1. Ziele
Wenn Sie einmal am Ende Ihres Lebens stehen – Was möchten Sie dann erreicht haben? Das war die letzte Frage in einem Interview letzte Woche. Welche Träume habe ich noch, welche Wünsche will ich mir erfüllen? Zwei Bücher sind in Arbeit, die Idee eines Pflegezirkels, aber vieles von dem, was mir noch am Herzen liegt, entspricht einfach dem Weg, den ich seit langem beschreite. „Haben Sie einen Wunsch, den Sie sich noch erfüllen müssen?“, hat auch Iris Radisch den Schriftsteller Andrej Bitow gefragt.[1] „Ich möchte immer nur das nächste tun, das nächste von allem, was ich noch nicht getan habe. Ich möchte, dass es eine Fortsetzung gibt“, antwortet er. Aber im Grunde denke ich, dem Wesentlichen kann man nichts hinzufügen. Das Wesentliche kann man nicht erreichen. Man kann darum herum schreiben, schöne Verse machen, guten Wein trinken, einen guten Stuhl bauen. Mehr schafft man nicht“, so Bitow.
Wenn der Zeithorizont sich im Altern verschiebt, wird die Frage drängender, wie wir die Lebensphase nutzen, die noch vor uns liegt. Noch einmal aufbrechen und Neues wagen – die gewohnten Rollen verlassen. Einen ungelebten Traum endlich in die Wirklichkeit umsetzen. Oder einfach weglassen, was lediglich den Erwartungen anderer entspricht oder was sich so an Gewohnheiten angesammelt hat: Wesentlich werden, nennt eine Freundin das. Wissen, was wirklich zählt – und es ohne Druck genießen.
Wer sich auf dem Zeitschriftenmarkt umschaut, findet in letzter Zeit immer mehr Magazine, die Lust auf die so genannte dritte Lebenshälfte machen – diese geschenkte Zeit, in der wir uns gesund genug fühlen, um noch einmal aufzubrechen, während Alter und Gebrechlichkeit noch weit entfernt scheinen. Die „Power Ager“ sind interessant geworden – nicht nur für Reiseunternehmen, Schiffbauer, Architekten und Stadtplaner oder für die Mode- und Kosmetikindustrie. Sie bereichern auch die Zivilgesellschaft, tragen soziale Initiativen und Start ups. Auch auf der Website www.poweraging.de gibt es Tipps zur Persönlichkeitsentwicklung und die Gestaltung eines aktiven Lebens, kurz, es geht darum, ein passives Verständnis des Alterns zu überwinden.
Die jüngste EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt: 75 Prozent der 60- 69 –jährigen blicken zuversichtlich auf ihr weiteres Leben; und über ein Drittel geht davon aus, dass noch ein Neuanfang stattfinden kann. Viele machen sich noch einmal auf den Weg und helfen international als Au-pair, im Senior Expert Service oder übernehmen einen freiwilligen Einsatz in Krisengebieten. Andere engagieren sich jetzt in der Flüchtlingsarbeit, lernen Menschen aus anderen sozialen und kulturellen Kontexten kennen oder arbeiten mit am Entstehen neuer Netzwerke – als „Leih-Omas“, Stadtteilmütter, Senior-Mentoren für Schüler und Azubis, in Familienzentren und Generationenhäusern. Dabei geht es oft um das Elementare – um Kinderbetreuung und Einkäufe, um Hausaufgaben und Mittagstische. Landläufig Aufgaben, die in Familien und Nachbarschaften wahrgenommen wurden, heute aber reichen die Beziehungsnetze weit darüber hinaus. Und oft entstehen dabei tragfähige neue Freundschaften und Liebesbeziehungen.
„Im Alter neu werden können“, hieß auch die Denkschrift zum Altern, die die EKD 2010 heraus gegeben hat. Gerade diejenigen, die der Kirche nahe stehen, blicken, wie Untersuchungen zeigen,[2] durchaus mit Zuversicht auf ihr weiteres Leben und können sich vorstellen, noch etwas Neues zu beginnen. Sie wehren sich zu Recht, wenn sie das Gefühl bekommen, von der Kirche vor allem als Hilfebedürftige und potenzielle Pflegebedürftige wahrgenommen zu werden. Gelingendes Altern heißt heute aktives Gestalten und entsprechend bedeutet Spiritualität im Alter eben durchaus nicht nur, sich auf das Ende vorzubereiten, sondern Energie zu schöpfen für eine neue, spannende und herausfordernde Lebensphase. Gebürtlichkeit statt Sterblichkeit heißt mit Hannah Ahrendt das Stichwort für die Suche nach einer neuen Religiosität des Älterwerdens. „Kann man denn im Alter noch einmal neu geboren werden?“, fragt Nikodemus Jesus, als er heimlich bei Nacht zu ihm kommt, auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens.[3] Ja, sagt Jesus, und erzählt von dem Neuanfang aus dem Geist Gottes. Oder denken Sie an Abraham und Sara, die in ihrem Alter aufbrechen in das Gelobte Land und spät noch den ersehnten Sohn zur Welt bringen – so spät, dass Sara selbst diese späte Schwangerschaft lächerlich findet.
Nach seinem Schlaganfall hat der BAP-Sänger Wolfgang Niedecken eine seiner schönsten CDs herausgebracht: „Zusamme Alt“, eine Sammlung von Liebesliedern voller Sentimentalität und Aufbruchslust. „Weck mich aus dem Albtraum, saach mir, wo ich ben. In all de Labyritnhe blieht mir nur ding Stemm“.
2. Neustart
Vorstellungsrunde während einer Coaching-Fortbildung. Vor uns liegen Lebenslandschaften mit Sonnengipfeln, Liegewiesen, schmalen Graten und Jammertälern. Die Teilnehmenden sollen sich mit ihren Erfolgen und ihrem Scheitern und mir ihren Zielen für die nächste Zeit vorstellen. Das verlangt, dass alle die konventionellen Selbstbeschreibungen mit Rollen, Funktionen und Erfolgsbilanzen überwinden und sich auch zu ihren Verletzungen und Grenzen bekennen. Denn auch die Auseinandersetzung mit Verlusten und mit Scheitern macht produktiv. Mir fällt auf, wie selbstverständlich diese Erkenntnis inzwischen ist: niemand muss die eigene Vergangenheit glätten, entscheidend ist, die Zukunft zu gewinnen, die eigenen Energiequellen frei zu legen. Die meisten in der Runde sind zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig und in besonderer Weise dem Gesetz des Gelingens unterworfen; hier geht es darum, sich selbst zu aktualisieren, das Beste aus den eigenen Gaben zu machen – und damit zugleich einen Lebensunterhalt zu realisieren, eine Familie zu unterhalten. Kein Wunder, dass einem hier eben auch gescheiterte Lebensträume und Selbstüberforderungen begegnen.
Einen Traum realisieren zu können, ohne damit den Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Die eigenen Ziele definieren – ganz unabhängig von den Zielsetzungen einer Organisation, eines Arbeitgebers. Ein Privileg, ein Traum. Aber genau darin liegen die Chancen des Alterns. In aller Freiheit zu definieren, was ich nicht mehr will, mich unabhängig machen von ungesundem Druck, von Erwartungen, die nicht lebbar sind. Umgekehrt geht es aber auch darum, die neue Freiheit zu nutzen und die Zeit, die mir bleibt, bewusst zu gestalten.
Der französische Philosoph Roland Barthes entschied sich, einen Roman zu schreiben, als seine Mutter gestorben war. Ihm war klar: Wenn ich etwas ganz Neues beginne, dann muss ich mein Leben so einrichten, dass ich diesen Traum verwirklichen kann. Dann muss ich ein neues Leben beginnen. Dafür gibt es seiner Auffassung nach ein paar grundlegende Voraussetzungen: Es braucht einen bewussten Entschluss. Man muss den Alltagstrott verlassen, die eigenen Routinen überprüfen. Es geht darum, dem eigenen Leben einen neuen, grundlegenden Inhalt zu geben.[4]
Margarete von Trottas Film über Hildegard von Bingen erzählt, dass die bekannte Klostergründerin gegen Ende ihres Lebens eine ungewöhnliche Entscheidung trifft. Sie verlässt das Kloster, in dessen Aufbau sie ihr ganzes Leben investiert hat, verlässt den Konvent und ihre Rolle als Äbtissin und bricht zu Pferd auf eine Predigt- und Seelsorgereise auf. Allein – nur von wenigen Freunden begleitet. „Wir sind hier, um das, was uns gegeben wurde, vollständig und freiwillig zurück zu geben“, sagt der Franziskanerpater Richard Rohr, der ein Buch über die spirituelle Reise der zweiten Lebenshälfte geschrieben hat.[5] In der ersten Lebenshälfte, schreibt er unter Bezug auf Carl Gustav Jung, gehe es darum, ein Heim und eine Familie aufzubauen, ein sicheres Fundament für das Leben. Dann aber sei die Herausforderung, das alles wie Hildegard loszulassen und noch einmal frei zu werden. Wissend frei, weil wir ein neues Gefühl für Grenzen und Begrenztheit auch unserer Zeit haben.
3. Wandlung
Die Bibel zeichnet diese Bewegung in der Geschichte von Jakob nach. Sie erinnern sich an den Zweitgeborenen, der seinem Bruder Esau das Erbe abluchste – und seinem Vater Isaak den Segen. Ein junger Mann, voller Hunger nach Leben, dem jedes Mittel Recht scheint, um zu bekommen, was das Schicksal ihm verweigert: Land und Herden, die dem Erstgeborenen zustehen, eine große Familie und viele Nachkommen, eben Erfolg und Segen. Der Schwindel fliegt auf und Jakob flieht durch die Wüste zu seinem Onkel Laban. Er wird sich durchkämpfen durch die Widrigkeiten der kommenden Jahre und es wird ihm tatsächlich gelingen, sich nach und nach den Reichtum aufzubauen, von dem er geträumt hatte – und es scheint tatsächlich, als sei der Segen mit ihm, den er sich doch eigentlich nur erschlichen hatte. Als stünde ihm der Himmel offen. Davon erzählt der Traum von der Himmelsleiter, den er auf der Flucht geträumt hatte.[6]
Interessanterweise lässt uns die Geschichte diesem Jakob noch einmal begegnen – in einer anderen Nacht, gegen Ende seines Lebens. Es ist eine Art Gegengeschichte – denn Jakob ist auf dem Weg zurück, um sich mit Esau zu versöhnen. All seine Herden, seine Frauen und Kinder hat er am Ufer zurück gelassen; er ist allein, als er in der Nacht am Fluss Jabbok mit einer unbekannten Macht ringt[7]. Noch einmal geht es um den Segen – jetzt aber nicht mehr in diesem äußeren Sinne von Erfolg, Land und Besitz, sondern in einem inneren Sinn. Es geht um die eigene Integrität, um das Akzeptiertwerden – nicht nur von der Familie, sondern letztlich von Gott. Am Ende ist Jakob verletzt – er hinkt, aber er geht der Sonne entgegen. Und er ist ein anderer geworden oder in einem tieferen Sinne er selbst: von jetzt an trägt er den Namen Israel.
Der Maler Max Beckmann hat die beiden Gottesbegegnungen Jakobs in einem einzigen Holzschnitt dargestellt [8]– er zeigt Gott mit Jakob auf der Leiter. Wie Jakob sich festhält an dieser Gottesgestalt und doch zu fallen droht in die Tiefe und Dunkelheit des Flusses. Von oben aber, von der Spitze der Leiter, strahlt Licht ins Bild – die aufgehende Sonne. Es ist, als zöge sie den Fallenden nach oben. „Ich bin in meinem Leben oft gefallen, sei es in Beziehungen oder im Beruf, emotional oder körperlich, doch immer gab es einen Trampolineffekt, der bewirkte, dass ich letztlich nach oben gefallen bin“, schreibt der Franziskanerpater Richard Rohr.
Der Jakobsweg ist ähnlich wie die „Heldenreise“ zur Landkarte eines Coaching-Prozesses geworden, ein Symbol für Wandel und Veränderung. Wir werden herausgerufen aus dem Gewohnten, finden Mentoren, die uns über die Schwelle begleiten. Wir müssen Prüfungen und Kämpfe bestehen und werden schließlich belohnt. Und dann kehren wir mit den neu gewonnenen Schätzen den Rückweg an und müssen noch einmal eine Schwelle überschreiten – dabei wird spürbar: wir sind ein anderer geworden. Während wir im Außen unterwegs waren, sind wir zugleich einen inneren Weg gegangen.
4. Selbstüberschreitung
Es ist kein Zufall, dass viele in dieser Phase eine äußere Reise unternehmen oder ein Buch schreiben. Das sind Möglichkeiten, die innere Bewegung im außen sichtbar und greifbar zu machen. Produktiv zu werden jenseits der sonst üblichen Vorstellungen von Produktivität. Denn leider messen wir unseren „Output“ ansonsten wie man den Output von Maschinen misst – nach möglichst großer Effizienz. Wir wollen funktionieren. Ariadne von Schirach, die mit ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“ zu einer neuen Lebenskunst ermutigen will, schreibt: „Wenn der Wert der Natur ihr Ertrag ist und der Wert des Tieres seine Tauglichkeit als Futter, Lastenträger oder Attraktion, dann ist der Wert des Menschen seine Arbeitskraft und seine Fähigkeit, ein gutes Bild abzugeben. Doch die Würde des Menschen liegt jenseits solcher Zwecke. Eine Zeit, die den Wert eines Menschen mit seiner Leistungskraft gleichsetzt, ist eine würdelose Zeit. Sie diskriminiert diejenigen, die zur Verwertung entweder noch nicht oder nicht mehr tauglich sind – und damit irgendwann uns alle. Das Beharren auf die kategoriale Nutzlosigkeit des Menschen, verbunden mit dem Gebot, genau diese zu lieben und zu beschützen, ist die Grundlage für alle Beziehungen, die das Reich des Widerwärtigen zu verlassen vermögen.“[9]
„Es lohnt sich nur der Weg nach innen“, heißt eines der Bücher von Sam Keen über „Das kreative Potenzial der Langeweile“.[10] Keen legt den Finger in die Wunde einer Zeit, in der immer etwas los sein muss, damit man sich spürt. Nur keinen Stillstand aufkommen lassen, nur nicht zur Ruhe kommen. Dabei ist genau das die Voraussetzung, unsere Erfahrungen zu reflektieren und unsere Gefühle zu nutzen – uns zu verändern. Nichtstun und Träume haben, anderen mit Empathie begegnen – für Sam Keen sind das Haltungen auf dem Weg nach „oben“, zu mehr Gesundheit, Lebendigkeit und Engagement.
Darum geht es, wenn die so genannten Power-Ager noch einmal neu starten und für andere, aber auch für sich selbst Verantwortung übernehmen – nun aber in einem Sinne, der sich selbst zugleich realisiert und überschreitet, so wie das bei Jakob am Jabbok der Fall ist, der nach Hause kommt, aber nun einen neuen Namen trägt. Lars Tornstam, der Untersuchungen zur Spiritualität älterer Menschen in Schweden durchgeführt hat, spricht in diesem Zusammenhang von Gero-Transzendenz oder auch von Ego-Transzendenz. [11]
Der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift „Psychologie heute“, Heiko Ernst, spricht von Generativität und sagt, sie sei „unser Zukunftssinn. Wir richten das Denken über die eigene Existenz hinaus. Generativität ist die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, für andere da zu sein, Wissen und die eigenen Erfahrungen in die Gesellschaft einzubringen und etwas weiter zu geben“ – und sie hängt nicht davon ab, ob wir eigene Kinder zur Welt bringen. Generativität gibt Antwort auf zwei Fragen: Wie geht es mit mir weiter? Und: wie geht es mit meinem Umfeld weiter?
5. Generativität
Vor einiger Zeit bin ich im Traum einem älteren Ehepaar begegnet, das eine große Grünlilie in viele kleine Blumentöpfchen umpflanzte. Sie wollten die kleinen Pflänzchen zu ihrem 80. Geburtstag verschenken – etwas aus ihrem Haus für alle, die ihnen lieb sind. Lebendiges Erbe Grünlilien schlagen Luftwurzeln und lassen sich ganz leicht in neue Erde verpflanzen. Für mich war das ein wunderbares Bild für die Aufgabe der dritten Lebensphase.
Anteil zu nehmen am Leben der Jüngeren und etwas weiterzugeben, das ist für die allermeisten alten und auch sehr alten Menschen ein zentraler Lebensinhalt. Die Hochaltrigenstudie der Universität Heidelberg [12]liefert Ergebnisse, die nur diejenigen überraschen, bei denen die Rede vom demografischen Wandel allein Bilder von Alter als Belastung hat entstehen lassen: 76 Prozent der befragten 80- bis 99-Jährigen empfinden Freude und Erfüllung in emotional tieferen Begegnungen mit anderen Menschen. 61 Prozent im Engagement für andere Menschen. Und 60 Prozent haben das Bedürfnis, – vor allem von den jüngeren Generationen – auch weiterhin gebraucht und geachtet zu werden. 85 Prozent beschäftigen sich intensiv mit den Lebenswegen der nachfolgenden Generationen in der eigenen Familie.
Tatsächlich sind Großeltern eine wichtige Stütze für junge Familien, sie springen mit Geld, aber auch viel mit praktischer Hilfe ein, wenn die Belastungen aus Arbeit und Familie die mittlere Generation an den Rand bringen. Die unmittelbaren Beziehungen zwischen den Generationen sind nach wie vor eine bedeutsame Säule zur Sicherung von Lebensrisiken und Lebensqualität. Denn das materielle und das immaterielle Generationenerbe, das Ältere einzubringen haben, ist erheblich. Das geht weit über die eigene Familie hinaus. In Projekten zur Frühförderung von Kindern, in ambulanten Hospizdiensten oder an Mittagstischen, wo Einheimische und Migrantinnen Gerichte aus aller Welt kochen und gemeinsam essen, spielen die jungen Alten eine entscheidende Rolle. Was sie einbringen, ist nicht nur praktische Hilfe, sondern auch das kulturelle, geistige und geistliche Erbe, aus dem auch die nächsten Generationen noch leben.
Ich denke an Kirchenkuratorinnen und ehrenamtliche Kirchenpädagogen, an Menschen, die Friedhöfe erhalten und Ortsgeschichte schreiben, an ehrenamtliche Prädikantinnen und Prädikanten in schrumpfenden Städten und Regionen, Mentorinnen und Mentoren, Stifterinnen und Stifter – materiell wie immateriell hat die ältere Generation ein reiches Erbe weiterzugeben.
6. Gemeinschaft und Engagement
Die christliche Gemeinde hat von Anfang an Erfahrung mit dieser Art Familiaritas, die nicht allein auf echter Verwandtschaft beruht, sondern auf Zusammenhalt und Vertrauen auch über Unterschiede hinweg. Der sterbende Jesus verweist seine Mutter und seinen Freund Johannes aneinander: „Siehe, das ist deine Mutter“, „Siehe, das ist dein Sohn“. Pflegekinder und Pflegeeltern, Paten und Klostergemeinschaften waren über Jahrhunderte selbstverständlich. Das alles kehrt heute zurück in Lesepatenschaften und mit Leihomas, aber auch in generationenübergreifenden Wohnprojekten. Die Mehrgenerationenhäuser und neuen Dorfgemeinschaften zeigen: unsere Gesellschaft ist im Aufbruch in Richtung Wahlfamilien.
Auf Schloss Blumenthal in Bayern haben sich Menschen zusammengetan, um miteinander anders zu leben. Eine bunte Mischung von Individualisten vom Parkettpfleger über den Mediziner, von der Hotelkauffrau bis zur Steuerfachangestellten oder zur Yogalehrerin. Ihre Zukunftsvision ist ein Grundeinkommen für jedes Mitglied aus den Gewinnen der Betriebe und eine gemeinsame Altersversorgung. Schloss Blumenthal ist eine GmbH und Co KG mit einer Investitionssumme von 5 Mio. Euro jährlich. Die Basis bildet ein Hotel mit 80 Betten in einem alten Herrenhaus, ein Gasthaus sowie Gärten und Parks. „Wir stehen hier immer vor der Frage, wie sieht unsere Balance zwischen Ökonomie und Gemeinschaft aus“, wird der Geschäftsführer Martin Horack zitiert, der hier einst mit 8 Familien begann und inzwischen in einem kleinen Dorf lebt – mit Kindern und Älteren und Menschen aus allen Berufsgruppen.
Für Menschen, die alleinerziehend mit Kindern leben, die in die dritte Lebensphase eintreten und damit rechnen, mehr Hilfe zu brauchen, für Menschen mit einer Behinderung oder für Singles, die einen Ort der Zugehörigkeit suchen, wird es wichtiger, darüber nachzudenken, wo und wie sie leben. Henning Scherf, Malu Dreyer stehen für solche Projekte. Die Idee in diesen Projekten: starke Nachbarschaften, in denen man einander wechselseitig hilft, mit wechselseitigen Dienste und Hilfen füreinander einstehen. Hausaufgabenhilfe gegen Einkaufsdienste ganz wie in einer Mehrgenerationenfamilie. Dabei geht es durchaus darum, einander nützlich zu werden – nun aber nicht nur in einem materiellen Sinne.
Ich erinnere mich daran, wie meine Urgroßtante auf mich aufpasste, wenn meine Eltern abends unterwegs waren. Sie saß dann mit ihren steifen Beinen – sie hatte Arthritis – auf einem kleinen Bänkchen und las mir vor oder sang mir vor. An einem Abend rutschte sie von diesem Bänkchen herunter und konnte sich nicht mehr allein aufrichten – und auch ich war zu klein und zu schwach, ihr zu helfen. So saß sie den gesamten Abend und sang das Choralbuch von vorn bis hinten durch – und ich genoss es. Das wichtigste, was sie mir gegeben hat, war vielleicht das Gefühl, das man auch mit Angewiesenheit gut leben kann. Und dass auch ein solcher Abend seine Schönheit hat. Ihre Lebenserfahrung und Gelassenheit und ihr Gottvertrauen haben mich lange über ihren Tod hinaus getragen.
Für mich ist sie ein Beispiel dafür, wie Spiritualität über die Generationen weitergegeben wird – zumeist ganz selbstverständlich, als Lebenserfahrung im Alltag. Viele Menschen suchen Mentoren und Ratgeber, die ihre Erfahrungen einbringen, aber keine eigenen Aktien und Interessen mehr im Spiel haben, die frei von Loyalitäts- und Konformitätsdruck auf das Ganze sehen können, die sich mit den eigenen Fehlern und Umwegen ausgesöhnt haben und deswegen auch andere vorurteilsfrei begleiten können. Es ist an der Zeit, diese Rolle der Älteren bewusst wahrzunehmen und wertzuschätzen. Die Kirche kennt ja sogar ein Ältestenamt, das Amt der Presbyter. Darin steckt die Erinnerung, dass es in der Antike wie auch im Judentum eine große Ehrerbietung älteren Menschen gegenüber gab, weil sie Weisheit und Einsicht entwickeln konnten.
Solche die eigene Erfahrung transzendierende Einsicht gehört zur Spiritualität des Älterwerdens, genauso wie der bewusste Umgang mit den eigenen Schwächen, mit Unvollkommenheit und Unversöhntem, aber auch die bewusste Gestaltung von Gemeinschaft über die Generationen hinweg. Dazu gehört, zu akzeptieren, dass wir aufeinander angewiesen sind, und, wenn nötig, einander auch um Hilfe zu bitten. „Man muss für seine Seele, sein emotionales Leben Sorge tragen, und das erfordert eine Pflege seiner sozialen Netzwerke, der zwischenmenschlichen Beziehungen, seiner Interessen und Werte. Es gilt deshalb auch, seine geistigen Aktivitäten lebendig zu halten, Nachsinnen, Nachdenken, Gespräch und Diskussion zu pflegen – und es gilt, etwas für die seelische Gesundheit und Lebendigkeit zu tun und in guter emotionaler Bezogenheit zu leben“, schreibt der Psychoanalytiker Hilarion Petzold in einem Buch über gelingende Hochaltrigkeit, das er mit heraus gegeben hat.[13] Er spricht von einem guten zwischenmenschlichen Miteinander, von Konvivialität. Der Begriff liegt ganz nah am Begriff der Konvivenz, mit dem wir in der Ökumene das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Religiosität und Spiritualität bezeichnen. Immer geht es darum, die anderen – Menschen einer anderen Generation, mit anderen Erfahrungen und Perspektiven, anderen Glaubensüberzeugungen- im Miteinanderleben als Bereicherung zu erfahren.
7. Geschichte und Geschichten
Ganz oben auf einem Bücherregal in meiner Bibliothek liegt eine alte Familienbibel – eine reich verzierte in einem alten Ledereinband. Das wertvollste an diesem Stück ist die Familienchronik. Die hat der Bibel einen Ehrenplatz in meinem Regal gesichert, auch wenn es nicht unsere Familienbibel ist, nicht unsere Geschichte. Ich bekam sie als junge Pfarrerin geschenkt. Der alte Mann, der sie mir brachte, war, wie viele Gemeindeglieder, ein Flüchtling aus Ostpreußen gewesen. Die Bibel hatte er auf dem Treck mitgebracht – gut eingepackt und sicher verwahrt in seinem Rucksack. Und so brachte er sie mir auch – in mehrere Lagen Packpapier gewickelt und vielfach verschnürt. Er brachte sie zu seiner Pfarrerin, weil er nicht wollte, dass seine Söhne das Erbstück irgendwo auf einem Flohmarkt verkauften. Er hatte das Gefühl, dass der Überlieferungsfaden gerissen war. Unsere Geschichte ist voll von solchen abgerissenen Fäden. Die Vertriebenen von damals können davon erzählen – genauso wie die Flüchtlinge von heute. Und die Nachkommen der jüdischen Familien, die einst aus unseren Dörfern und Städten deportiert wurden.
Meine Großmutter Hildegard habe ich nie kennen gelernt. Sie starb am 5. Mai 1945 im Beschuss eines versprengten Tieffliegers. Bis auf ein paar Fotos und eine Brosche gingen alle Erinnerungsstücke verloren. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen habe ich eine ganz besondere Verbindung zu ihr: ich trage ihren Namen. Und meine Eltern haben so von ihr erzählt, dass sie mir nahe kam – in Bildern und Geschichten, in den Gesten meiner Tante, dem Haaransatz meiner jüngsten Schwester. Als die aufwuchs, lebte niemand mehr aus der Großelterngeneration. Und vielleicht waren es diese Erschütterungen im Fundament der Familie, die mir als Kind die Familiengeschichten der Bibel so lieb gemacht haben – von Abraham, Isaak, Jakob und Esau – und ihren Frauen Sarah, Rebekka, Lea und Rahel. Als Kind hat es mich fasziniert, wie Aufbruch in die Zukunft und Segen von einem zum anderen weiter gegeben wurde. Das Generationenerbe, das war mir früh klar, geht weit über handgreifliche Erinnerungsstücke hinaus.
Wir spüren das vor allem bei Familienfesten – bei Taufen, Konfirmationen überlegen wir, was wir Kindern und Enkeln, den Nichten und Neffen mitgeben wollen. Was wirklich zählt, was bleibt. Da wird die Uhr verschenkt, die mehr als eine Generation halten soll, den Ring, den die Großmutter trug. Vielleicht auch, wie in meiner Familie üblich, die schöne Taschenbibel mit Goldschnitt und dem Konfirmationsspruch als Widmung. Und dann beim festlichen Essen werden Geschichten erzählt, Familiengeschichten, die Identität beschreiben und aus denen wir Kraft ziehen. Vor drei Jahren feierte mein Neffe Matthias seine Konfirmation in Manchester. Er wächst in einer binationalen Familie auf und hat seitdem in Philadelphia und in München und vorher schon in Göteborg gelebt. Immer neue Schulen mit unterschiedlichen Kulturen und Leistungsanforderungen. Vielleicht deshalb liebt er es, alte Fotoalben anzuschauen und nachzufragen. „Mehr als je brauchen wir Rituale und Narrative“, sagt Rowan Williams, der Erzbischof von Canterbury, der in der weltweiten anglikanischen Kirche die Umbrüche der Globalisierung und die damit verbundenen Konflikte erlebt. Keine Religionsgemeinschaft weiß das besser als das Judentum, das seit der Zerstörung des Tempels und der Vertreibung ins Exil seine Feste und Liturgien pflegt. „Wenn Dein Kind Dich morgen fragt“, heißt es in der Liturgie für den Sederabend, dann sollst Du ihm sagen: „Wir waren Sklaven des Pharaos in Ägypten“. Wir leben von Ritualen, von Erzählungen und von Narrativen – nicht nur von denen in unseren Familien, sondern auch von denen unserer Religionsgemeinschaften. Wir sind dafür verantwortlich, der nächsten Generation Zukunft zu erschließen – durch einen bewussten Umgang mit unserer Geschichte.
„Wenn Menschen meiner Generation mich fragen, was sie denn weiter geben sollen, dann sage ich ihnen dies“, so Johannes Rau: „Sagt (Euren Kindern), „dass wir auf den Schultern unserer Mütter und Väter stehen. Sagt Ihnen, dass ohne Kenntnis unserer Tradition und unserer Geschichte eine menschliche Zukunft nicht gebaut werden kann. Sagt ihnen, dass wir ohne innere Heimat keine Reisen unternehmen können. Und sagt ihnen zu guter Letzt, dass die stete Bereitschaft zum Aufbruch die einzige Form ist, die unsere Existenz zischen dem Leben hier und dem Leben dort wirklich ernst nimmt.“[14]
8. Rollentranszendenz
Dieser Tage meldete sich ein ehemaliger Kollege mit einer Personenstandsanzeige auf Facebook. Die kleine Clara C. hat aus alle verändert, hieß es da. Sie hat aus Kindern Eltern gemacht, aus Eltern Großeltern, aus Geschwister Tanten und Onkel. So ist es – die nächste Generation verwandelt die vorige. So wie sich unser Selbstverständnis ändert, wenn die vorige stirbt. „Jetzt stehen wir in der ersten Reihe“, sagte meine Mutter, als ihre Elterngeneration gestorben war und ich dachte an eine Sturmschneise im Wald. „Die Einschläge kommen näher“ sagen andere und geben zu, dass sie so ab Mitte 50 häufiger Todesanzeigen lesen, um zu schauen, ob die eigenen Geburtsjahrgänge darunter sind. Altern ist nicht einfach ein körperlicher Vorgang bei einem isolierten Individuum, sagt Michael Großheim, „sondern wesentlich eine Verschiebung der eigenen Stellung in der Generationenfolge einer Gesellschaft.“[15]
Wir wandeln uns auch mit den Menschen, die uns am nächsten sind. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, wenn ein anderer geboren wird oder ein Mensch in unser Leben tritt, den wir lieben lernen. Mit und durch die anderen werden wir selbst ein anderer: bei einem Tod zur Waise, bei einer Geburt zu Mutter oder Vater, so werden wir Bräutigam oder Witwe, aber auch Freund oder Nachbarin – was an anderen geschieht, verwandelt auch uns. Denn wir werden am Du zum Ich, wie Emanuel Levinas und Martin Buber deutlich gemacht haben. Wenn unsere Beziehungen sich verändern, bleiben auch wir nicht, die wir waren.
Die Fotoreporterin Maggie Steber hat ihre Mutter in den letzten Lebensjahren mit der Kamera begleitet.[16] In einer Altenwohnung in Miami dokumentierte sie deren langsamen Abschied vom eigenen Ich. Madje, die Mutter, war an Demenz erkrankt. Maggie hatte immer ein distanziertes Verhältnis zu ihr gehabt. Aber während sie fotografierte, wuchs ein neues Verstehen. Schmerzhafte Erinnerungen fielen weg; Sorgen über die Zukunft spielten plötzlich keine Rolle mehr. Gemeinsam erlebten sie das Jetzt, und es wuchs eine Nähe, mit der die Fotografin nie gerechnet hätte. Am Ende starb Madje in den Armen ihrer Tochter. Es ist gerade der verkürzte Zeithorizont, der die Intensität dieser Begegnung ermöglicht. Es ist der Verlust der Vergangenheit, das Verschwimmen der festgelegten Rollen, das etwas Neues ins Leben treten lässt. Wir verändern uns mit den Rollen in der Zeit – aber wir können auch diese Rollen im Abschied nehmen und loslassen noch einmal überschreiten. In einer Art Beziehungstranszendenz, die in der Rollenumkehr Neues ermöglicht. Den eigenen Eltern noch einmal neu als erwachsene Menschen begegnen zu können, auch in Verletzungen, Hilflosigkeit und Angewiesenheit – bietet die Chance, selbst endgültig erwachsen zu werden.
Was geschieht, wenn wir an einem Sterbebett sitzen, stellt unser Denken über Leistung, Produktivität und Lebenssinn sehr grundsätzlich in Frage. Denn das Bild vom immer wachen, gesunden und leistungsstarken Menschen, der nicht auf andere angewiesen ist – dieses Bild von Freiheit und Autonomie hält im Sterbeprozess nicht stand. Andreas Kruse und Thomas Klie schreiben[17]: „Die mit einer Gesellschaft des langen Lebens verbundenen Herausforderungen verlangen nach einer Auseinandersetzung mit Fragen des Menschseins, mit dem Verständnis von Würde und mit den Vorstellungen eines guten und sinnerfüllten Lebens unter Bedingungen der Vulnerabilität. Vorstellungen von Leben und Autonomie, die den Beziehungscharakter menschlichen Lebens und dessen Angewiesenheit auf andere nicht einbezieht, sind unvollständig“. Zu dieser Angewiesenheit gehört auch das Lernen von denen, die uns voraus gehen. Die uns diese eine Erfahrung voraushaben.
In ihrem Buch „Jeder Tag ist kostbar“ beschreibt auch Daniela Tausch-Flammer, wie die Begegnung mit dem Sterben ihrer Mutter sie verändert hat. „Ich war vorher jemand, der mit viel Angst im Leben stand. Angst vor der Dunkelheit. Angst, keinen Beruf zu bekommen. Angst keinen Ort zum Leben zu finden. Angst vor Begegnung. … Durch die Lupe des Todes weitete sich der Angstring, … hielt mich nicht länger gefangen. Durch das Bewusstwerden der Endlichkeit öffnete sich eine Tür zur Spiritualität. In mir wuchs das Vertrauen: Das, was dir passiert, wird stimmen. Ich begann zu vertrauen, dass ich in meinem Leben geführt werde, von Gott begleitet bin. … Dass angesichts des Todes vor allem die Momente zählen, in denen ich gewagt habe, mich offen zu zeigen.“
Der Philosoph Thomas Rentsch spricht vom Altern als einem „Werden zu sich selbst“. Es geht darum, bewusst zu begreifen, dass die Kürze des Lebens und seine Überschaubarkeit sichtbar, erfahrbar und einsichtig werden, dass sie nicht schrecken müssen und dass nun die Chance besteht, das menschlich Wichtige vom vielen Unwichtigen dauerhaft zu unterscheiden. „Ich kann als Philosoph nicht unmittelbar an positive theologische Redeweisen anknüpfen“, schreibt er, „ich sage jedoch: Viel wäre vom Sinn dieser Reden schon bewahrt, wenn wir das Alter als eine Lebenszeit verstehen, in der die innige Verschränktheit von Endlichkeit und Sinn, Begrenztheit und Erfüllung erkennbar und einsichtig werden kann. [18]
9. Herzensgebet und Achtsamkeit
Ist es nun also doch die bewusste Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, die dem Altern Tiefe gibt? Normalerweise schieben wir dieses Thema ja doch eher in die so genannte vierte Lebensphase, die Hochaltrigkeit. Oder könnte die verdichtete Zeit geradezu ein Energieschub sein, die Neuanfänge in der dritten Phase ganz bewusst wahrzunehmen und zu gestalten? Und lernen wir möglicherweise ganz nebenbei, mit unserer Sterblichkeit umzugehen, wenn unser Alltag neue Tiefe gewinnt?
Im Zusammenhang mit einer Erkrankung im vorletzten Jahr habe ich mich mit dem Konzept des mystischen Coachings beschäftigt. Die Kieler Praktische Theologin Sabine Bobert will mit ihren Übungen einladen, sich ganz und offen auf das Leben, auf Gott einzulassen.[19] „Die mystische Erfahrung der Unio setzt voraus, dass wir von Barrieregefühlen frei geworden sind“, schreibt sie – von Gefühlen wie Hass, Angst, Wut, Neid, Lähmung und Zweifel. Solche Gefühle entfremden uns voneinander und von uns selbst; sie schneiden uns von unserer Wesensmitte und von Gott ab. Wir merken das, wenn unser Alltag sich leblos anfühlt und Gott unendlich fern erscheint. Öffnende Gefühle dagegen führen uns in Lernprozesse und lassen uns letztlich Gottes Gegenwart in allen Dingen spüren.
Sabine Bobert sieht das orthodoxe Herzensgebet als eine Möglichkeit, uns auf das Wesentliche zu zentrieren und Ruhe, Gelassenheit und Frieden zu finden. Es geht dabei nicht um viele Worte, sondern eigentlich nur um eine Gebetsformel wie das 1500 Jahre alte „Jesus Christus, erbarme dich meiner“ oder das „Liebe umgibt mich“ aus der Wolke des Nichtwissens. Diese Formen des Gebets und der Meditation haben viel gemeinsam mit der mystischen Versenkung und den Mantren im Buddhismus, der ja nicht zuletzt die Generation der Power Ager mit geprägt hat. Auch hier geht es um die Konzentration auf den Atemrhythmus, um heilende Inhalte. Sabine Bobert macht Mut, diese Formen der Mystik im Alltag einzuüben – beim Aufwachen und Einschlafen wie auch in Pausenzeiten am Bus oder auf dem Fahrrad.
Dabei geht es um eine Erfahrung von Führung aus der Mitte, die gerade im Übergang in einen neuen Lebensabschnitt sehr wichtig ist. Der Weg steht noch nicht fest, er bildet sich im Gehen. Das entspricht unserer heutigen Alternserfahrung, die ja gerade nicht so selbstverständlich auf geprägte Altersbilder zurückgreifen kann. Nicht nur Gebete, auch Tagebücher und Walking, Naturerfahrung können zur meditativen Praxis gehören. Es geht darum, im eigenen Hier und Jetzt anzukommen, Ewigkeit in der Gegenwart zu spüren und eben damit von Zukunftsangst frei zu werden. Diese Erfahrung, so Bobert, kann sich gerade in kritischen Zeiten, in Krankheit und Krisen, bewähren.
10. Kirche als Pilgerschaft
Fast vierzig Prozent der evangelischen Bürgerinnen und Bürger über sechzig nehmen nach eigener Aussage in irgendeiner Weise am Gemeindeleben teil – damit liegt die Kirche weit vor anderen Organisationen. Viele der Angebote drehen sich allerdings um Gemeinschaftsbildung und Engagement. Ich denke an offene Treffpunkte, Sport- Tanz- und Reiseveranstaltungen, aber auch an das Engagement bei Tafeln, in der Nachbarschaftshilfe oder in Hospizdiensten, an Mentoringprogramme und Leihoma-Dienste. Generationenübergreifende Angebote und gemeinwesenorientierte Pattformen gewinnen an Bedeutung und es ist unstrittig, dass die jungen Alten nicht nur das Gemeindeleben, sondern auch die Nachbarschaften entscheidend tragen.
Wie sieht es aber mit spirituellen Angeboten aus? Die überkommenen Formen von der Frauengruppe bis zum Altenbesuch haben ihre Attraktion verloren – auch deshalb, weil sie mit dem Gefühl von Passivität und Hilfebedürftigkeit verbunden sind, von dem ich am Anfang gesprochen habe. Die geprägten Formen, ja selbst die Lieder und Liturgien vermitteln den Eindruck, die letzte Lebensphase mit ihren Gestaltungsaufgaben sei vorgezeichnet – eine Zumutung und ganz sicher eine Illusion in einer pluralistischen Gesellschaft, in der diese Phase durch vielfältige Neuanfänge gekennzeichnet ist, die so noch nicht erprobt wurden. Seelsorgerinnen und Seelsorger und andere Engagierte in der Gemeinde sind dabei Weggefährten – manchmal vorauslaufend, manchmal selbst lernend. Und das Wesentliche wird sein, offen und fragend miteinander umzugehen und Spiritualität gemeinsam neu zu entdecken und Rollen zu überschreiten.
Muss und soll es alternsspezifische Angebote geben? Oder sind es die bestimmten Themen, denen wir im Laufe des Lebens immer neu und immer anders begegnen? Rollenwechsel, Neuanfänge, Aufbrüche und Abschiede beschäftigen uns immer wieder und mit immer anderem Fokus und es kann gerade die gemischte Gruppe sein, die uns das bewusst macht. Das gleiche gilt für die Erfahrungen von Trennungen, Einsamkeit und Aussöhnung. Und letztlich auch für den Umgang mit Endlichkeit und Verletzlichkeit. Die Strategien, mit denen wir diesen Themen im Laufe unseres Lebens begegnen, mögen sich nicht grundlegend ändern- sie werden aber immer neu auf den Prüfstand gestellt. Darin liegt eine Chance, Verzerrungen loszulassen und zu sich selbst zu kommen. Vielleicht ist es aber vor allem der unterschiedliche Zeithorizont, das Lebenstempo, das die Lebensalter unterscheidet. Es ist der Umgang mit Endlichkeit und Ewigkeit, der dann auch dem Umgang mit Träumen und Zielen und letztlich auch unseren Blick auf Gott und die Welt verändert.
Das Leben als Reise, als Pilgerschaft ist für viele heute zu einem spirituellen Bild geworden. Es passt in eine Zeit der Mobilität und Migration und der immer neuen Aufbrüche – beruflich wie privat. Frühere Generationen haben den Weg weiter gedacht bis hinein in eine Ewigkeit, die wir uns trotz aller Erfahrung nicht vorstellen können. „Ich preise dich, mein Erretter, dass du mir auf der Erde kein Vaterland und kein Wohnung gegeben hast, so dass ich mit David sage: „Ich bin dein Pilgrim und dein Bürger“, heißt es bei Johann Amos Comenius. Letztlich, so Comenius, geht es darum, unterscheiden zu lernen, loszulassen und wesentlich zu werden. „Du hast mich vor der Torheit bewahrt, das Zufällige für das Wesentliche, den Weg für das Ziel, das Streben für die Ruhe, die Herberge für die Wohnung, die Wanderschaft für das Vaterland zu halten“. „Im Alter erzählt man sich sein Leben neu“, sagt die Schriftstellerin Ruth Klüger im Gespräch mit Iris Radisch: „Ich beurteile die Menschen anders, als ich sie vorher beurteilt habe. Das hängt auch damit zusammen, dass ich weicher geworden bin“.[20] Diesen neuen Blick auf das Leben sollten wir uns und anderen nicht vorbehalten.
Cornelia Coenen-Marx
[1] Iris Radisch, Die letzten Dinge, Lebensendgespräche, Berlin 2015
[2] Petra-Angela Ahrens, „Uns geht’s gut“ Generation 60 plus, Religiosität und kirchliche Bindung, Münster 2011.
[3] Joh. 3, 1 – 21
[4] Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt am Main 2008
[5] Richard Rohr, Reifes Leben, 20014
[6] 1. Mose 28, 10 – 22
[7] 2. Mose 32, 25- 32
[8] Max Beckmann, Jakob ringt mit dem Engel,
[9] Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst, 2014, S. 75.
[10] Sam Keen, Es lohnt sich nur der Weg nach innen, Hamburg 1993
[11] Zitiert nach Ralph Kunz: Spiritualität und Altersdiskurs, in: Konstrukte gelingenden Alterns, Stuttgart 2012
[12] Mit der Generali-Stiftung 2014
[13] Hilarion Petzold, Der Wille für gelingende Hochaltrigkeit, in Hilarion Petzold u.a. : Hochaltrigkeit, Herausforderung für persönliche Lebensführung und biopsychosoziale Arbeit, Wiesbaden 2011
[14] Bibelarbeit zu 5. Mose 6, 3 ff auf dem 30. DEKT in Hannover, 2005
[15] Michael Großheim, Altern und Zeithorizont, in Martina Kumlehn, Andreas Kubik, Konstrukte gelingenden Alterns, Stuttgart 2012
[16] Die Reportage findet sich in der Zeitschrift GEO-Wissen, Heft 52, 11/2013.
[17] In einer im Internet veröffentlichten Stellungnahme zum assistierten Suizid 2014
[18] Thomas Rentsch, Altern als Werden zu sich selbst, in : Thomas Rentsch, Morris Vollmann, Gutes Leben im Alter, Stuttgart 2012
[19] Sabine Bobert, Mystik und Coaching, Viertürme 2013
[20] Iris Radisch, Die letzten Dinge, Lebensendgespräche