Newsletter Nr. 2/15, Oktober 2015

Bewährungsprobe Gemeinwesen

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Willkommenskultur, das ist ein großes Schlagwort in diesen Wochen. Und es ist einfach bewegend, zu erleben, wie Menschen, die aus Kriegen und Elend fliehen, hier willkommen geheißen werden: die Szenen der herzlichen Begrüßung an den Bahnhöfen, der Einsatz so vieler Freiwilliger in den Aufnahmestellen, die Selbstverständlichkeit, mit der Menschen Spenden bringen, bei Behördengängen helfen, Deutsch unterrichten oder auch ihre Wohnung teilen. (Übrigens bin ich überzeugt, dass bei dieser Hilfsbereitschaft auch das Wissen mitschwingt, dass die Kriege und das Elend, aus denen die Menschen fliehen, auch etwas mit unserer Politik und unserem Wirtschaften zu tun haben.) Beim Deutschen Engagementpreis ww.deutscher-engagementpreis.de, in dessen Jury ich mitarbeite, gibt es in diesem Jahr eine eigene Preiskategorie „ Willkommenkultur gestalten“; bei der Durchsicht der Projekte war ich begeistert über so viel Tatkraft und  Menschlichkeit. Doch ist zugleich eine gewisse Unsicherheit zu spüren: Wie soll es hier auf Dauer weitergehen? Es besteht kein Zweifel, dass es um eine enorme Veränderung unserer Gesellschaft geht – und darum, diese Veränderung so zu gestalten, dass die Zukunft für uns alle lebenswert wird. 

Welche Denkweisen, welche Erinnerungen und Traditionen, welche praktischen Erfahrungen können dabei als Orientierung dienen? Und welchen Beitrag können die Kirchen in Europa dazu leisten mit ihrer Engagement, ihren Immobilien und Traditionen? 

Da ist zunächst die sehr konkrete Erinnerung an die großen Flüchtlingsbewegungen, die Integration und Aufbauleistung in unserem Land nach dem Zweiten Weltkrieg. Unser Wohlstand ist darauf aufgebaut,  die Struktur der sozialen Sicherungssysteme lebt von der Erfahrung und dem Wissen, dass wir nicht nur allein für unser Schicksal verantwortlich sind, sondern dass Armut und Reichtum auch mit politischen Rahmenbedingungen zu tun haben: „Was anderen passiert – Flucht, Vertreibung, Armut, Krankheit –  könnte dir auch passieren“.

Solidarität – die große gesellschaftliche Idee – beginnt mit einer kleinen, mit der Gastfreundschaft. Gastfreundschaft findet mitten im Alltag statt. Ihr Rahmen ist kleiner gesteckt, doch die Herausforderung ist vielleicht noch umfassender, denn sie bringt uns den anderen sehr nah. Gerade darum steckt darin die Chance, im anderen das Eigene zu entdecken, im Fremden den Verwandten.

Die antike Idee der Gastfreundschaft, die Xenia, beschreibt einen strikten Verhaltenskodex zwischen Gastgeber, Gast, Fremdem oder Schutzflehenden, der beide verpflichtet. Sie zu verletzen bedeutete Frevel gegenüber den Göttern. Schließlich könnten sich die Fremden ja selbst als verkleidete Götter erweisen. Fremde aufzunehmen aber ist ein Akt der Frömmigkeit. Und dies endete nicht mit dem Abschied, vielmehr galten die Gastfreunde und selbst ihre Nachkommen fortsn als einander verwandt.

Die ersten christlichen Gemeinden gingen noch weiter: „So seid Ihr nun nicht mehr Gäste und Fremde, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“, heißt im Epheserbrief. Hier, mitten im Völkergemisch der ausgehenden Antike, finden wir eine wahrhaft utopische Situation: Gemeinden aus den unterschiedlichsten ethnischen Gruppen und ökonomischen Schichten. Als Brüder und Schwestern um Christi willen. „Da ist nicht mehr Grieche, Jude, Beschnittener, Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Knecht, Freier, sondern alle und in allen Christus“, sagt der Kolosserbrief – ein Gedanke der die Welt verändert hat. Die christlichen Minderheiten konnten Fremdheit ertragen, weil sie sich selbst als Fremde im eigenen Land empfanden. 

Die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva formuliert einen Gedanken, der die Trennung zwischen „uns“ und den „anderen“ noch von einer anderen Seite in Frage stellt: Fremde sind wir uns selbst heißt ihr Buch und erinnert daran, dass ja auch jede/r Einzelne keineswegs eine in sich homogene Einheit ist – wie viel weniger eine Nation. Dies wahrzunehmen kann helfen, das Fremde wie das Vertraute auch im anderen zu respektieren. Das gilt auch im interreligiösen Gespräch.

Solche Gedanken und Modelle können uns heute bei der Veränderung helfen. Wie in der Spätantike bieten die Kirchen auch heute Räume für Begegnung. Auch sie wollen gestaltet sein. Dabei scheint es mir von zentraler Bedeutung zu sein, dass sich die Ankommenden genauso willkommen fühlen wie die, die schon lange da sind, aber häufig kaum wahrgenommen werden und sich deshalb zu kurz gekommen fühlen.

In den 80er Jahren habe ich einen solchen Raum der Begegnung mitgestalten dürfen: Im Café und in der Kleiderkammer im Wickrather Gemeindeladen kamen die Lebensgeschichten zu Gehör, die normalerweise in der Kleinstadtgemeinde verschwiegen wurden. Die Not der Arbeitslosen und der von der „Stütze“ lebenden Familien, die Diskriminierung und die Kultur der Roma, die Einsamkeit der pflegenden Angehörigen und allein lebenden Alten, die religiösen Fragen der Frauen, die einen Mann aus der türkischen Gemeinde geheiratet hatten. Im Gemeindeladen, der zugleich offener und geschützter Raum war, ließ sich ahnen, wie viel Unbekanntes, Unausgesprochenes, wieviel Fremdes es mitten unter uns gibt. Wie viele Menschen darauf warten, gehört und beteiligt zu werden. 

In den letzten Jahrzehnten sind viele solcher Initiativen entstanden.Immer wieder hat sich die Kirche zu einem Motor für ein lebendiges Quartier entwickelt hat, etwa das Hamburger Projekt www.stadtmitgestalten.de, die Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin Kreuzberg www.heiligkreuzpassion.de, das Jubilate-Forum Lindlar www.jubilate-forum.de – ein hervorragendes Beispiel übrigens für die nordrhein-westfälische Initiative Wohnquartier4. Wenn Sie mehr über solche Projekte wissen oder eigene bekanntmachen wollen, schauen Sie mal auf:  www.Kirche-findet-Stadt.de oder  www.gemeinwesendiakonie.de oder rufen Sie  www.wirsindnachbarn-alle.de auf. Alle diese Netzwerke zeigen, was Kirche und Diakonie mit ihren Engagierten beitragen können zum dringend notwendigen Kulturwandel. Denn gesellschaftliche Veränderungen gehen von unten aus – von Engagierten und von kommunalen Prozessen. Der Staat ist allerdings gefragt, eine stabile Infrastruktur und tragfähiges Recht zu schaffen. 

Die Arbeit von Kirche im Quartier voranzutreiben, Gemeinde, diakonische Dienstleister und Verbände dabei zu unterstützen, hilfreiche Netzwerke zu bilden,  das ist mir selbst weiter ein wichtiges Anliegen. Informationen zu aktuellen Vorträgen und Workshopangebote zu diesem Thema, zur Entwicklung des sozialen und bürgerschaftlichen Engagements und zur Unterstützung in Übergangsprozessen finden Sie auf meiner Website  und auch auf meinem neuen Flyer, den Sie hier  bestellen können oder direkt hier herunterladen


Ich wünsche Ihnen einen bunten, aufregenden, schönen Herbst und ein fröhliches Erntedankfest mit Freude am Teilen. Mehr dazu auf meinem Blog Tausend Dank.

Ihre Cornelia Coenen-Marx

Seele und Sorge GBR
Impulse-Workshops-Beratung

  

PS: Bis zum 31. Oktober können Sie noch abstimmen über den Publikumspreis im Deutschen Engagementpreis. www.deutscher-engagementpreis.de. Tragen Sie mit Ihrer Stimme dazu bei, dass das Engagement noch sichtbarer wird und Beispielcharakter gewinnen kann. Die Preisverleihung findet am 8. Dezember in Berlin statt. Und schon am 25. November werden in Berlin die Gewinner des Innovatio-Preises für überzeugende Zukunftsmodelle in Diakonie und Caritas geehrt. 

In unregelmäßigen Abständen wird dieser Newsletter Sie drei- bis viermal im Jahr über Aktivitäten von Seele und Sorge informieren.

Ich freue mich auch über eine persönliche Nachricht:
coenen-marx@seele-und-sorge.de