Mut zur Liebe (1. Kor. 13,13)

Schon seit Wochen bekam ich Mails von Fleurop, Svarowski und Douglas, von Hotelkettten und Touristikunternehmen. Denn Mittwoch war Valententinstag. Über Facebook kam dann auch eine kirchliche Werbung – für einen Segnungsgottesdienst im Erzbistum Köln. „Da berühren sich Himmel und Erde“. Und auch heute noch feiern viele Gemeinden ganz besondere Gottesdienste. Mit roten Rosen, leuchtenden Herzen und vielen roten Kerzen. Alles leuchtet in rot – voll Liebe, Lust und Leidenschaft. Und sie kommen, die Paare, viele junge darunter, manche auch schwul. Sie kommen, um ihre Liebe zu feiern, sich segnen zu lassen. Mit offenen Herzen, aber in aller Freiheit. Versprechen werden da nicht abgegeben, stattdessen werden einfach Blumen verschenkt.

Wie bei Valentin. Der 14. Februar, der Valentinstag ist das Datum seiner Hinrichtung. Wir wissen nicht so genau, wer er war – ein römischer Priester, der Bischof von Terni oder beides zugleich? Wir wissen nur: Er hat Blumen an Verliebte verschenkt. Und er hat auch gegen den staatlichen Willen Trauungen vollzogen. Ein Märtyrer für die Liebe also – und dafür, dass sie Raum bekommt!

Kann denn Liebe Sünde sein? Zarah Leanders Frage ist keinesfalls erledigt. Die Liebe zu segnen, ohne eine Trauung zu halten – das konnte man sich lange Zeit nicht vorstellen in unseren Kirchen. Und eine Segnung oder gar eine Trauung für gleichgeschlechtliche Paare ist trotz Ehe für alle für manche Christen undenkbar. Der Streit um diese Frage zeigt: Wir ringen immer noch um einen angstfreien Umgang mit Sexualität. Und Sex und Sünde waren eben lange Zeit eng verflochten. Vor allem der Kirchenvater Augustinus hat Sexualität als Teil der sündigen Natur des Menschen gesehen. Der Sündenfall, meinte er, habe die menschliche Natur vollkommen korrumpiert. Das hat sich tief eingeprägt in unser kulturelles Gedächtnis – da taucht vor unserem inneren Auge die Szene auf, wie Eva Adam den Apfel reicht – rotbackig und verführerisch. Und das Tor zum Paradies fällt zu. Diese Bilder wirken bis heute nach. Und sie haben Kultur und Moral der christlichen Kirchen lange bestimmt.

Die Frau als Sünderin – da kommt mir noch ein anderes Bild in den Sinn. Ein Bild aus dem Leben Jesu. Da kniet sie vor ihm, eine schöne, junge Frau und trocknet seine Füße mit ihren langen, offenen Haaren. Ist es Maria Magdalena? Es gab wilde Spekulationen um diese Frau. War es die, der Jesus die bösen Geister ausgetrieben hatte? Die große Sünderin? Wir wissen nicht, wer sie ist – nur eins wird deutlich: Es geht tatsächlich um eine Grenzüberschreitung. Als Jesus bei einem Abendessen unter Freunden sitzt, kommt sie mit einer Phiole voll Nardenöl herein und geht ohne zu zögern und ohne zu Fragen ganz unmittelbar auf Jesus zu. Zerbricht das Glas und salbt ihm mit dem Öl die Stirn – oder vielleicht auch die Füße – Markus erzählt es so, Lukas anders. Aber beide berichten, wie sich der kostbare Duft im ganzen Raum ausbreitet, der Duft vom Paradies – und mit ihm der alte Ärger. Was für eine Chuzpe von dieser Frau – was für eine Verschwendung! Was man mit dem Geld nicht alles hätte machen können! Man hätte ein ganzes Dorf speisen können. Man hätte die Welt ein bisschen besser machen können. Aber das hier – das ist doch hemmungslos verrückt. Aber Jesus stellt sich auf die Seite der Frau: Eine Sünderin? Mag sein – vielleicht sogar eine Prostituierte. Aber „ihr ist viel vergeben, denn sie hat viel geliebt.“ Und im Übrigen: Was sie hier tut, das wird man nie vergessenes ist die Salbung der Könige. Und zugleich Sterbesegen. Diese Verschwendung, diese Großzügigkeit – das ist Liebe! So frei ist die Liebe – so furchtlos!

 

Ja, wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.

Und wenn ich eine Stiftung gründete, um den Hunger zu besiegen und Mikrokredite für die Armen ausgäbe und hätte die Liebe nicht, wo wäre alles umsonst.

Wenn ich alle Netzwerke dieser Welt hätte und mein Freundeskreis groß wäre, und hätte die Liebe nicht, so wäre es hohles Geschwätz und flüchtige Begegnung.

Und wenn ich diese Geschichte lese und nur die Sünde entdecke, dann bliebe ich blind für die Liebe, die alles verändert – auch unsere Moral.

 

Denn diese Geschichte korrigiert die Bilder, die wir im Kopf haben. Die Verachtung des Leibes, die Abwertung der Frau, die Fixierung auf die Sexualität als schlimmste Sünde – bei Jesus findet sich das nicht. Jesus sieht das Herz an, er sieht die Hingabe dieser Frau. Ihre Zärtlichkeit und ihre Fürsorglichkeit. Sie spürt, dass er nicht mehr lange leben wird – und gerade darum gibt sie alles, noch einmal das Leben zu feiern. Mit Duft und Blumenöl und mit Kerzen. Nichts anderes geschieht ja auch in den Segnungsgottesdiensten zum Valentinstag: Wir feiern die Liebe.

Viele Paare wünschen sich 1. Korinther 13, den Paulus-Text, den wir eben gehört haben, zu ihrer Trauung.

Die Liebe ist langmütig und freundlich, sie bläht sich nicht auf, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu,

sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.

Wer wünscht sich nicht so eine Liebe! Der das WIR wichtiger ist als das ICH. Die immer wieder vergeben kann. Die Geduld hat und niemals aufgibt. Und immer wieder das Gute im anderen sieht – den guten Willen, die Möglichkeit, ein anderer zu werden. Wer möchte nicht so lieben – und erst Recht: so geliebt werden.

Ich sehe sie vor mir, die Paare, die ich getraut habe. Voller Hoffnung, voller Hingabe. Die alles geben, um eine Familie aufzubauen. Und ich sehe, wie sie kämpfen. Jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren lebt in einer Pendelbeziehung – für viele ist das die einzige Chance, ihren Beruf aufzubauen. „Mobiles Paar, verpasstes Familienleben“, nennt das eine Sozialwissenschaftlerin. Ich sehe die jungen Frauen, die ihre beruflichen Ambitionen zurückstellen, damit Zeit bleibt für die Kinder. Ich sehe die Väter, die trotz allem versuchen, abends rechtzeitig da zu sein – oder wenigstens am Wochenende. Und trotzdem das Gefühl haben, ihrer Zeit immer nur hinterher zu rennen. Wie die beiden versuchen, sich Zeit füreinander zu nehmen – wenn die Kinder mal bei den Großeltern sind. Und ich denke auch an die, die gescheitert sind.

Denn die Liebe ist unter Druck. Da ist die Alleinerziehende, die manchmal am liebsten schreien würde, weil sie nicht weiß, wie sie all ihren Aufgaben gerecht werden soll. Da ist der Scheidungsväter, der einmal im Monat quer durch Deutschland reist, um seinen Sohn zu sehen – von Harz IV ist das kaum zu machen. Da ist das lesbische Paar, das nun endlich Hochzeit feiern will – viel zu lange hatten sie das Gefühl, nicht wirklich dazu zu gehören. Und das Paar aus der Patchworkfamilie, das bei jedem Fest überlegt, wo die alten Partner Platz finden, wenn sie kommen – schon um der Kinder willen.

Stückwerk, immer wieder Stückwerk. Brüche und Patchwork, Scheitern und Unverständnis – nicht ist vollkommen. Unsere Liebe sie bleibt getrübt von überkommenen Rollen und gesellschaftlichen Erwartungen und auch von der Angst, etwas zu verpassen vom Leben. Aber es gibt sie, diese Augenblicke, wo sich alles zusammenfügt. Augenblicke des Erkennens und des Verstehens. Paradiesmomente.

 

10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.

 

Musik

„Leere Herzen“ hat Juli Zeh ihren letzten Roman genannt. Er erzählt von Vereinsamung und Verrohung in unserer Gesellschaft, wo selbst der Suizid zum Geschäft wird. „Leere Herzen“. mitten in der Überflussgesellschaft. All die Dinge, die mir in diesen Wochen angeboten wurden: Schmuck, Kosmetik, Reisen können die Liebe nicht kaufen. Es geht ja nicht um gefüllte Einkaufstaschen, sondern um Zeit, um Energie und Hingabe.

 

Wenn ich mein Haus zum gemütlichen Heim ausstattete und meine Liebsten verwöhnen könnte und hätte die Liebe nicht, so wäre das alles nichts wert.

Und wenn ich voller Eifer arbeitete und immer bessere Positionen hätte, wenn ich durchsetzen könnte, was vielen nützt, und hätte die Liebe nicht, wo wäre es vergebliche Mühe.

 

Jetzt sehe sie vor mir – die Frau um die 60, die seit Jahren ihre Mutter pflegt. Sie ist in Teilzeit gegangen, um durchzuhalten. Und trotzdem hat sie einen doppelten Arbeitstag – wenn sie nach Hause kommt, ist neben der Hausarbeit die Mutter dran, so wie früher die Kinder. Und wieder hat sie beruflich zurückgesteckt – sie weiß jetzt, was das für ihre Rente bedeutet. Für ihre Freundinnen hat sie kaum noch Zeit, auch nicht fürs Kino oder den Friseur. Sie leidet darunter, dass die Kontakte schwinden. Denn sie liebt ihre Mutter, sie freut sich noch immer am Zusammensein. Und gerade heute hat sie sich so gefreut über den großen Strauß Schneeglöckchen.

Wer wirklich liebt, der rechnet nicht. Und „wie glücklich wäre eine Gesellschaft, die die Liebe kultiviert, statt die Zuwendung im Minutentakt abzurechnen“, schreibt Susanne Breit-Kessler. Aber wir tun das – auch in der Diakonie. So haben wir kaum Zeit, sie zu sehen. Die Mütter und die Töchter, die um der Liebe willen zurückstecken. Familie, die es schafft, wenigstens abends zusammen zu essen. Sie zünden eine Kerze an, jetzt halten sie einander an den Händen und singen ein Tischlied. Das schwule Paar, das nun endlich die Trauung in der Kirche feiern will. Und die ganz Jungen, die beim Valentinsgottesdienst ihre Liebe gefeiert haben. Geben wir ihnen Raum in unserer Kirche – damit die Liebe sich ausbreitet wie der Duft von Nardenöl. Für einen Augenblick ist wieder Paradies – dann berühren sich Himmel und Erde. Und dann wächst die Hoffnung, dass die Liebe überlebt – trotz aller Brüche. Trotz all des Stückwerks in unserem Alltag.

 

12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.

 

Die Kirche, davon bin ich überzeugt, ist nicht zuerst eine moralische Anstalt. Theodor und Friederike Fliedner, die die Kaiserswerther Diakonissenanstalt gründeten, nannten sie eine Liebesanstalt. Das klingt heute missverständlich. Aber so ist es eben – die Liebe ist missverständlich. Aber wir brauchen sie wie die Luft zum Atmen. Auch die Gemeinschaft der Gläubigen ist nicht vollkommen, sie bleibt die Gemeinschaft der Sünder. Auch die Diakonissen waren natürlich keine Heiligen. Aber sie bildeten eine Wahlfamilie und gaben vielen anderen darin Raum.

Genau darum wird die Kirche gebraucht. So viele suchen auch heute nach einer Wahlfamilie. Nach einem Freundesnetzwerk, das trägt. Die jungen Alten genauso wie die Alleinerziehenden. So viele sind auf der Suche nach einem Platz, wo sie zu Hause sind, wo sie sich austauschen können, wo sie Hilfe finden. Nach Heimat in einer mobilen Gesellschaft. Seit Jesus wissen wir: die Form ist nicht so entscheidend. Es geht um den Geist der Offenheit, der Großzügigkeit und der Fürsorge. Es geht um die Liebe in all ihren unterschiedlichen Gestalten. Geben wir ihr Raum unter uns.

 

Denn am Ende bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe diese die. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

 

Cornelia Coenen-Marx, Saarbrücken, 18.02.2018