Aufbrüche in Umbrüchen

Über Aufbrüche will ich reden und kann gleich hier anfangen: Beim Frauenmahl. Bei Tafeln und Tischreden. Aufbrüche beginnen oft damit, dass man sich zusammensetzt und die unterschiedlichen Stimmen hört. Ich denke an die Mitglieder der „Offenen Gesellschaft“, die immer im Juni Stühle und Tische raus auf die Straße setzen – als Einladung an alle Interessierten. An Marti Dulig, der schon seit vier Jahren mit seinem Küchentisch durch Sachsens Dörfer und Städte zieht. An die Restaurants, die wieder an langen Tafeln servieren. Und natürlich an die Tafelbewegung – der es ganz materiell darum geht, Menschen zu integrieren, die sich abgehängt fühlen.

Die soziale Segmentierung zwischen Erwerbstätigen und Hilfebeziehern, zwischen Einheimischen und Migranten, Bildungsgewinnern und Bildungsverlierern, Singles und Familien zeigt sich als Spaltung in der Stadt und zwischen den Regionen. Es genügt z.B. von Hannover nach Herne zu fahren, um in einer anderen Welt zu sein. Stadtplanung ist gefragt, sozialer Wohnungsbau und gemischte Quartiere werden gebraucht. Aber die Kommunen ächzen unter dem Finanzdruck, der allein durch Transferleistungen entsteht. Eine wachsende Zahl der Bürgerinnen und Bürger ist von solchen Leistungen abhängig – eben weil das Arbeitseinkommen nicht reicht, um die Familie zu ernähren, weil Langzeitarbeitslose vom Aufschwung am Arbeitsmarkt nicht profitieren, weil die Pflegeversicherung die Kosten für die Pflege nicht deckt. So haben viele Städte längst die Notbremse gezogen: haben Verkehrs- und Energiebetriebe und auch den sozialen Wohnungsbestand verkauft. Ein Teufelskreis.

In der Enzyklika „Laudato si“ hat Papst Franziskus ganz wunderbar beschrieben, weshalb die öffentlichen Plätze in der Stadt, die Parks und die Flussufer, die die Bänke auf dem Marktplatz wichtig sind – vor allem für die, die kaum privaten Lebensraum haben. Es hat eine Weile gedauert, bis Kirchengemeinden verstanden haben, über welche Schätze sie noch verfügen: Kirchen, Gemeindehäuser, Gärten, Bau- und Ackerland. Bei schrumpfenden Mitteln galt auch in der Kirche manches nur noch als Ballast. Fusionsprozesse führten zu Schließungen, hier und da war man froh, wenn Diakonie oder Caritas das Haus noch brauchen konnte. Seit einiger Zeit aber blitzt immer öfter eine Entdeckung auf: Wo Krankenhäuser und Schulen längst geschlossen sind, die Sparkassen sich zurückziehen, sind die Kirchen noch da. Fußläufig, vertraut. Da ist Raum für gemeinsame Mittagstische und interkulturelle Gärten, für Ehrenamtsbörsen, Chöre und runde Tische im Stadtteil. Öffentlicher Raum – und wenn wir ihn selbst nicht mehr füllen können, finden sich Partner im Quartier – ein Dorfladen vielleicht oder eine Tanzschule.

„Die Kirche hat ihren Zweck nicht in sich selber und nicht in ihrer eigenen Existenz, sondern lebt von etwas und ist für etwas da, das weit über sie hinausreicht. Will man das Geheimnis ihrer Existenz begreifen, so muss man nach ihrer Sendung fragen. Will man ihr Wesen ergründen, so muss man nach der Zukunft fragen, auf die sie ihre Hoffnung setzt. Ist die Christenheit selbst in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen unsicher und orientierungslos geworden, dann muss sie sich wieder darauf besinnen, wozu sie da ist und worauf sie aus ist“, schrieb Jürgen Moltmann schon 1964.

Der klare und verlässliche Rahmen, in dem viele von uns noch aufgewachsen sind, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie für Familienbilder, für Biographien wie für Berufswege, für Traditionen und Rituale und natürlich auch für die Kirche. Heute wohnen die allermeisten Menschen nicht mehr an dem Platz, an dem sie arbeiten, ja- wir wechseln Wohnort und Arbeitsplatz und auch Familienkonstellation und Lebensform oft mehrfach im Leben. 40 Prozent der Älteren leben allein. Alte und Pflegebedürftige, aber auch Alleinerziehende mit kleinen Kindern geraten enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen, Nachbarn und Freunden zurückgreifen können. Gemeinsame Mahlzeiten in den Familien sind selten geworden – oft gelingt das nur noch am Wochenende. „Der moderne Individualismus steht nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel… hat der Soziologe Richard Sennett geschrieben. Er schwächt die Rituale und damit unsere Bindungen. Es genügt, sich den Wandel bei Beerdigungen klar zu machen, um zu begreifen: Bestattungen werden vielfältiger, aber es kommen immer weniger Menschen zusammen. Die Gesellschaft differenziert sich, aber die Solidarität schwindet. Viele spüren diesen Mangel – sie spüren ihn als spirituelle Sehnsucht. Und manchmal entstehen daraus Aufbrüche!

Neue Wohngemeinschaften, soziale Nachbarschaften, Mehrgenerationenhäuser wachsen aus dem Boden. Zum Beispiel auf Schloss Blumenthal in Bayern. Da hat sich eine bunte Mischung von Individualisten zusammengetan. Ihre Zukunftsvision ist ein Grundeinkommen für jedes Mitglied und eine gemeinsame Altersversorgung aus dem Gewinn der Betriebe. Ein Hotel mit achtzig Betten in einem alten Herrenhaus und ein Gasthaus im Park bilden die wirtschaftliche Basis. „Aber wir stehen hier immer vor der Frage, wie sieht unsere Balance zwischen Ökonomie und Gemeinschaft aus“, sagt der Geschäftsführer, Martin Horack. Das ist wohl die Grundfrage unserer Gesellschaft.

Wenn es nicht gelingt, den absoluten Vorrang des ökonomischen Denkens in Frage zu stellen, dann bricht etwas auseinander in unseren Städten, aber auch in unseren Familien. Je öfter wir Arbeits- und Lebensorte wechseln, desto mehr suchen wir Menschen, auf die wir uns verlassen können. Je radikaler die Digitalisierung unser Leben verändert, desto mehr brauchen wir Orte und Erfahrungen, die uns berühren. Ein gedeckter Tisch mit Freunden – da wächst das Gefühl von Familie.

Auch die ersten Christinnen und Christen bildeten Wahlfamilien. Sie nannten sich Brüder und Schwestern – quer über die gesellschaftlichen Schichten, die kulturelle Herkunft, ja, sogar die Geschlechterschranken hinweg: Juden und Griechen, Männer und Frauen, Sklaven und Bürger – unglaublich. In der Apostelgeschichte, die von diesem Aufbruch erzählt, ist übrigens oft von gemeinsamen Tafeln die Rede. Im doppelten Sinne des Wortes – Essensversorgung und Tischgemeinschaft. Was für eine Mut machende Tradition! Auf einer Familientagung in Chemnitz (genau da) kam vor kurzem die Idee auf, gemeinsam einen Plattenbau zu mieten – für Familien aus der Gemeinde. Das ging zurück auf die Erfahrung, dass Christinnen und Christen zum Teil wieder kleine Minderheiten bilden – aber Minderheiten, die mit ihrem Lebensstil anziehend wirken können. So kommt das Neue in die Welt: dass wir unsere eigenen Erfahrungen ernst nehmen – auch und gerade die Brüche, die Verluste, unsere Sehnsucht. Dass wir uns zusammensetzen, füreinander sorgen, einen neuen Aufbruch wagen. Wie in Lindlar im Bergischen Land. Da wurde das Gemeindehaus zum Mehrgenerationentreff. Oder im Kiez in Herne, wo aus dem Gemeindehaus ein Stadtteilzentrum wurde. Da finden jetzt Taufen auf dem Marktplatz am Brunnen statt.

1933, als die Nazis Deutschland mehr und mehr prägte, schrieb der Theologe Dietrich Bonhoeffer: „Dienet der Zeit“ „…Es heißt nur die… Gestalt unserer Zeit zu verstehen und in unserer Lebensführung darzustellen, so werden wir mitten in unserer Zeit auf die heilige Gegenwart Gottes stoßen“.  Manche meinen, es sei zeitgeistig, wenn die Kirche sich auf die gesellschaftlichen Umbrüche einlässt. Ich glaube, das ist der Weg, Gottes Gegenwart zu entdecken. Zum Beispiel bei der ökumenischen Aktion „Kirche findet Stadt“. Oder hier bei den Tischgesprächen.

 

Cornelia Coenen-Marx, Frauenmahl Hofgeismar, 08.09.2018