Haupt- und Ehrenamt: Miteinander im Wandel

1.Klartext reden

„Wann kann ich schon im Job sagen, was ich für richtig halte, ohne dabei ein Blatt vor dem Mund zu nehmen? Ist es nicht so, dass man sich als Angestellter oft nicht traut, die eigene Wahrheit zu äußern? Schließlich steht der Job auf dem Spiel. Dann lieber kuschen und nichts sagen. Brauchst Du alles nicht, wenn du ehrenamtlich arbeitest. Da kannst du Klartext reden, wenn sich etwas unstimmig anfühlt. Das muss man allerdings auch erst einmal lernen. Selbst wenn nichts auf dem Spiel steht, ist es nicht so einfach, für sich selbst einzustehen. Erst mal wirken noch die Gewohnheiten von früher: Der Chef wird es schon wissen.“

Bärbel Mohr schreibt in ihrem Buch „Arbeitslos und trotzdem glücklich“, das ich im Kontext einer Tagung zur Langzeitarbeitslosigkeit gelesen habe. Ehrenamtliche Tätigkeiten hätten ihrem Selbstbewusstsein einen ordentlichen Schub verliehen. Es war allerdings ein Weg mit Hindernissen. Sie erzählt von einem Einsatz als Lese-Oma in einer Tageseinrichtung, von einer Vorleseausbildung über die Freiwilligenagentur der AWO und auch vom Einlesen von Büchern und Zeitschriften für Blinde und sehbehinderte Menschen. „Irgendwann stellte man mir dann auch Mikro und Aufnahmegerät zur Verfügung, um zu Hause weiterzuarbeiten. Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, setzte ich mich an meinen Computer und sprach mit großem Spaß Hörbücher auf. Hier kam es zu einer herausfordernden Situation, in der ich üben durfte, zu mir zu stehen. Es ging um eine Kirchenzeitung für Blinde. Das Problem: Obwohl die Blätter nur monatlich oder zweiwöchentlich erschienen, erhielt ich die Texte erst am Abend vorher. Das bedeutete unweigerliche Nachtschicht…“

„Also sprach ich mit dem Pfarrer, von dem ich die Texte erhielt. Ich bat ihn, sie ein bis zwei Tage früher zu besorgen, so dass ich das Aufsprechen tagsüber erledigen konnte. Aber warum auch immer – ich bekam die Texte weiterhin genauso so spät. Als ich dem Pfarrer mitteilte, dass ich das nun nicht mehr mitmachen würde, sagte er: Das können Sie doch gar nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass Sie die Blinden so im Stich lassen. Er hatte offenbar kein schlechtes Gewissen dabei, mich auszunutzen.“, schreibt Mohr. Und sie fährt fort: „Deshalb habe ich dem Herrn Pfarrer freundlich, aber klar Lebewohl gesagt. Du musst nichts als ehrenamtliche Kraft. Das ist eines der großen Geschenke: Du kannst dich selbst erproben. Du kannst dich selbst neu kennenlernen. Du kannst deine Berufung finden.“

 

2. Berufung und Bezahlung

„Berufung“ – ein alter kirchlicher Begriff ist plötzlich wieder aufgeploppt. Es geht darum, etwas zu finden, was unseren Einsatz und unsere Hingabe lohnt. Manche lassen sich auf einer Reise inspirieren und bewegen, andere durchleben eine Krankheit, landen in einer beruflichen Sackgasse und entdecken dann einen alten Traum, einen neuen Lebenssinn. Die Arbeit, sagen sie, sollte auch die eigene Seele füttern. Wo der Brotberuf das nicht bringt, kann es auch ein Nebenjob sein. Oder eben ein Ehrenamt. Viele Menschen sehnen sich danach, etwas Sinnvolles zu tun, gebraucht zu werden.

„Du musst nichts. Du kannst Dich selbst neu kennenlernen.“ Freiwilliges Engagement ist Ausdruck der eigenen, aktiven Gestaltung des Lebens. Es lebt aus intrinsischer Motivation – äußerer Druck und monetäre Anreize passen nicht dazu.

Ehrenamtliche entscheiden sich für die Arbeit und die Beziehung – und nicht für den Lohn (Bieg/Wehner). Sie folgen der Ökonomie der Aufmerksamkeit, nicht der des Geldes: „Würde ich dafür bezahlt, würde ich es nicht machen.“

Bei aller Selbstbestimmung ist ehrenamtliches Engagement meist in Strukturen verankert und darin verbindlich und verantwortlich – sei es formal im Sinne eines Wahlamtes, sei es in der festen Übernahme einer Aufgabe in einer Organisation oder in persönlichen Absprachen in Gruppen und Netzwerken.

Aber immerhin 10 Prozent der beim FWS Befragten organisieren ihr Ehrenamt inzwischen unabhängig von Trägern. Und auch die Übergänge zwischen Familien- und Nachbarschaftshilfe, Selbstorganisation und Ehrenamt werden fließender.

Ehrenamt – Freiwilliges oder bürgerschaftliches Engagement: Alle Versuche, zu einem gemeinsamen Begriff zu kommen, scheitern an der bunten Realität. Die Unterschiedlichkeit der Begriffe verweist auf eine unterschiedliche Fokussierung. So wird im Kontext der freien Wohlfahrtspflege die inzwischen in hohem Maße durch berufliche Mitarbeit bestimmt ist, lieber von Freiwilligem Engagement gesprochen, um die Aspekte von Selbstbestimmung, Freiwilligkeit und Gemeinwohlorientierung in den Vordergrund zu rücken. Im politischen Kontext wird im Zusammenhang mit einem neuen Verständnis eines aktiven Sozialstaats lieber von zivilgesellschaftlichem oder bürgerschaftlichem Engagement gesprochen. Und in den Kirchen dominiert der Begriff Ehrenamt. Damit werden, neben den anderen Aspekten, die Verbindlichkeit, Verantwortlichkeit und Zusammenarbeit besonders betont.

Ehren- „Amt“ verweist immer auf eine öffentliche Organisation – Staat, Verein oder Kirche. Deshalb ist es wichtig, sich den gesellschaftlichen Wandel klar zu machen: Ehrenamtliche „gehören“ keiner Organisation. Im Gegenteil: Sie sind es, die mit ihren Ideen nach den passenden Einsatzfeldern suchen und Innovationen vorantreiben. Inzwischen sind vierzig Prozent der Engagierten in der evangelischen Kirche sind auch an anderer Stelle aktiv. Engagementagenturen, Freiwilligenbüros, Ehrenamtsmessen zeigen: Ehrenamt ist institutionsübergreifend.

Bärbel Mohr, von der wir am Anfang gehört haben, ist in mancher Hinsicht typisch – und zugleich auf erfrischend Rat untypisch: Das soziale Engagement ist noch immer Frauensache. Bei einer Caritasuntersuchung 2007 waren noch 70 Prozent der Ehrenamtlichen Frauen, 56 Prozent davon 60 Jahre oder älter. Entsprechend gering war mit 31 Prozent der Anteil der Berufstätigen. Und Frauen finden die Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Kirche nicht wirklich zufriedenstellend. Auf die Frage, ob sie ausreichende Mitgestaltungsmöglichkeiten hätten, antworten 74% aller Befragten mit Ja – aber nur 61% der katholischen und 65% der evangelischen Frauen. Die Freiwilligen schätzen die Hilfe und Ansprechbarkeit der beruflich Tätigen. Nur 30 Prozent der Freiwilligen haben das Gefühl, dass sie für die Hauptamtlichen auch gleichberechtigte Partner sind. Nach ihrem Eindruck werden sie vor allem als Helfer(innen) gesehen, die die Hauptamtlichen entlasten, beziehungsweise deren Tätigkeit ergänzen. Diese Einschätzungen decken sich weitgehend mit den Ergebnissen einer ergänzenden Befragung von Hauptamtlichen: Nur jeder Zweite sah die Ehrenamtlichen als gleichberechtigte Partner.

Das hat sich vielleicht verändert. Inzwischen bringen auch die Frauen im Ehrenamt zunehmend berufliche Erfahrungen mit oder sind jedenfalls in Teilzeit berufstätig. Sie bringen ihre Kompetenzen aus der Arbeitswelt selbstbewusst ein. Und natürlich erwarten sie Wertschätzung, Zertifikate und Auslagenersatz, klare Vereinbarungen und geklärte Kompetenzen, Fortbildungsangebote und Mitsprachemöglichkeiten. Ein Befund des SI-Gemeindebarometers von 2014 zeigt allerdings: das ist noch ein Stück Weg zu gehen: Tatsächlich haben Ehrenamtliche in Leitungsfunktionen das Gefühl, geschätzt zu werden und ihre Fähigkeiten einbringen zu können. Leider gilt das nur für eine Minderheit der ehrenamtlich Engagierten an der Basis. Die meisten sind sich der Anerkennung in der Gemeinde nicht sicher.

Wie soll es da erst Bärbel Mohr gehen, die in der Gemeinde gar nicht vernetzt ist? Darin ist sie untypisch – erst recht, weil sie arbeitslos ist. Ehrenamt ist in Deutschland – nicht nur in den Kirchen – an einen hohen Sozial- und Bildungsstatus gekoppelt. Arbeitslose, prekär Beschäftigte, Jugendliche in Arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Hartz-IV-Empfänger haben kaum Ressourcen für freiwilliges Engagement. Sie finden sich dann möglicherweise im Bundesfreiwilligendienst oder bei den 450-Euro-Kräften in der Diakonie.

Freiwilliges Engagement ist frei vereinbarte Tätigkeit …, beinhaltet ein hohes Maß an Selbstbestimmung …, ist nicht an Tarife und Ausbildungsgänge gebunden …, kurz oder mittelfristig veränderbar …, und ohne Bezahlung.“, heißt es in einer Definition aus dem SI. Gleichwohl sind die Übergänge fließend. Das gilt unten wie oben: Die steuerfreie Übungspauschale von 2.400 Euro jährlich, die Ehrenamtspauschale von 720 Euro jährlich oder auch die Aufwandsentschädigung für die Mitgliedschaft in einem Aufsichtsrat oder die Personal- und Bauaufsicht in einem Kirchenvorstand. Im Einzelfall kann um Summen gehen erreicht werden, die andere für eine geringfügige Beschäftigung erhalten. Die Frage nach der Monetarisierung, nach begründeten Spielregeln im Austrieren von Berufung und Bezahlung, ist so neu nicht. Aber die Spielregeln müssen noch einmal überprüft werden.

 

3. Kirche – Hochburg des Engagements

Von den etwa 43 Millionen Freiwilligen in Deutschland sind etwa die Hälfte im Umfeld der großen Kirchen aktiv. In Kirchengemeinden und Diakonischen Einrichtungen, in Jugendverbänden und Frauengruppen. Im Hospiz und in der Tafel, in Kindergartenräten oder bei Freizeiteinsätzen. Der jüngste Freiwilligensurvey zeigt, dass die Zahl der ehrenamtlich Engagierten zwischen 1999 und 2014 nicht nur in der gesamten Gesellschaft, sondern auch in den Kirchen gestiegen ist, obwohl die Mitgliederzahlen zurückgehen. 48,7% aller Evangelischen engagieren sich freiwillig – gegenüber 43,6 % in der gesamten Gesellschaft – und sogar 66,7% von denen, die sich stark mit der Kirche verbunden fühlen.

Lange galten die Kirchen lange Zeit als verstaubte Institutionen mit einem veralteten Ehrenamtsbegriff – die Engagementszene setzte stattdessen auf neue Initiativen, attraktive Projekte und das selbstbestimmte, neue Ehrenamt. In den letzten drei Jahren hat sich das noch einmal verändert. Die Flüchtlingshilfe hat gezeigt: Engagement braucht Andockpunkte, anregende und begleitende Strukturen, fachliche Impulse und Unterstützung sowie einen fördernden Rahmen. Kirchen sind stark und attraktiv, wo staatliche Strukturen noch fehlen, wenn es darum geht, mit neuen Herausforderungen umzugehen, wenn Problemlagen zunächst diffus erscheinen und alles darauf ankommt, flexibel neue Konzepte zu entwickeln – ausgehend von der unmittelbaren Wahrnehmung und nicht von festgelegten Strategien und refinanzierbaren Modulen. Kirche verfügen über Räume, hauptamtlich Mitarbeitende und eine funktionierende Verwaltung.

Bei einem Ehrenamtsworkshop in einem Mehrgenerationenhaus, in dem ich kürzlich mit Engagierten und Interessierten aus ganz unterschiedlichen Engagementbereichen gearbeitet habe, lief die Frage nach der Bedeutung Hauptamtlicher für ihre Arbeit nahezu ins Leere. Verglichen mit anderen Engagementbereichen wie Sport, Feuerwehr oder anderen Vereinen, aber auch mit Parteien und Initiativen Kultur haben Ehrenamtliche in der Kirche noch immer besonders viele hauptamtliche Ansprechpartner. Unstrittig ist dabei die Rolle der Pfarrer und Pfarrerinnen als herausgehobene hauptamtliche Kontaktperson. In der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hatten insgesamt 40 Prozent der Evangelischen im letzten Jahr einen direkten Kontakt, unter den Engagierten 90 Prozent. Pfarrerinnen und Pfarrer haben eine Schlüsselrolle bei der Gewinnung von Ehrenamtlichen. Die Kontakte zu den anderen Hauptamtlichen sind geringer: zu Mitarbeiterinnen in der Jugend-, Familien-, Senioren- oder kirchlichen Sozialarbeit, aber auch zu Gemeindesekretärinnen haben jeweils 62 Prozent Kontakt.

Seit den 60er Jahren waren Kirche und kirchliche Verbände sehr stark von Hauptamtlichen bestimmt. Gute Steuereinnahmen, ein stark ausgeprägter Sozialstaat, die Refinanzierung von Jugendmitarbeiter- und Sozialarbeiterstellen ließen eben auch die Zahl der Hauptamtlichen in der Kirche wachsen. Seit Mitte der 90 Jahre kommt es in der Kirche wie auch in Staat und Kommunen zu Stellenstreichungen. Es wäre aber ein Trugschluss zu glauben, man könne bei rückläufiger Finanzierung einfach Hauptamt durch Ehrenamt ersetzen.

Wenn die Zahl der Hauptamtlichen zurück geht, müssen sich die Strukturen verändern. Dabei geht es auch um das Verhältnis von Hierarchie und Geschwisterlichkeit. Hauptamtliche verstehen sich zunehmend als Initiator, Assistenz und Gewährleister ehrenamtlicher Arbeit. Soll nun die Personalentwicklung für Ehrenamtliche nach dem gleichen Muster wie die für berufliche Mitarbeitende verlaufen – vom Kontrakt über die Zielvereinbarung bis zum Jahresgespräch? Führt eine zu starke Rückbindung des Ehrenamts an das Hauptamt nicht erst recht zu der Gefahr, freiwillige Dienste als bloße Hilfsdienste zu verstehen? Oder Menschen, die sich ehrenamtlich in der Kirche engagieren, zu verkirchlichen und zu vereinnahmen?

Die sogenannte Amtskirche braucht Menschen, die die Organisation von außen sehen können, Menschen aus unterschiedlichen lebensweltlichen Hintergründen, die andere berufliche Erfahrungen und Kompetenzen einbringen und die mit ihrer Kritik auch einmal „den Betrieb aufhalten“. In den Kammern und Kommissionen von EKD und Landeskirchen arbeiten Wissenschaftlerinnen und Unternehmer, Politiker und Politikerinnen aller Couleur mit. Kürzlich gab die EKD eine Pressemeldung heraus, in der es hieß, zwei „Kirchenleute“ seien in die Rentenkommission berufen worden. Und während ich im Geist die Reihe der Bischöfe und Abteilungsleiterinnen durchging, las ich, stellte sich heraus, es waren ein Wissenschaftler und ein Politiker. Würden sie selbst sich als Kirchenleute verstehen? Vielleicht der Charme solcher Ehrenamtlichen gerade darin, dass sie als Person nicht eindeutig der einen oder anderen Funktion zuzuordnen und gerade darum als Brückenbauer glaubwürdig sind.

Kirche lebt von der Vielfalt der Charismen aller Christinnen und Christen. Die Beteiligung ehrenamtlich Engagierter an Verfahren und Entscheidungen, die Öffnung für alle gesellschaftlichen Schichten und Gruppen ist Voraussetzung für Wachstum und Relevanz der Kirchen. Was bedeutet der Wandel für die Rollenverteilung in den Kirchenvorständen, in denen die Ehrenamtlichen doch die Mehrheit sind? Wird es gelingen, sie zu ermutigen, ihre Entscheidungskompetenzen auch tatsächlich wahrzunehmen? Die Kirchen sind nicht per se davor gefeit, das Ehrenamt seiner schöpferischen Energien zu berauben, es also zu institutionalisieren, zu pädagogisieren und zu kanalisieren. (Ralf Hoburg)

 

4. Wippe und Wackelbrett: Auf der Suche nach einer neuen Balance

Ein kurzer Blick auf die Vielfalt der Haupt- und Ehrenamtlichen, mit denen wir es in Kirche und Diakonie zu tun haben: Zuerst die Ehrenamtlichen an der Basis – im sozialen oder kulturellen Ehrenamt Frauen- und Jugendarbeit, im Chor und Kindergottesdienst oder auch im Besuchsdienst. Dazu gehören auch die, die sich bei der Tafel oder im Elternrat einbringen, die bei der Diakonie Flüchtlingsarbeit oder Hospizarbeit leisten. Sie sind oft nicht im Blick, dabei sind sie die Brücken in die Zivilgesellschaft. Dann die Ehrenamtlichen in der Leitung. Im Kirchenvorstand, wo sie gemeinsam mit dem Pfarrer/der Pfarrerin über Gemeindekonzepte, also auch über Haupt- und Ehrenamt entscheiden. Und die in den Aufsichtsräten Diakonischer Einrichtungen, deren Namen oft nicht einmal bekannt sind.

Und dann die Hauptamtlichen: die Pfarrpersonen, die angesichts des Abbaus anderer hauptamtlicher Stellen wieder zu Generalisten werden und zunehmend nach Prioritäten fragen. Und die verbleibenden Sozialpädagoginnen und Diakone, die Gemeindesekretärinnen, die ein neues Selbstverständnis entwickeln sollen: Sie sollen Ehrenamtlichkeit stärken, Dienstleister sein, auf Augenhöhe kooperieren. Das Problem ist nur: sie haben selbst erhebliche Existenzängste. Und sie fragen: Haben Pfarrer und Ehrenamtliche in der Leitung die Sorgen der beruflich Mitarbeitenden im Blick? Könnten die Ehrenamtlichen in den Kirchenvorständen sich selbst auch als Fördernde für Ehrenamtsentwicklung verstehen – z.B. so, dass einer die Familienarbeit im Blick hat und einer die Pflege oder die Jugendarbeit, je nach Interesse und Herkommen? Brauchen wir nicht ein ganz neues Verständnis von Kirchenvorstandsarbeit? Und – um es richtig kompliziert zu machen: Sind Pfarrer und Hauptamtliche, Ehrenamtliche und Engagierte in der Kirche eigentlich das gleiche? Oder gibt es da eben Amtsträger und andere?

Wie immer in Umbruchprozessen nimmt der Kampf um Einfluss, Mittel und Selbstverständnisse wieder zu. Die Balance zwischen Haupt- und Ehrenamt verändert sich – typisch für eine Übergangssituation. In den Gemeinden sind schmerzhafte Veränderungsprozesse im Gang. Küster, Sekretärinnen, Reinigungskräfte werden entlassen, die Aufgaben von Honorarkräften oder Ehrenamtlichen übernommen. Die Zahlen und Daten der Berufsgenossenschaft zeigen einen wachsenden Trend der Inanspruchnahme bei Unfällen von Ehrenamtlichen.

Stellen Sie sich ein Balancebrett oder eine Wippe mit unterschiedlichen Personen vor. Sobald sich einer bewegt, verändert sich die Statik des Bretts – wie bei einer Wippe auf dem Spielplatz oder einem Boot auf den Wellen. Lehnt sich einer rechts raus, muss der andere auf die andere Seite wechseln, wenn er nicht herunterfallen will. Ein schönes Spiel, solange die Wellen nicht zu hoch werden. Wenn nun jemand einen Schatz auf das Boot wirft, um den alle zu rangeln beginnen. Es geht darum, die eigene Position geschickt so stark zu machen, dass andere hinten runterfallen. Powerplay. Zwischen Pfarrerin und Kirchenvorstand. Zwischen Ehrenamtlichen im Kirchenvorstand und denen in der Gruppe 50plus…

Interessanterweise gab es in der Flüchtlingsarbeit kaum Spannungen zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen. Im Gegenteil. Ehrenamtliche haben deutlich gemacht, wie sehr sie auf hauptamtliche Strukturen angewiesen sind und Hauptamtliche haben sich für Fortbildung und Supervision von Ehrenamtlichen eingesetzt. Ob es eine Rolle spielt, dass es in diesem Arbeitsfeld noch keine festgeschriebenen Rollen und Standards, keine eingefahrenen Konflikte und auch keine Ängste vor Stellenstreichungen gab? Hier ging es um Öffnung und Wachstum. Und auch um grundlegende Überzeugungen. Das gehört zu den Geheimnissen guter Zusammenarbeit: dass es ein gemeinsames Ziel gibt.

 

5. Da sein, wo Ergebnisse zählen – Ehrenamt als Diakonat

Zu den Dramen, die ich in der Diakonie erlebt habe, gehörte die Geschichte mit der Hafersuppe: In der Hauptrolle eine etwas ältere Grüne Dame in unserem Krankenhaus. Unterstützt von einer Stationsleitung. Im Gegenüber: die Klinikleitung. Die Dame war es gewohnt, für schwer kranke und sterbende ein Süppchen zu kochen und es mit Liebe zu reichen. Solange, bis die Stationsküchen geschlossen wurden. Die Stationsleitung wusste das zu schätzen. Manche anderen Pflegenden setzte das unter Druck. Und die Klinikleitung meinte: Wenn das jede Station wollte – wo kämen wir da hin? Schließlich gab die Grüne Dame auf und ging. Nicht ohne Imageschaden für das Haus. Die Frage, wo wir hinkämen, fand später eine Antwort: Als wir im Rahmen eines Palliative-Care-Projekts auf manchen Stationen der Inneren und der Lungenklinik hospizlich arbeiteten.

Das Ethos der Fürsorglichkeit droht zu schwinden. Unser Gesundheitswesen rechnet und plant in DRGs und Modulen – es zählt nur, was gezählt werden kann, sagt Andreas Heller. Demgegenüber käme es auf das an, was erzählt werde kann: individuelle Biographien, Lebensbrüche und Umbrüche, das Unverwechselbare. Je mehr sich die Prozesse der ökonomischen und organisatorischen Rationalisierung beschleunigen, desto wichtiger wird eine institutionelle und gesellschaftliche Gegenbewegung: die Öffnung für Angehörige und Ehrenamtliche in den Einrichtungen. Denn während die Sozialpolitik mehr und mehr auf „Eigenverantwortlichkeit“ setzt, erleben wir eine wachsende Spaltung der Gesellschaft. Wer mit der Selbstsorge finanziell oder sozial überfordert ist, wird mehr denn je Menschen an seiner Seite brauchen, die ihm Anwalt und Stütze sind. Ohne Angehörige, Nachbarn und Freunde, ohne ehrenamtliche Besuchs- und Betreuungsdienste werden viele Menschen vereinsamen.

In der Pflege wird deutlich: die Zusammenarbeit zwischen den schlecht bezahlten Professionellen und den Ehrenamtlichen ist alles andere als reibungslos. Das liegt wesentlich daran, dass gerade die Aufgaben, die nah an die eigene Motivation rühren, nun von Ehrenamtlichen übernommen werden sollen: Kleine Alltagsdienste, Gespräche, Ausflüge, Sterbebegleitung. Auch in der Wohlfahrtspflege müssen also die Rollen neu geklärt, muss Zusammenarbeit in der Organisation neu beschrieben werden. Einrichtungen und Dienste sind in ihren Abläufen mehr und mehr auf Funktionalität, nicht aber auf individuelle Bedürfnisse, Begegnung und Zuwendung eingerichtet. Ehrenamtliche, die über die Organisation eines Hauses nachdenken, können deshalb leicht zum Störfall werden. Welche Orte zur Mitbestimmung gibt es auf den Stationen oder bei der Evaluation der Arbeit? Werden die Engagierten von den Ehrenamtlichen in den Aufsichtsräten wahrgenommen?

Der Wunsch nach Mitarbeit bedeutet nicht unbedingt, dass Menschen sich voll mit den Trägerorganisationen identifizieren wollen. Sie müssen gewonnen werden – durch Mentoring, Fortbildung und Supervision, durch Ehrenamtstage und Auslagenersatz. Inzwischen kommen aber auch materielle Anreize hinzu. Im sozialen Ehrenamt hat sich eine Grauzone entwickelt – vom Bundesfreiwilligendienst über Honorarkräfte bis zu geringfügig Beschäftigen. Das Pflegestärkungsgesetz braucht Freiwillige für die Demenz- und Nachbarschaftsnetzwerke, Freiwillige bieten Nachtcafés an oder übernehmen die Sozialarbeit. Unter dem Druck des Pflegenotstands halten Freiwillige die Gesellschaft zusammen. Während in der Kirche die Gefahr der Funktionalisierung lauert, droht in der Diakonie die Monetarisierung.

Für eine gelingende und produktive Kooperation ist deshalb klare Grenzziehung zwischen beruflicher Tätigkeit und ergänzenden oder innovativen ehrenamtlichen Netzen unverzichtbar. Wo diese Grenze zu ziehen ist, was notwendige staatliche Leistungen sind und was freiwillige Tätigkeiten, wurde kürzlich am Beispiel der Essener Tafel diskutiert. Dabei wurde wieder klar: Das persönliche Engagement darf nicht auf Nutzen und Leistung reduziert werden. Es gehört zur freien Selbstentfaltung der Bürgerinnen und Bürger und kann staatliche Leistungen nicht ersetzen. Es soll neue Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe eröffnen und bietet die Chance, sich mit eigenen Anliegen kreativ einzubringen.

Ehrenamtliche wie beruflich Mitarbeitende müssen gemeinsam darauf achten, dass diese Grenzziehung eingehalten wird. Dabei haben auch die Mitarbeitervertretungen eine Aufgabe. Sie sollten sich regelmäßig über die Aufgabenfelder, Aufgabenbeschreibungen und die Kontrakte mit Ehrenamtlichen informieren lassen. Wie viele Ehrenamtliche an welchen Plätzen in Gemeinden, Verbänden und Unternehmen tätig sind, welche Voraussetzungen sie für ihren Einsatz mitbringen und wie viele Stunden sie einbringen, muss allen Verantwortlichen bekannt sein. Das ist nicht nur wichtig, um im Blick zu behalten, ob freiwilliges Engagement berufliche Tätigkeit verdrängt, sondern auch, ob die Grenzen ehrenamtlicher Tätigkeit, was Zeit und Gestaltungsfreiheit angeht, eingehalten werden. Das geht bis zu der Frage, ob es in Mitarbeitervertretungen eine/n Beauftragten für Ehrenamt geben kann, der die Kontakte zu dieser Gruppe hält und deren Perspektiven und Bedarfe in Planungen und Entscheidungen einbringt. Gerade da, wo der Kontext beruflich geprägt ist, wie in der Diakonie, läge darin eine Chance, die spezifischen Interessen Ehrenamtlicher im Blick zu behalten und Konflikte oder Überforderungssituationen aller Beteiligten rechtzeitig in den Blick zu nehmen.

 

6. Was allen Gewinn bringt: zur Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamt

In dem Ehrenamtsworkshop, von dem ich eben erzählt habe, zeichneten alle Beteiligten ihre Engagementbiographie. Es waren bunte Bilder – Bäume mit Wurzeln, Zweigen und Blätterdach, Flüsse mit Zuflüssen, Seen und Inseln, dynamische Ströme. Mal war es der Beruf oder Familie, aus denen sich ehrenamtliches Engagement entwickelte, mal hatten Teilnehmende ihren Beruf auf dem Hintergrund ehrenamtlicher Erfahrungen gefunden. Dabei konnte es durchaus das gleiche Arbeitsfeld sein, in dem jemand einmal beruflich, einmal ehrenamtlich tätig war.

Solche „Seitenwechsel“ zwischen beruflicher und ehrenamtlicher Tätigkeiten werden normaler. Nicht nur die Sozialwirtschaft, auch andere Dienstleister wie auch große Industrieunternehmen entdecken die Förderung der Freiwilligentätigkeit. Und viele, die in Kirche und Wohlfahrtspflege beruflich tätig sind, arbeiten an anderer Stelle ehrenamtlich. In der Personalentwicklung spielt das kaum eine Rolle – obwohl es andererseits fast selbstverständlich vorausgesetzt wird. Zu selten werden Rollenwechsel fruchtbar gemacht. Um die traditionelle Hierarchisierung von Ämtern, Geschlechtern, von bezahlten und unbezahlten Kräften zu überwinden, braucht es bewusste Perspektivwechsel. Und Klarheit über den Gewinn und die Grenzen beider Positionen.

Der Gewinn im Ehrenamt besteht in Selbsttätigkeit und „Vertiefung des eigenen Weges“. Über das Ehrenamt entstehen neue Zugangsqualifikationen, werden neue Netze geknüpft. Damit hilft ehrenamtliches Engagement auch, Lebensübergänge zu gestalten. – von der Schule in den Beruf, von der Erwerbstätigkeit in die dritte Lebensphase, von der Familienphase zurück in den Beruf. Wenn man betrachtet, aus welchem relativ begrenzten Reservoir sich kirchliches Engagement heute speist- bestimmte soziale Schichten, Altersgruppen und Lebensstilmilieus sind unterrepräsentiert – dann kann man annehmen, dass hier ein hohes Engagementpotenzial ruht. Deutlich wird aber auch: Ehrenamt braucht eine grundlegende ökonomische Absicherung.

Darin besteht ein zentraler Gewinn beruflicher Tätigkeit: Ökonomische Sicherheit, professioneller Verantwortung, Aufstiegsmöglichkeiten. Aber auch berufliche Zufriedenheit ist auf Motivationserhalt, Bildungsangebote, Teamentwicklung angewiesen. Denn der ökonomische Gewinn ist für viele nicht mehr das entscheidende Motiv für berufliche Arbeit. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt, diskontinuierliche Erwerbsbiographien wie auch die Feminisierung der Arbeitswelt führen zu einem neuen Interesse an Sinn und sozialer Gestaltung der Arbeit.

Und das gilt für Haupt- wie Ehrenamtliche. Menschen suchen ihre Berufung; sie wolle finden, was den Einsatz lohnt. Ehrenamtliches Engagement wird wie berufliche Tätigkeit kompetent, qualifiziert und in diesem Sinne professionell geleistet. Dazu bedarf es entsprechender Qualifizierungsangebote, die sich auf Arbeitsfeld, Methodik oder auch auf die spezifischen Aspekte der Organisation beziehen können. Eine Einführung in ehrenamtliche Tätigkeiten muss gewährleistet werden, je nach Engagementfeld bis hin zur standardisierten Aus- und Weiterbildungen. Dazu gehören auch Kenntnisse zur Zusammenarbeit mit Hauptberuflichen in den Organisationen. Hauptberufliche Mitarbeiter müssen für die Zusammenarbeit mit ehrenamtlich Engagierten sowie für deren Unterstützung und Begleitung qualifiziert werden. Gemeinsame Aus- und Weiterbildungen ermöglichen wechselseitiges Lernen. Wo es ein gemeinsames Ziel, ein Projekt gibt, fällt es leichter, Reibungen zu reduzieren. Dazu müssen Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar beschrieben und begrenzt sein. Schon heute lebt zum Beispiel die Hospiz- und Palliativarbeit von einer Mischung aus fachlicher und ehrenamtlicher Kompetenz. Die Weiterentwicklung des Altenhilfesystems wird in die gleiche Richtung gehen müssen. Bei den Tafeln und in der Flüchtlingshilfe gelingt es schon hier und da, aus Betroffenen Engagierte und manchmal auch Beschäftigte zu machen. Wo die unterschiedlichen Erfahrungen von Kirche und Diakonie zusammen kommen – so wie heute – werden noch mehr neue Perspektiven für die Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamt entstehen.

Cornelia Coenen-Marx, Kassel, 23.8.18