barrierearme Wohnungen angewiesen. Und auch ganz neue Wohnmodelle werden hier erprobt, Seniorenwohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser. Entscheidend ist, dass wir das hohe Alter nicht automatisch mit Hilfebedürftigkeit und Betreuung verknüpfen, sondern wechselseitige Hilfeleistungen und die Chancen des Zusammenlebens in den Mittelpunkt rücken. Die Hochaltrigenstudie der Universität Heidelberg von 2013 zeigt: 80 Prozent interessieren und engagieren sich gern für die nächste und übernächste Generation, sie hüten Kinder, sind gern Leihoma, helfen bei Hausaufgaben oder stehen jungen Leuten mit Rat und Tat zu Seite. So wie in den neuen Modellen des Zusammenwohnens von Älteren und Studentinnen, in denen die einen mietfreies Wohnen genießen und die anderen den einen oder anderen Dienst in ihrem Alltag – vom Einkauf bis zum Rasenmähen.

Wenn wir heute von „Caring Communities“, von Sorgenden Gemeinschaften oder auch von lokalen Verantwortungsgemeinschaften sprechen, dann geht es um solche wechselseitige Unterstützung Dabei ist der Begriff „Sorge“ ein Versuch, das englische Care zu übersetzen – es steht für alle Beziehungs- und Zuwendungsarbeit privater wie professioneller Natur. Die feministische Theorie hat den Begriff neu entdeckt und problematisiert damit die Dominanz einer ökonomisierten Sichtweise im Sozial- und Gesundheitswesen, die den Menschen zum bloßen Kunden und Empfänger von Dienstleistungen macht. „Sorgende Gemeinschaften“ – das signalisiert Zugehörigkeit, gemeinsame Werte und Verantwortungsbeziehungen, wie wir sie aus Familien und Nachbarschaften oder Freundeskreisen kennen. Und aus Kirchengemeinden. Tatsächlich sind in den letzten Jahren in vielen Gemeinden Seniorennetzwerke und Demenznetzwerke entstanden. Entscheidend ist, dass die ehrenamtlichen Netze hauptamtliche Ansprechpartner finden und die privaten Initiativen öffentliche Räume und Unterstützung bei Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit.

Darum muss auch die Verantwortung der Kommunen im Blick sein. Denn wenn wir Kommunen nicht nur als Wirtschaftsstandorte, sondern als Ort des guten Lebens begreifen wollen – dann braucht es runde Tisch, soziale Investitionen in Wohnprojekte und Infrastruktur, Engagementförderung und Öffentlichkeitsarbeit. Kurz: eine vernetzte und abgestimmte Planung, einen guten Wohlfahrtsmix. Das ist der Grund, warum der 7. Altenbericht die kommunale Verantwortung in den Mittelpunkt rückt.

 

3. Gemeinsame Sorge – Gemeinde in der Zivilgesellschaft

Trotzdem sind die Probleme noch nicht gelöst, wenn es gelingt, die Versorgung stärker zu ambulantisieren und den Städtebau zu verändern. Es geht auch um die Frage, wie es der Wirtschaft gelingen kann, Arbeitsbiographien flexibler zu gestalten, den Druck in Zeiten Pflege heraus zu nehmen und Angehörige in Pflegesituationen zu unterstützen. Sie brauchen wie Nachbarn und Ehrenamtliche mehr Unterstützung in ihrer Sorgearbeit. Denn die Zeit der Pflege schließt eben auch Sterbebegleitung, Abschiednehmen und Trauerarbeit ein. Es geht darum, sich neu einzurichten – auch in der Zusammenarbeit mit unterstützenden Dienstleistern. Das verlangt in unserer vielfältigen, mobilen Gesellschaft ein hohes Maß an Kommunikation und Absprachen. Klaus Dörners Statement heißt: „Alt werden und auch sterben, wo ich dazugehöre.“ Alt werden in der Nachbarschaft holt also den Tod und auch die Trauer in die Nachbarschaft zurück. Das verlangt ein gründliches Umdenken.

Mein Mann erzählte mir kürzlich, dass in seiner Kindheit schwarze Schleifen an den Haustüren im Viertel hingen, wenn jemand gestorben war. Oft läuteten die Glocken, die Trauerzüge zogen von der Kirche zum Friedhof und die Autos hielten sehr selbstverständlich an und die Jungs blieben stehen und zogen die Mütze ab. Das alles ist aus unseren Nachbarschaften verschwunden. Nur die Notarztwagen sind jetzt häufiger zu hören. Das Sterben wurde professionalisiert, institutionalisiert und medikalisiert. Das hat äußere und innere Gründe. Neben dem medizinisch-technischen Fortschritt spielt die Veränderung in den Familien eine Rolle: die selbstverständliche Teilnahme von Frauen an der Erwerbsgesellschaft, die zunehmende Mobilität und eben auch der demographische Wandel haben die Situation grundlegend verändert. Im Jahr 2013 starben in Deutschland 2- 3 Prozent der Patienten im Hospiz und 3- 4 Prozent auf einer Palliativstation, 48 Prozent starben m Krankenhaus, ca. 20 Prozent in Pflegeinrichtungen und etwa 25 Prozent zu Hause. Noch immer gilt das Paradox, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zu Hause sterben will – während die meisten tatsächlich in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sterben. Wir haben den Tod an Experten abgegeben. Jetzt geht es darum, die gemeinsame Sorge jenseits der erfolgreichen Medizin, jenseits von Staat, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, zu einem zivilgesellschaftlichen Leben aller Menschen zu machen.“, schreiben Annelie Keil und Hennig Scherf in ihrem Buch: „Das letzte Tabu – Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen.“

Offenbar trauen die beiden der Kirche in diesem Prozess nicht mehr so viel zu. Ich meine aber: gerade in den Gemeinden bringen wir hervorragende Voraussetzungen mit. Wo die Sparkassen sich zurückziehen, wo es kaum noch Ärzte oder Einzelhandelsgeschäfte gibt, hat die Kirche ein großes Pfund einzubringen. Kirchliche Häuser gibt es noch in fast jeder Nachbarschaft. Und manche Gemeinde hat sogar noch einen kirchlichen Friedhof. Wer nicht mehr mobil ist, erlebt mit Trauer und Sorge, wie die Wohnquartiere sich verändern – das Schrumpfen der ländlichen Räume, der demographische Wandel, aber auch Migration spielen dabei eine Rolle. So kann die alte Heimat fremd werden – und damit das „Identifikationsgehäuse“, der Ort, wo wir uns geistig, emotional und kulturell zu Hause fühlen und einen Referenzrahmen für Austausch und Teilhabe finden. Traditionell bietet Kirche einen solchen Referenzrahmen. Die Kirchen und Gemeindehäuser sind Kristallisationsort für Feste und Feiern, aber auch für Traditionen, die Halt geben. Hier gibt es Ansprechpartner auch für Tabuthemen wie Krankheit und Tod. Und noch immer viele, die sich ehrenamtlich engagieren. Kirchenvorsteher und Gruppenleiter, die ihre Nachbarschaft kennen, den Hausarzt oder die Vereine. Menschen, die Netzwerke knüpfen können. Solche Netzwerke müssen nicht von Hauptamtlichen organisiert und getragen werden – aber die Ehrenamtlichen brauchen hauptamtliche Ansprechpartner, Räume, Infrastruktur und Öffentlichkeitsarbeit.

Die Traditionen unserer Seniorenarbeit stammen allerdings aus den 60er und 70er Jahren. Und die Entwicklung von Alternativen zum Seniorenkreis gleicht einer Zeitreise direkt ins Jahr 2020. Für diese Zielgruppe braucht es heute neue Angebote – denn im Blick auf Bildung oder Unterhaltung gibt es Konkurrenz vom Fernsehen bis zu Reiseanbietern. Die Richtung heißt: Von der Betreuung zur Selbstorganisation, von der Bildung zur Begegnung. Für Menschen im Alter von plus/minus 80, die unter zunehmenden Einschränkungen leiden und kaum noch mobil sind, kann das Gemeindehaus ein wichtiger Bezugspunkt sein. Schon deswegen, weil sie weniger mobil sind. Bei den über 70-jährigen ist der Anteil der Frauen, die den Führerschein besitzen, noch immer nicht so hoch wie in jüngeren Altersgruppen. 3,1 Mio. Männer, 2,3 Mio. Frauen zwischen 70 und 79 haben eine Fahrerlaubnis. Sie sind schnell in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt, wenn der Auto fahrende Partner pflegebedürftig wird oder stirbt. So gewinnt der Nahbereich zunehmend an Bedeutung. Und damit auch die Kirchengemeinde, die oft noch fußläufig erreichbar ist. Susanne Fetzer, die ein Buch über Seniorenarbeit 80 plus geschrieben hat, betont mit Recht, dass die Häuser barrierefreie Zugänge brauchen – im Blick auf die Architektur genauso wie auf Kommunikation, was Einschränkungen im Sehen oder Hören betrifft. Und die Gruppen brauchen Abholdienste, kleine Bürgerbusse vielleicht.

Seit einigen Jahren gibt es vielerorts wöchentliche Mittagstische im Gemeindehaus, wo oft abwechselnd gekocht wird – manchmal einfach für eine Gruppe von Älteren, die nicht länger für sich allein kochen wollen. Oder auch im größeren Stil – vielleicht vernetzt mit einer Tafel, vielleicht mit einem Angebot für den nahegelegenen Kindergarten. Mir gefallen aber auch ganz einfache neue Ideen – Stadtspaziergänge mit Rollstuhl und Rollator wie der Wägelestreff in Gültlingen, Erzählcafés und Biografiewerkstätten. In Hamburg-Eilbeck gibt es eine Sütterlinstube, wo Ältere für Übersetzungsdienste zur Verfügung stehen, anderswo entstehen Schmökerstuben bei Café und Musik in der Gemeindebücherei – ganz ähnlich, wie es jetzt auch Stadtteilbibliotheken anbieten. Spannend finde ich auch die Entwicklung von Begegnungscafés auf dem Friedhof wie in Kornwestheim. Denn tatsächlich ist ja der Friedhof ein weiterer Anlaufpunkt im Quartier, den wir als Kirche, aber auch als Gesellschaft vielleicht zu lange aus den Augen verloren hatten. Erst die Hospizbewegung mit ihren Trauergruppen und mit neuen Ritualen, nicht zuletzt mit den Trauercafés, hat die Friedhöfe und die Friedhofskapellen in ein neues Licht gerückt.

Mit diesen neuen Formen der Gemeinschaft und des Engagements ist die Kirche bei ihrer eigenen Sache. Die EKD-Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“ formuliert es so: Es geht um „die Re-Sozialisierung und Revitalisierung von Kirchengemeinden, damit sie eben nicht erst auf soziale Notlagen reagieren, sondern aktiv daran mitarbeitet, funktionierende Sozialräume zu gestalten und Notlagen präventiv zu verhindern.“

 

4. Gemeinde als Caring Community

Es geht um nicht weniger als unser Selbstverständnis, um einen Mentalitätswandel. Mit ihren Angeboten in Gemeinden, Diakonie und Erwachsenenbildung hat die Kirche ganz besondere Chancen, wenn sie Ortsnähe, Professionalität und Beteiligungschancen verknüpft. Noch allerdings gibt es jede Menge überkommener Bruchlinien – zwischen beruflicher und ehrenamtlicher Arbeit, zwischen Gemeinde und Diakonie, zwischen „Altenhilfe“ und emanzipativer Seniorenbewegung, zwischen Betreuung, Versorgung und einem neuen Verständnis von Bürgerengagement, zwischen Ehrenamt in der Leitung und Engagement in Projekten.

Aber die Richtung ist klar: Kirchengemeinden können Caring Communities werden. Dafür ist es wichtig, die traditionelle Trennung zwischen Kirche und Diakonie zu überwinden – und Brücken zu schlagen im Sinne der Gemeinwesendiakonie. Kirche hat Räume, hat hauptamtliche Ansprechpartner und sie ist vielfältig mit den Stadtteilen verwoben. Gemeindehäuser sind nach wie vor Referenzpunkte und zentrale Anlaufstelle am Ort, fußläufig im Quartier erreichbar. Aber auch diakonische Einrichtungen, Altenzentren oder Tageseinrichtungen bieten soziale Professionalität und politische Erfahrung. Sie erreichen Zielgruppen jenseits der traditionellen und bürgerlichen Milieus. Wo beides zusammen kommt mit der Offenheit für bürgerschaftliches Engagement und mit modernen Bildungsangeboten, da kann wirklich Neues entstehen. Demenzbegleiter können Entlastung schaffen, damit pflegende Angehörige nicht ausbrennen. Pflegeberatung kann in schwierigen Entscheidungssituationen helfen – vorurteilsfrei und nah am Miteinander. Erwachsenenbildungseinrichtungen können Ehrenamtliche und Begleiter ausbilden und coachen. An der Fachhochschule in Freiburg entsteht gerade ein neues Projekt, das Menschen, die Erfahrung als pflegende Angehörige haben, zu ehrenamtlichen Pflegebegleitern ausbildet – mit einem genauen Blick auf die positiven Erfahrungen und Ressourcen, die in dieser Zeit geweckt werden können. Und in den Pfeifferschen Stiftungen in Halle, wo ich ehrenamtlich mitarbeite, boomt das Projekt „Letzte Hilfe“ – ein kurzer Kurs, der ganz normalen Menschen, Nachbarn, Gemeindemitgliedern hilft, mit dem Sterben zurecht zu kommen.

Gemeindehäuser eignen sich hervorragend als Plattformen für solche Angebote – als Knoten im Netz sozusagen. Das zeigt z.B. die „Inklusive Solidarische Gemeinde in Reute“ mit ganz unterschiedlichen Angeboten und über 80 Ehrenamtlichen aus allen Generationen. Ein Bürgerverein mit über 500 Mitgliedern unter dem Dach der katholischen Gemeinde, der vom Fahrdienst bis zum Besuchsdienst oder zu Oma-Opa-Enkel-Wanderungen immer neues organisiert – getragen von Beiträgen und Drittmitteln. In dem Projekt „Qualifiziert fürs Quartier“ des Evangelischen Johanneswerks in Bielefeld fängt alles mit Recherche von Sozialraumdaten, mit Experteninterview und einer Stadtteilerkundung an. Wer lebt eigentlich in unserem Stadtbezirk, wie hoch ist das Durchschnittalter, wie ist das Verhältnis von Alleinlebenden und Familien? Was wissen Ärzte und Pflegedienste darüber, wie hier gepflegt wird? Dann geht es darum, Gemeindemitglieder und andere Bürgerinnen und Bürger einzuladen, denen das Thema auf den Nägeln brennt. Pflegende Angehörige, Nachbarn und Ärztinnen zum Beispiel. Bei einem Open-Space oder in einem World-Café können gemeinsame Schritte überlegt werden. Experten werden eingebunden, neue Allianzen geschmiedet. Besuchsdienste der Gemeinden können mit Pflegediensten zusammenarbeiten. Ehrenamtsagenturen bringen Hilfesuchende und Hilfeanbietende zusammen.

Die evangelische Kirchengemeinde Lindlar nahm nicht nur die Situation ihrer Mitglieder, sondern auch die der Immobilien in der Gemeinde unter die Lupe und zog Konsequenzen. Die Kirche auf dem Hügel, die erst nach dem Krieg für die Heimatvertriebenen gebaut worden war, füllte sich nicht mehr wie früher. Viele Gemeindemitglieder waren älter geworden, sie brauchten Hilfe, um das Haus zu verlassen. Es fehlten alternsgerechte Wohnungen, Haushaltshilfen, aber auch ein Ort der Begegnung zwischen den Generationen. So entschied sich der Kirchenvorstand für einen radikalen Neuanfang: Das Pfarrhaus wurde abgerissen und ein Teil des Landes verkauft. In Zusammenarbeit mit einer kirchlichen Wohnungsbaugenossenschaft wurden barrierefreie Wohnungen errichtet. Von dem erzielten Gewinn wurde das Jubilate-Zentrum errichtet – ein Treffpunkt der Generationen. In das Wohnprojekt zog ein Pflegedienst ein und, das war der Clou des Ganzen, mit Landesmitteln für das Modellprojekt wurde ein Aufzug hinunter in die Innenstadt gebaut, damit auch Ältere wieder die Chance hatten, gut zum Einkaufen zu kommen. Das Konzept hat nicht nur die Gemeinde neu belebt, es hat auch ihren Einfluss in der Kommune gestärkt.

Aber es kann auch ganz klein anfangen. Der Schlüssel liegt darin, dass Engagierte die oft engen Mauern und die leerer gewordenen Häuser verlassen und raus gehen, um wahrzunehmen, wo es brennt – und andere einzuladen. In der Gemeinde Seeberg bei Zürich ist das auf sehr unspektakuläre Weise geschehen. Dort entwickelten sich in den Nachbarschaften kleine christliche Gemeinschaften von je 15 – 20 Personen. Menschen aller Generationen mit zwei Leitungspersönlichkeiten. Nicht alle gehörten vorher schon zur Gemeinde. Sie kommen einmal die Woche zusammen, lesen ein Stück aus der Bibel, erzählen sich wechselseitig, was sie wahrnehmen und wo es brennt, teilen ihren Tag. Und nach und nach wächst ein sehr selbstverständliches miteinander Die Geschichten, die ich dort gehört habe, waren eindrücklich. Wenn dort Feste gefeiert werden, füllt sich das Gemeindehaus mit seinem Garten – und es gibt Potlakdinner. Jeder bringt, was er hat. Und wenn einer ins Krankenhaus muss oder jemand stirbt, sind die Nachbarn da.

„Mein Traum vom Älterwerden gestalten wäre, dass Menschen jeden Alters zusammenkommen und zusammenwachsen, so selbstverständlich wie dies in vielen Familien geschieht. Vor Ort wäre mein Wunsch, dass Alter weder Krankheit noch Tabu ist.“ (Erika Haffner) Wir können dazu beitragen, dass das gelingt.

Cornelia Coenen-Marx, 27.09.2018

 

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