Kraftorte: Interview mit Pfarrer Dr. Uwe Gräbe, Geschäftsführer des Evangelischen Vereins für die Schneller-Schulen (EVS)

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DIAKONISCHE PILGERREISEN: DER BLOG

Wir entdecken Diakonische Pilgerorte – 
diesmal auf der Spur von: Dr. Uwe Gräbe

 

Pfarrer Uwe Gräbe ist seit dreißig Jahren im Nahen Osten unterwegs. Seit 2012 ist er Geschäftsführer des Evangelischen Vereins für die Schneller-Schulen (EVS), eines Mitgliedswerkes der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS) mit Sitz in Stuttgart. Der Verein fördert die Arbeit der Schneller-Schulen im Libanon und in Jordanien, welche zurückgeht auf das 1860 von dem schwäbischen Pädagogen Johann Ludwig Schneller gegründete „Syrische Waisenhaus“ in Jerusalem. Daneben engagiert er sich für ein 2014 gegründetes Schulprojekt in Syrien. Das Bild zeigt Uwe Gräbe in der Schneller-Schule am Rand von Amman in Jordanien mit dortigen Schülerinnen und Schülern.


Sie beschäftigen sich beruflich und/oder ehrenamtlich mit Diakonie. Was liegt Ihnen dabei besonders am Herzen?
Das Evangelium Jesu Christi hat von Beginn an einen weltweiten Horizont. Darin ist auch alles diakonische Handeln verwurzelt. Meines Erachtens fordert dieser weltweite Horizont eine große Kultursensibilität – und damit auch einen tiefen Respekt vor Grenzen. Aus „evangelischem Überschwang“ heraus tendieren wir nordwesteuropäisch geprägten Christinnen und Christen zuweilen dazu, alle Grenzen niederzureißen – beispielsweise das Chorgestühl aus den Kirchen zu werfen und säkulare Veranstaltungen in unsere sakralen Räume zu holen. Menschen, die in den Kulturräumen großgeworden sind, in welchen auch die Bibel entstanden ist, empfinden da oft ganz anders. Alles wird hier sorgfältig unterschieden: der Raum vor und hinter der Ikonostase, Göttliches und Menschliches (im Judentum wie im Islam), Milchiges und Fleischiges (in einer jüdischen Küche), männliche und weibliche Bereiche, öffentliche und private Räume, christliche, jüdische und muslimische Dörfer bzw. Viertel in den arabischen Städten (was in den Altstädten von Aleppo, Damaskus und Jerusalem selbstverständlich war, findet heute einen modernen Widerhall beispielsweise im Viertel Jabal Ali in Dubai, wo das muslimische Herrscherhaus ein Gelände zur Verfügung gestellt hat, auf dem alle christlichen Kirchen ihre Gebäude errichten sollen), die Kapellen und Gebetszeiten der Konfessionen in der Jerusalemer Grabeskirche, welche Anteil an dem einst von den Osmanen genau festgelegten und bis heute gültigen „Status quo“ haben – und vieles mehr. Vielleicht ist sogar unser Glaubensbekenntnis, dass die menschliche und die göttliche Natur in Christus „unvermischt und ungetrennt“ existieren, wie es das Konzil von Chalcedon 451 so prägnant formulierte, in der tiefen Einsicht begründet, dass zwei grundverschiedene Dinge nicht miteinander vermengt werden müssen, nur weil man sie nicht auseinanderreißen will. Es lohnt sich, sensibel auf die Grenzen der Menschen zu achten, denen wir in unserem diakonischen Handeln begegnen.

Gibt es eine persönliche Erfahrung, die Ihnen den Kern diakonischer Arbeit existenziell vor Augen geführt hat?
Da denke ich an Noura. Mit Noura hatten die anderen Kinder in unserem Schulprojekt in Syrien nicht spielen wollen. Denn Noura stank. Genaugenommen roch sie ziemlich penetrant nach Kuhstall – was auch kein Wunder war. Denn die Familie von Noura war aus der Stadt Idlib geflohen und hier, im Wadi Nasara (dem syrischen „Tal der Christen“), von einem Bauern in seinem Kuhstall einquartiert worden. Das war eigentlich kein Problem, denn beim Vieh war es – gerade im Winter – schön warm, und früher hatten viele Menschen so gelebt. Nur brachte es eine gewisse Geruchsbelästigung mit sich. Und gerade Kinder konnten da erbarmungslos sein. Der Pfarrer hatte es jedoch mit einer wirklich guten Idee aufgefangen: Noura, so hatte er erklärt, rieche genauso, wie einst die Jungfrau Maria im Stall zu Bethlehem gerochen hatte. Denn auch die hatte das Christuskind zwischen Ochs und Esel und inmitten von Schafen zur Welt gebracht. Es sei daher eine Auszeichnung, so zu riechen und der Jungfrau Maria damit so ähnlich zu sein. Und daher solle Noura eine wichtige Rolle im anstehenden Krippenspiel übernehmen.

Das hatten die Kinder dann verstanden, und so kam es auch: Stolz spielte Noura im Krippenspiel mit. Die Angelegenheit hätte damit erledigt sein können. Doch sie war es nicht. Eine orthodoxe Klassenkameradin hatte nämlich heftig protestiert: Keinesfalls, so hatte sie entrüstet erklärt, habe unsere heilige Jungfrau so gerochen wie Noura. Denn der orthodoxe Priester, dem man schließlich vertrauen könne, habe einmal erläutert, dass Maria nach Rosenwasser geduftet habe. Ja, natürlich – so hatten dann auch die muslimischen Kinder in der Klasse bekräftigt –, selbstverständlich habe „unsere Jungfrau Maria“ nicht anders als nach Rosenwasser gerochen. Das wisse doch jeder. Theologische Diskussionen unter Kindern können großartig sein, vor allem, wenn sich christlich-orthodoxe Kinder mit muslimischen Kindern in ihrer gemeinsamen, selbstverständlichen Marienliebe gegen die allzu nüchternen Protestanten verbünden. Wie diese Debatte ausgegangen ist, habe ich nie erfahren. Dennoch ist hier meines Erachtens ein Kern diakonischer Arbeit berührt: Noura, ein Kind „vom Rande“, wurde befähigt, „wie Maria“ zu sein. Und zugleich entstand hier ein lebhaftes theologisches Gespräch zwischen bleibend Verschiedenen.

An welchem Ort (in welcher Einrichtung, in welchem Haus oder Raum) ist Diakonie für Sie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar geworden und was hat Sie dort fasziniert?

Das sind für mich natürlich die Schneller-Schulen im Nahen Osten. Schon der Begründer dieser Arbeit im 19. Jahrhundert, Johann Ludwig Schneller, hatte im Grunde ein doppeltes Leitbild. Der eine Teil dieses Leitbildes lautete: „dass sie in Ehren ihr eigen Brot essen“. Kinder vom Rande der Gesellschaft, die keinen starken Familienverband hinter sich hatten, waren damals – und sind zum großen Teil auch heute noch – zum Betteln verdammt. Sie sollten eine gute Erziehung vom Kindergarten bis zur Berufsausbildung erhalten, um so einmal selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der andere Teil des Leitbildes lautet bis heute „dass sie den Frieden leben lernen“: keine Theorie vom Frieden, sondern praktisches Miteinander-Leben von christlichen, muslimischen und drusischen (sowie einst in Jerusalem auch jüdischen) Kindern in den Internats-„Familien“; Einüben in den Respekt vor den anderen, ohne dass dadurch die Nichtchristen gleich zu Christen gemacht würden. Beide Teile dieses Leitbildes je für sich sind kein Alleinstellungsmerkmal der Schneller-Schulen: Fast alle kirchlichen Schulen im Nahen Osten richten sich an christliche und muslimische Schülerinnen und Schüler gleichermaßen – aber sie zielen meistens auf eine gewisse Elitebildung. Es gibt daneben auch etliche Bildungseinrichtungen für Kinder vom Rande der Gesellschaft – aber da kümmern sich die einzelnen Religionsgruppen zumeist um ihre je eigene Klientel. Das Besondere an den Schneller-Schulen ist die Kombination der beiden Aspekte: dass hier Kinder unterschiedlicher Religion und Herkunft miteinander den „Frieden leben lernen“, die oft aus schwierigen Verhältnissen stammen und auf die in der Regel nicht Abitur und Universitätsstudium warten, sondern eher ein praktisches Handwerk als Schreiner, Metallbauer, KFZ-Mechaniker, Industrieelektriker, Friseurin oder Schneiderin.

Was macht Ihrer Meinung nach einen – oder diesen – „diakonischen Ort“ zum spirituellen Kraftort (Geschichte, Gestaltung, Personen …)?

Man spürt es, wenn ein Ort ein „durchbeteter Ort“ ist. Nachdem das Syrische Waisenhaus zu Jerusalem 1940 zunächst von den Engländern besetzt und später in israelischen Besitz übergegangen war, gründete Hermann Schneller 1952 die Johann-Ludwig-Schneller-Schule im Libanon, indem er zuerst die Anstaltskirche bauen ließ, um die herum dann nach und nach alle anderen Gebäude der Einrichtung entstanden. Die Kirche mit ihren regelmäßigen Gebetszeiten ist das Zentrum von allem, und sie atmet eine ganz besondere Atmosphäre. Wir Evangelischen tun uns oftmals etwas schwer mit „Heiligen Stätten“: Ja, natürlich kann man an jedem Ort der Welt gleichermaßen beten. Aber wie oft habe ich Tränen auch in den Augen der evangelischen Pilger gesehen, wenn sie beispielsweise in der evangelischen Erlöserkirche zu Jerusalem, nur wenige Meter vom Grab Christi entfernt, das Abendmahl empfingen. Machen wir uns doch nichts vor: Das Christentum, egal welcher konfessionellen Ausprägung, ist eine „geerdete Religion“, ebenso wie Judentum und Islam. In all diesen Religionen spielen ein konkretes Stück Land, eine bestimmte Topografie, auf der Landkarte lokalisierbare Orte eine zentrale Rolle, weil sie mit den je eigenen Grundgeschichten des Glaubens verbunden sind. Dabei ist ein Land oder eine Stätte nicht deswegen heilig, weil man hier leichter als anderswo zur Erlösung käme, sondern weil wir damit die Gebete von Generationen verbinden, die vor uns dort waren und die nach uns noch kommen werden. Solche Orte machen bescheiden: Nicht um meine individuelle Erlösung geht es, sondern darum, dass ich mich einordne und tragen lasse von einem breiten Strom an Geschichte, Geschichten und Gebeten.

„Like a link in a chain from the past to the future / That joins me with the children yet to be / I can now be a part of the ongoing stream / That has always been a part of me“, singt Barbra Streisand in dem Stück „This is one of those Moments“ im Musical „Yentl“. Wenn ein Ort den Raum bietet, in welchem jemand ganz und gar ein Glied dieser Kette sein darf, welche er als betender Mensch selbst in sich trägt – dann ist es gewiss ein „spiritueller Kraftort“.

Was würden Sie in Ihrem Arbeitsumfeld räumlich ändern, wenn Sie die Freiheit und Mittel dazu hätten, damit die Arbeit, die Ihnen am Herzen liegt, noch besser gelingt?

Das Gelände der Theodor-Schneller-Schule in Jordanien ist in gewisser Weise auch ein „verwundetes“ Gelände – durch gescheiterte Baumaßnahmen und einen nicht sehr achtsamen Umgang mit den beiden dort vorhandenen Wasserquellen. Wenn ich es könnte, würde ich unsere jordanischen Partner gerne dabei unterstützen, diese Wunden zu versorgen und heilen zu lassen. Mit einer neuen, großen Photovoltaikanlage (welche aus der Kollekte der Eröffnungsgottesdienste des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Stuttgart 2015 finanziert wurde) sowie dem Anbau von biologischem Gemüse für die Schulküche wurde ein erster Schritt zu mehr ökologischer Nachhaltigkeit bereits unternommen.

Und sonst? Haben Sie weitere Gedanken, Anmerkungen, Anregungen zur Bedeutung – und vielleicht auch zur Relativierung – diakonischer Orte?

Trotz meines Votums, Grenzen zu respektieren und Unterschiedliches in seiner Verschiedenheit zu wahren: Kirche und Diakonie gehören unlösbar zusammen. Eine Diakonie, die sich ihres evangeliumsgemäßen Auftrags und damit ihrer kirchlich-spirituellen Dimension nicht bewusst ist – das würde von unseren nahöstlichen Geschwistern wohl niemand verstehen. Und eine Kirche ohne Diakonie – auch das ist in meinem Arbeitsfeld kaum vorstellbar: Waren es doch seit dem 19. Jahrhundert gerade die Kirchen, die mit Krankenhäusern und Bildungseinrichtungen zwei weitere Formen von Begegnungsorten zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Segmenten im Nahen Osten gründeten – neben dem Marktplatz als traditionellem Begegnungsort.

Vielen Dank!

https://schneller-schulen.ems-online.org/

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