Schöpfungsordnung und Scheidungsverbot

oder Was hält Ehen und Partnerschaften heute lebendig?

Überlegungen zur Bundestheologie in der EKD-Orientierungshilfe zur Familienpolitik

 

1. Eine unverwüstliche Lebensform?

Ein glückliches Familienleben mit Kindern und eine stabile Partnerschaft gehören zu den sehnlichsten Wünschen der allermeisten Menschen. 2013 wünschten sich 82% aller Befragten Kinder und bei einer Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach von 2008 erklärten 84 Prozent der Bevölkerung, der Zusammenhalt im engen Familienkreis sei stark oder sehr stark.[1] Vielleicht kann man mit Birg von der „Krise einer unverwüstlichen Lebensform“[2] sprechen, um deutlich zu machen, dass Ehe und Familie nach wie vor zentrale Lebenswerte für die große Mehrheit der Bevölkerung sind, die aber in Konkurrenz zu anderen Lebensformen stehen und auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen unter Druck geraten sind. Dabei ist durchaus strittig, ob man von einem Bedeutungsverlust der Ehe sprechen kann, oder ob sogar umgekehrt von einer gesteigerten Erwartungshaltung gesprochen werden muss. Und ob sich in der niedrigen Geburtenrate nicht gerade eine sehr bewusste elterliche Verantwortung zeigt. Familie wird offenbar weit höher geschätzt, als Scheidungszahlen und Geburtenrate vermuten lassen[3].

Auf dem Hintergrund der Widersprüche und Zerreißproben, in denen Familien heute stehen, hatte noch der vorletzte Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland eine Ad-hoc-Kommission berufen, die kirchliche Empfehlungen für die aktuellen familienpolitischen Herausforderungen erarbeiten sollte.[4] Die Kommission unter Leitung der ehemaligen Familienministerin Dr. Christine Bergmann bekam den Auftrag, sich mit der offensichtlichen Spannung zwischen dem Wunsch nach stabilen Ehen und Familien einerseits und der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit hohen Scheidungsrate und einer große Zahl Alleinlebender und Alleinerziehender andererseits auseinander zu setzen. Sie sollte Empfehlungen geben – für die notwendige Anpassung der sozialpolitischen Rahmenbedingungen wie für die kirchliche Familienpolitik. Dabei waren die wesentlichen Veränderungsprozesse und Herausforderungen vor Augen, die Familien heute kennzeichnen, Ausgangspunkt der Arbeit. Drei will kurz ich herausgreifen.

Erstens: Lange Ausbildungszeiten und schwierige Berufseinstiege haben zur Folge, dass die Geburt von Kindern im Lebenslauf immer weiter hinausgeschoben wird: Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden liegt gegenwärtig bei 29 Jahren (Ostdeutschland: 27 Jahre). Die Zeit für Familiengründung ist knapp geworden. 60% der Kinder werden von Müttern zwischen 26-35 geboren. Dabei spielt Reproduktionsmedizin eine immer größere Rolle.

Zweitens: Ein Drittel aller Kinder werden nichtehelich geboren. Das sind doppelt so viele, wie noch vor zwanzig Jahren. Hier besteht allerdings ein markanter deutsch-deutscher Unterschied: Im Westen sind es nämlich nur 27% der Kinder, im Osten 61%. Der Zusammenhang von Eheschließung und Geburten – und damit auch der zwischen Ehe und Familie löst sich. Ehe ist nicht mehr Voraussetzung, sondern Folge gemeinsamer Kinder. Zwar sind noch 72% der Familien Ehepaare mit Kindern (BMFSFJ 2012: 22), aber Familien auf Ehebasis sind zunehmend Patchwork-Konstellationen. Die Vielfalt des Familienlebens nimmt zu. Familie ist nicht einfach Schicksalsgemeinschaft, sondern mehr und mehr „Herstellungsgemeinschaft“, auf bewussten, oft spannungsreichen Entscheidungen gegründet – von der Familienplanung bis zu den Patchworkfamilien.

Dabei wächst drittens die gesellschaftliche und ökonomische Spreizung – nicht nur deshalb, weil sich die sozialen Milieus in Deutschland in hohem Maße auseinander entwickeln. Auffällig ist die Polarisierung sozialer Lebenslagen zwischen Ein- und Zwei-Verdiener Haushalten, vor allem aber zwischen denen, die für Kinder sorgen und denen, die keine Kinder zu versorgen haben. Familienarbeit wird finanziell nur dann honoriert, wenn sie Ehe- oder Lebenspartnerschaft basiert ist. Auch deshalb sind Alleinerziehende, die kaum in Vollzeit arbeiten können, überdurchschnittlich häufig von Einkommensarmut betroffen[5]. Laut Stiftung für Zukunftsfragen schrecken 67 Prozent der jungen Leute die Kosten für Kinder, 60 Prozent wollen frei bleiben und 57 Prozent fürchten um ihre Karriere.

Hinter den aktuellen Statistiken stehen längerfristige Veränderungsprozesse: die medizinischen Möglichkeiten der Familienplanung haben die längst schon begonnenen Emanzipationsbewegungen von Frauen in der Erwerbsarbeit beschleunigt, während zugleich die Bedeutung von Erwerbsarbeit in den entwickelten Gesellschaften zunahm. Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft, wie Hanna Arendt bereits Anfang der 1960er Jahre festgestellt hat. Denn tatsächlich lebt ja die Mehrheit der Bevölkerung ja inzwischen nicht mehr in Familienhaushalten. Und allen Wünschen nach heiler Familie zum Trotz nimmt die „Versingelung“ der westlichen Gesellschaften zu. Alleinleben scheint der beste Weg, die modernen Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben, so der amerikanische Soziologe Eric Klinenberg nach einer Untersuchung des Time-Magazins zu den Trends unserer Zeit. Single-Sein bedeute Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle, eben Autonomie.[6] Trotz aller Junggesellenabschiede: Allein zu leben ist längst kein Durchgangsstadium mehr. Single zu sein, ist eine Lebensform und auch viele Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren – also in der Zeit der Familiengründung- ist betroffen, und für viele ist das der selbstverständliche Preis für berufliche Mobilität und Karriere. Zurück bleiben die Immobilen – die Älteren, die ihre Häuser in schrumpfenden Regionen kaum verkaufen können, die Mütter mit kleinen Kindern – eben alle, die in besonderem Maße auf andere angewiesen sind. Wenn die Zukunft auf dem Arbeitsmarkt in Frage steht, wird alles zur Disposition gestellt, was Menschen bindet – Wohnort, Haus und Familie.

Angesichts der niedrigen Geburtenrate, des kommenden Fachkräftemangels und des tiefgreifenden Strukturwandels am Arbeitsmarkt stehen allerdings nicht nur die Einzelnen vor der Frage, wie Bildung, Erwerbsarbeit und familiäre Fürsorge im Lebenslauf besser zu vereinbaren und gerechter zwischen den Geschlechtern zu verteilen sind. Darin liegt auch eine große sozialpolitische Herausforderung, die weit über das Feld der klassischen Familienpolitik hinausgeht. Denn die Veränderungsdynamik nimmt zu, die Erwartung an Mobilität wächst: Wo in der Moderne berufliche Wechsel und Statusveränderungen noch von Generation zu Generation sich vollzogen, haben Menschen in der Postmoderne mehrere Berufe, oft mehrere Partnerschaften im Laufe des eigenen Lebens. Die schiere Zahl der Arbeits- und Lebensbeziehungen nimmt zu und die Möglichkeit, an einem Ort Wurzeln zu schlagen und Heimat zu finden, schwindet.

Der Philosoph Hartmut Rosa beschreibt diese Prozesse als strukturelle Entfremdung und zeigt zugleich, wie sehr wir auf Verortung, Bindung und Beziehungen und damit auf einen festen, institutionellen Rahmen angewiesen sind, um Resonanz zu erfahren.[7] Er schreibt: „Wenn unsere Identität geformt wird über das, woran uns etwas liegt oder worum wir uns sorgen, dann wird die Unsicherheit über das, was uns wichtig ist und der Verlust von (sozialer Stabilität) notwendig zu einer Störung unseres Selbstverhältnisses führen.“ Vielleicht zeigt sich diese Identitätsverunsicherung darin, dass die Zahl der Selfies im Netz zunimmt. Jedenfalls richtet sich die Sehnsucht vieler darauf, sich verorten zu können in den großen und manchmal verstörenden Transformationsprozessen, sich zu Hause fühlen zu können in einer verlässlichen Gemeinschaft – in Familie, Heimat, Freundschaften. Aber auch im Mikrokosmos zeigen sich Individualisierung und Beschleunigung: in der Familie kollidieren die unterschiedlichen Zeitrhythmen und Zeitregime von Wirtschaft, Schule und Freizeit. Oft bleibt dann nur der Sonntag, bleiben Festtage, um wirklich Gemeinschaft zu erfahren. Kurz vor Weihnachten ist die Sehnsucht danach besonders groß: wenn Familien miteinander feiern, werden Erinnerungen an die gemeinsame Geschichte wach, Veränderungen werden sichtbar, Rituale helfen, die Erfahrungen zu deuten. Resonanz wird erfahrbar. Aber nicht nur unsere Sehnsucht richtet sich auf diese Festtage- sondern auch Angst und Spannung. Denn es sind ja gerade die festgefügten Erwartungen, die für Enttäuschungen sorgen. Denn das Gefüge einer Familie ist nicht statisch; es muss immer neu Form finden und Gestalt annehmen.

 

2. Der Streit um Leitbilder

Der Ost-West-Vergleich, der auch in der Orientierungshilfe – und zwar zum ersten Mal in der Reihe der EKD-Denkschriften – eine Rolle spielt, macht deutlich, in welchem Maße auch die Lebensformen gesellschaftlich und politisch geprägt sind. Die Philosophin Rahel Jaeggi ist deshalb der Auffassung, dass es nötig ist, eben auch die scheinbar privaten Lebensformen politisch zu diskutieren. Die Rezeption der EKD-Orientierungshilfe, die im Mai 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft gestalten“ erschien, zeigt allerdings, wie schwierig das ist. Sofern nicht eine schulterzuckende Gleichgültigkeit gegenüber anderen und letztlich allen Lebensformen herrscht, werden Familien und Partnerschaften eher in moralischen als in politischen Kategorien diskutiert. Das gilt in besonderem Maße für die Debatten in der Kirche und mit der Kirche. Zur Kritik an der Orientierungshilfe gehörte auch die Auffassung, hier habe sich die Kirche vom traditionellen Leitbild von Ehe und Familie verabschiedet und sich damit von grundlegenden biblisch-theologischen Grundsätzen entfernt, um sich dem Zeitgeist anzupassen. Der Alttestamentler Jürgen Ebach hat dazu trefflich bemerkt, in dieser Kritik „vereinten sich die, die an vertrauten Positionen festhalten wollten, mit denen, die die Kirche darauf festlegen wollten“,[8] um sich weiter über sie mokieren zu können. Denen, die das bürgerlich-traditionelle Leitbild hochhalten, ist jedenfalls oft nicht bewusst, in welchem Maße es – auch in seinen theologischen Begründungen – historisch und politisch determiniert ist. Dazu gleich mehr. Insofern wundert es nicht, wenn neben den theologischen Debatten um Ehe und Familie als Institutionen zugleich politische Vorwürfe erhoben wurden: Der Orientierungshilfe liege ein rot- grünes Programm zugrunde, hieß es, und das sei schon am rot-grünen Cover zu erkennen.

Tatsächlich sind ja die Leitbilder der Familienpolitik gerade in Deutschland nicht nur strittig, sondern emotional aufgeladen. Dabei spielen auch das Mutterbild des Dritten Reiches und die deutsche Teilung eine Rolle. Das westdeutsche Modell der Familienpolitik, das mit Ehegattensplitting und Mitversicherung von Frauen und Kindern auch weiterhin den politischen Pfad bestimmt, geht traditionell von der Familie als Erwerbs- und Fürsorgegemeinschaft aus. Mit dem Ehemann als vollerwerbstätiger Familienvorstand und der Hausfrau und Mutter, die für Erziehung und Pflege sorgte. Dabei baute auch das Bildungssystem von Kindergärten bis Halbtagsschulen darauf, dass einer der Ehepartner, und das waren und sind in der Regel die Frauen, allenfalls halbtags arbeitete. Diese familienpolitischen Rahmenbedingungen gelten in den Grundzügen bis heute – zugleich aber hat sich das Leitbild der heute 20-40 –jährigen, wie die Untersuchungen von Jutta Allmendinger vom WZB[9] zeigen, grundlegend verändert: Junge Männer wie Frauen gehen von eine Erwerbstätigkeit von Männern wie Frauen aus und wünschen sich für beide die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Erwerbsarbeit galt lange Zeit als „eine der größten Errungenschaften“ der DDR und wurde seit den 1970er Jahren durch ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestützt. Damit sollte sowohl der ‚Wille zum Kind’ gestärkt werden; es ging aber auch um die Rekrutierung von Frauen für den Arbeitsmarkt. Tatsächlich lag die Frauenerwerbsbeteiligung im Osten 1989 bei fast 90% im Gegensatz zu 55% in Westdeutschland. Inzwischen liegt sie bei 70% in Gesamtdeutschland – gleichwohl ist die Erwerbsstundenzahl nicht gewachsen – der Normalfall ist nach wie vor die Teilzeit für Frauen, die im Steuersystem strukturell gefördert wird. Angesichts des demografischen Wandels geht es nun in ganz Deutschland um eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und zugleich um die Steigerung der Geburtenrate.

Dabei steht das deutsche Modell familienpolitisch in der Mitte – zwischen hoher Frauenerwerbstätigkeit, Individualbesteuerung, staatlicher Fürsorge und Ganztagsschulen im staatlich-lutherischen Skandinavien oder im laizistisch-zentralistischen Frankreich einerseits und einer noch stärkeren Privatisierung von Familien und Fürsorgeleistungen im katholischen Italien oder Spanien. Dabei zeigt sich noch deutlicher als im Ost-West-Vergleich: Wo Infrastrukturleistungen Erwerbstätigkeit ermöglichen ist die Geburtenrate höher, wo sie fehlen, besonders niedrig – und zwar ganz offensichtlich unabhängig von dem Familienbild, das religiös-normativ vertreten wird.

Dabei ist klar: eine vollständige Delegation der Carearbeit an Dienstleister ist nicht denkbar und auch nicht wünschenswert. Weil die notwendigen Fachkräfte fehlen, weil die Finanzierung einer solchen Infrastruktur eine erhebliche gesellschaftliche Umverteilung zur Folge hätte, vor allem aber, weil es bei den Care-Aufgaben um mehr als um bezahlbare Dienstleistungen geht. Zwar hat die Familie schon in der Moderne wesentliche politische und ökonomische sowie rechtliche Funktionen verloren, doch hat sie nach wie vor entscheidende Bedeutung für Sozialisation und soziale Reproduktion und nicht zuletzt für die Statuszuweisung. Die Weitergabe von Werten und Traditionen, Erziehung und Betreuung von Kindern, Fürsorge und Pflege, das Teilen gemeinsamer Aufgaben und die Solidarität zwischen den Generationen kennzeichnen Familien, werden dort eingeübt. Es geht um Gemeinschaftserfahrungen, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unentbehrlich sind. Mütter wie Väter wünschen sich nach Untersuchungen des IAB eine bessere Kombination aus langer Teilzeit bzw. kurzer Vollzeitarbeit und Familienzeit.[10] Damit das gelingen kann, muss sich die Zeit, die Menschen mit Erziehungs- und Pflegeaufgaben verbringen, auch im Steuer und Sozialversicherungsrecht niederschlagen. Die Rahmenbedingungen, die derzeit gelten, ermöglichen gehen mit fehlenden Rentenansprüchen und der Gefahr der Disqualifizierung einher und führen zu einem erheblichen Armutsrisiko für Alleinerziehende.

„Das Sozial- und Steuersystem benachteiligt Familien. Die Ideale und Ansprüche, denen die Kindererziehung gerecht werden soll, sind dagegen sehr hoch. Das alles erschwert es den Menschen, das Wagnis des Lebens in Ehe und Familie einzugehen. Dabei ist die Zukunft der Familie entscheidend für die Zukunft der Gesellschaft. Das Zusammenleben in Ehe und Familie bildet ein Gegengewicht zu den Umbrüchen der Erwerbsgesellschaft, die Menschen in erster Linie nach Leistung und Erfolg beurteilt“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Evangelischen Landeskirche in Baden und der Erzdiözese Freiburg zur Zukunft der Familie (16.4.2008).

Tatsächlich wurde die Sorgearbeit, die in der Familie geleistet wird, gesellschaftlich zunehmend unsichtbar und abgewertet. Zunächst als „Frauenarbeit“ auf dem Hintergrund der bürgerlich-traditionellen Familienverfassung mit geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung, dann durch die Dynamik einer berufsorientierten Emanzipationsbewegung, die die traditionelle Geschlechterhierarchie thematisierte und auflöste und heute durch eine ökonomisierte Erwerbs- und Konsumgesellschaft, in der nichts gilt, was nichts kostet. Das gilt für die Fürsorgearbeit im privaten Bereich[11], aber auch für die professionelle Sorgearbeit, die nach wie vor ungleich schlechter bezahlt wird als die Arbeit in der Produktion. Wenn es nicht gelingt, neue Lösungen zu finden, droht das Care-Defizit, von dem der Siebte Familienbericht bereits spricht. Und dabei geht es nicht nur um Erziehungsaufgaben und Hausarbeit. Noch immer werden die meisten älteren Menschen werden in der häuslichen Umgebung gepflegt und immer noch sind etwa 70% der pflegenden Angehörigen weiblich. Und während immer mehr Fachkräfte im Erwerbsprozess gebraucht werden, geht man gleichzeitig von ca. zwei Millionen häuslich zu Pflegenden in zehn Jahren aus. Und die Spannung zwischen dem Druck aus der Erwerbswelt und der privaten Sorgearbeit wächst. Wo liegt die Grenze zwischen Flexibilität und Selbstaufgabe? Was fällt dabei in die Verantwortung des Einzelnen und was in die der Politik?

Die Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ stellt dieses Spannungsfeld in den Mittelpunkt und spricht sich ausdrücklich für eine Stärkung der Familien als Fürsorgegemeinschaften aus.

 

3. Familienpolitik und Kirche

Es ist nicht das erste Mal, dass die Evangelische Kirche in Deutschland die Frage nach Form und Funktion von Familie zur Diskussion gestellt. Das Sozialwissenschaftliche Institut, das eine Untersuchung zur Familienpolitik in Landeskirchen[12] durchgeführt hat, sieht darin den Versuch, „ein orientierendes evangelisches Leitbild zu entwickeln, das weder an der gesellschaftlichen Realität von Familie vorbeiredet, noch mit unterschwelligen Normalitätskonzepten Menschen benachteiligt, die in anderen Familienformen (als der traditionellen) leben“. Wohl auch aus diesem Grund setzen sich die jüngeren Texte nicht mehr so stark mit Familienformen auseinander; vielmehr geht es um die Aufgaben und Leistungen, die Familien übernehmen – um das „doing family“. Schienen die vielfältigen Familienrealitäten zunächst als Gefährdung des „eigentlichen“ Leitbilds oder als „unvollkommen“, gewann in den letzten Jahren die Überzeugung an Kraft, dass Gefährdungen weniger in einer bestimmten Gestalt der Familie liegen, als darin, wie das Familienleben gestaltet wird.

Das zeigte sich schon vor der Orientierungshilfe an den Veränderungen im EKD-Pfarrdienstrecht, das einen Rahmen für die Landeskirchen setzt. Da es Gliedkirchen gibt, die inzwischen auch ein gleichgeschlechtliches Paar in eingetragener Lebensgemeinschaft im Pfarrhaus leben lassen, während andere über dieser Fragestellung fasst zerbrechen, hat man sich im EKD-Rahmen darauf geeinigt, die Werte zu beschreiben, unter denen die Lebensbeziehung von Pfarrerinnen und Pfarrern gestaltet werden soll: Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Verantwortlichkeit. Das sind die Beziehungsrelationen, die im theologischen Kapitel der Orientierungshilfe wieder aufgenommen werden. Dabei wird die Institution Ehe als besonders geeigneter rechtlicher Schutzraum für dieses Miteinander gesehen – ohne auszuschließen, dass es auch andere Familienformen gibt, in denen diese Kriterien gelten. Gleichwohl: rechtliche Anknüpfungspunkte und ökonomische Unterstützung der Care-Arbeit bleiben familienpolitisch wesentlich. Nun ist es aber nicht so, dass die Veränderungsprozesse im theologischen Diskurs, die sich in EKD-Schriften oder in neuen Rechtsgrundlagen wie dem Pfarrdienstrecht spiegeln, schon unmittelbar die Gemeindepraxis oder die Familienpolitik der Landeskirchen prägen. Zwischen grundlegenden Debatten und der vielfältigen Praxis bestehen notwendig Reibungen. Welche Familienbilder und –vorstellungen uns prägen, zeigt sich in den Begriffen, in denen wir darüber sprechen – von „klassischen“ oder „normalen“ Familien.

Nach evangelischem Verständnis dürfen Autonomie und Angewiesenheit, berufliche Entwicklung und fürsorgliche Beziehungen nicht gegeneinander ausgespielt werden, heißt es in der Orientierungshilfe der EKD. Leitlinie einer evangelisch ausgerichteten Familienpolitik müsse deshalb die konsequente Stärkung aller fürsorglichen Beziehungen sein, heißt es in der Orientierungshilfe. „Die Form, in der Familie und Partnerschaft gelebt werden, darf dabei nicht entscheidend sein. Alle familiären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit aneinander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und eine verlässliche Partnerschaft eingehen, müssen auf die evangelische Kirche bauen können“.

An Passagen wie dieser hat sich die Debatte um die Orientierungshilfe entzündet. Viele haben eine stärkere Hervorhebung der Ehe als Leitbild jeder verbindlichen und verlässlichen Lebensform vermisst. Im Gegensatz zu diesem funktionalen Verständnis betont die katholische Kirche den sakramentalen und institutionellen Aspekt von Familie. Die damit verbundenen Probleme im Blick auf die Trauung und die Kommunion Geschiedener und Wiederverheirateter hat gerade die Familiensynode im Vatikan diskutiert.

Ganz evangelisch betont dagegen die EKD-Schrift, angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens entsprächen ein normatives Verständnis der Ehe als „Göttliche Stiftung“ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus einer vermeintlichen „Schöpfungsordnung weder der Breite des biblischen Zeugnisses noch unserer Theologie“, so der damalige Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider bei der Pressekonferenz zur Orientierungshilfe. Die Orientierungshilfe setze das geschichtliche Geworden sein und den Wandel familiärer Leitbilder voraus. Dabei könne sie sich auch auf Martin Luther beziehen, der bei aller Hochschätzung als ‚göttlich Werk und Gebot‘ die Ehe zum „weltlich Ding“ erklärt, das von den Partnern gestaltbar ist und gestaltet werden müsse – als generationenübergreifender Lebensraum mit Verlässlichkeit in Vielfalt, Verbindlichkeit in Verantwortung, Vertrauen und Vergebungsbereitschaft, Fürsorge und Beziehungsgerechtigkeit, so Schneider. Im evangelischen Eheverständnis könne deshalb eine neue Freiheit auch im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen erwachsen.

„Als verlässliche und verbindliche Lebens- und Fürsorgegemeinschaft steht die Familie in all ihrer unterschiedlichen Ausprägung unter Gottes Schutz und Segen“, betont schon vor der EKD die Evangelische Kirche der Pfalz in ihrem Leitbild „Familie in evangelischer Sicht“. „Alle Lebensformen, die Anspruch auf die Bezeichnung Familie erheben, wollen eine verlässliche und dauerhafte Lebensgemeinschaft von mehreren Generationen sein, die durch Liebe und partnerschaftliche Wertschätzung getragen ist. Familie ist der erste Ort, an dem Menschen ihre unveräußerliche Würde erfahren können“.[13]

Was wir unter Familie verstehen, ist in einem dauernden Wandel begriffen – und es wäre viel zu kurz gegriffen, diesen Wandel als Verfallsgeschichte zu verstehen. Denn er ging eben auch mit wachsenden Rechten für Frauen, Kinder, homosexuell Liebende und mit einem großen Zugewinn an Freiheit einher. Dabei haben allerdings die Kirchen eine zwiespältige Rolle gespielt. Ihre Bedeutung als politische Akteure lässt sich am Beispiel von Ehe und Familie in Deutschland besonders gut nachverfolgen. Ob es um Elternrechte und Kindererziehung, oder auch um die Rolle der Frau als Mutter ging – die Kirchen haben sich immer wieder positioniert. Und auch das subsidiäre familienpolitische Modell in Deutschland ist ganz wesentlich von der christlichen Soziallehre geprägt. Weil die Kirche für Familienpolitik steht, aber auch für die Entwicklung von Erziehung und Pflege in Deutschland wesentlich Verantwortung trägt, hat sie eine besondere Verantwortung in diesem Feld. Auch und vielleicht gerade weil sich ihre institutionelle Rolle in Politik und Gesellschaft inzwischen verändert hat – von der Staatskirche hin zu einer, durchaus noch immer einflussreichen, gesellschaftlichen Gruppe. Dabei ist es unverzichtbar, den Blick zum über Deutschland hinaus auf Europa hin zu weiten. Denn es ist letztlich die europäische Rechtssitzung, die das Verhältnis von individueller Gleichstellung – zum Beispiel ehelicher und nichtehelicher Kinder oder homo- und heterosexueller Menschen – und dem Schutz von Ehe und Familie als sorgende Gemeinschaften auch in Deutschland verändert hat.

 

4. Biblische Einsprüche? Zum theologischen Hintergrund

Kritiker der Orientierungshilfe sahen den Text in einer Linie mit der Entwicklung der Urteile des BVG zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mit der Ehe. Auch das – und vielleicht sogar vor allem das – war von vielen mit dem Vorwurf der „Anbiederung an den Zeitgeist“ gemeint. Dabei beziehen sie sich theologisch vor allem auf drei „ Ecksteine“: auf die „Schöpfungsordnung“, das “Scheidungsverbot“ Jesu und die Ablehnung von „homosexuellem Verhalten“ in den antiken biblischen Texten. Tatsächlich enthält die Orientierungshilfe in allen diesen Fällen implizit oder explizit eine andere „Einordnung“. Die Polarität der Schöpfung wird eben nicht nur als Geschlechterpolarität verstanden, das Scheidungsverbot wird vor allem als Schutz der Schwächeren interpretiert, die biblische Ablehnung der Homosexualität wird darin begründet, dass ein, unserem heutigen vergleichbares Konzept homosexueller Liebe auf Augenhöhe nicht existierte. Dazu sei einer theologischen der Verteidiger der Orientierungshilfe zitiert, der Alttestamentler Jürgen Ebach. Er schreibt für viele sicher provokativ: „Bei Licht besehen, dreht sich die Sache um. Nicht der weite Familienbegriff der Orientierungshilfe verabschiedet sich von biblisch-theologischen Grundlagen; vielmehr mangelt es dem lange herrschenden kirchlichen Bild von Ehe und Kleinfamilie an biblischer Begründung. Diese Ehe- und Familienform geht nicht auf die Bibel zurück, sondern auf das Bürgertum des späten 18. und 19. Jahrhunderts…Das heißt aber nicht, dass die Bibel zur gegenwärtigen Familienthematik nichts zu sagen hat. Denn… gerade das Alte Testament öffnet den Blick dafür, dass es da für viele scheinbar heute neue Familien- und Lebensformen Vor-Bilder gibt“.[14] Ebach erinnert wie schon die Orientierungshilfe an Jakobs Patchwork-Familie mit Lea und Rahel und den Sklavinnen als eine Art „Leihmütter“, an Moses und seine ägyptische Adoptivmutter, ja, sogar an die Schwagerpflicht zur „Samenspende“. Er ruft die vielen Ehelosen von Elia über Jesus bis zu Paulus in Erinnerung, die doch nicht ohne Familie sind, und auch die Neutestamentlerin Christine Gerber[15] erinnert daran, dass das Neue Testament familiäre Bindungen angesichts der kommenden Gottesherrschaft relativiert und dass „Familia“ für eine Hausgemeinschaft steht, die auch Sklaven einschließt.

Sowenig wir heute alles gut heißen und leben, was in der Bibel beschrieben wird – von der Polygamie bis zum Umgang mit Sklavinnen – so wenig müssen wir unser Nachdenken über Homosexualität von den wenigen (Lev. 18, 22 und 20, 12) einschlägigen Stellen bestimmen lassen. Denn in der Antike wurde Homosexualität nicht als Anlage, sondern als frei bestimmtes Verhalten verstanden – und dabei galt es als Entehrung eines Mannes, bei einem anderen wie bei einer Frau zu liegen.

Damit ist auch schon die Frage nach der Schöpfungsordnung berührt, die ja von den Kritikern ebenfalls angeführt wird. „Hört Gottes Wort von der Stiftung und Ordnung des Ehestandes“ heißt oder hieß es jedenfalls in der Trauagende, die viele noch im Ohr haben. Agendarische Deutungen biblischer Texte dienen ja oft als Geländer, wenn es darum geht, in der verwirrenden und manchmal auch widersprüchlichen Vielfalt biblischer Texte Orientierung zu finden.

„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, zitiert die Orientierungshilfe die Schöpfungsgeschichten und betont: Wir sind Beziehungswesen – oder, um es mit Plessner zu sagen: „Wir sind in der Glück der anderen hineingeboren.“ Wir brauchen jemanden, der uns versteht und unsere Sprache spricht, ein Gegenüber auf Augenhöhe, einen Menschen, der spannungsreich anders und doch gleich ist. Davon erzählen die Schöpfungsgeschichten. Im Glück sexueller Begegnung „erkennen“ wir den oder die andere als „Fleisch von meinem Fleisch“, in der körperlichen Hingabe erleben wir ein Angewiesen sein jenseits von Hilfebedürftigkeit. Im anderen finde ich eine Ergänzung, an die zu binden mich gerade nicht unfrei macht, sondern viel von dem frei setzt, was mich als Person ausmacht. Erst im Du finde ich wirklich zum Ich, zu meiner eigenen Identität. Und im gemeinsamen Leben einer Familie lässt sich diese grundlegende Bedeutung der Ich-Du-Beziehung psychologisch wie auch sozial und sprachlich nachverfolgen: Was den anderen verändert, wandelt auch uns: die Geburt eines Kindes macht uns zu Eltern, der Tod der Eltern macht uns zu Waisen, eine Eheschließung zu Braut und Bräutigam, der Tod des Partners die Ehefrau zur Witwe.

Warum also, wird gefragt, wird der zweite Teil des Satzes aus Gen. 2, 18 nicht immer mit zitiert: „Ich will ihm eine Gefährtin schaffen, die um ihn sei“? Warum wird nicht betont, was in Gen. 1, 27 steht, dass Gott den Menschen als Zweiheit schuf – männlich und weiblich? In der Tat hängt an dieser Frage viel – nicht nur der Gedanke der Schöpfungsordnung mit der allein fruchtbaren Geschlechterpolarität ist damit verbunden, sondern auch die Geschlechterordnung und Geschlechterhierarchie, die alles Nachdenken über Ehe und Familie bis ins letzte Jahrhundert bestimmt hat – als man noch übersetzte: „Ich will ihm eine Gehilfin machen“. Denn in der damaligen Gesellschaft war die biblische Legitimation für die soziale Unterordnung der Frau von großer Bedeutung.

Auf diesem Hintergrund ist die Orientierungshilfe eher vorsichtig, wenn die Bibel benutzt wird, um zu begründen, dass die Ehe gleichsam in die Natur des Menschen eingeschrieben (und deswegen eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft etwas genuin anderes) sei. Die Vorstellung von bestimmten „naturgemäßen“ Lebensformen, die meistens klassische Vater-Mutter-Kind-Bilder zum Maßstab nahmen, reibt sich an der Wahrnehmung, dass Menschen gelingendes gemeinsames Leben in vielfältiger Weise gestalten können. Für Dietrich Bonhoeffer erhalten Ehe und Familie jedenfalls nicht als Schöpfungsordnung, sondern erst als „göttliche Mandate“ ihre Geltung; als Institutionen, denen Gottes Gebot zur Seite tritt. Weder ließen sie sich aus der Natur des Menschen ablesen noch dürfe man sie als ewige Ordnungen missdeuten, so Bonhoeffer.

Er betont aber, dass in der Relationalität die fundamentale Entsprechung zwischen Gott und Mensch bestehe. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen liegt nach Bonhoeffer darin, dass er wie sein Schöpfer frei und zugleich auf den anderen bezogen ist. Auch Gott ist nicht frei an sich, sondern frei für den Menschen. Er hat sich in seiner Freiheit an uns gebunden und kann uns gerade so befreien. Karl Barth geht darüber noch hinaus: er sieht in dem relationalen Charakter der Gottebenbildlichkeit des Menschen einen Hinweis auf das Sein Gottes Selbst; es ist ein Sein in der Dynamik der trinitarischen Beziehung.

Die Orientierungshilfe geht also nicht von naturrechtlichen Überlegungen aus. Wer ontologische Überlegungen der Geschlechterdifferenz zugrunde legt, um zu beschreiben, dass der Mensch auf ein Gegenüber angewiesen ist, wird Homosexualität oder Transsexualität als Abweichung betrachten – und das kann – auch wenn das nicht intendiert ist- im sozialen Kontext schnell in Diskriminierung umschlagen. Dabei ist es, medizinisch und psychologisch gesehen, mit der Polarität der Geschlechter nicht so einfach, wie einige glauben möchten – manche sprechen inzwischen von acht und mehr Geschlechtern. Und auch das Generativitätsverhalten – „Seid fruchtbar und mehret Euch“ – hat sich seit Pille und Reproduktionsmedizin radikal verändert, so radikal, dass seit den 70er Jahren 100.000 Samenspenderkinder zur Welt kamen. Das „Geschlechterschicksal“ wird längst zwar nicht mehr als so zwingend erlebt – umgekehrt aber haben Menschen viel mehr mit Grenzerfahrungen, Scheitern, Einsamkeit zu tun, mit den Schattenseiten der Herstellungsgemeinschaft wie der Autonomie. Die Geschlechterdifferenz selbst aber geht inzwischen allgemein mit der Überzeugung einher, dass die Gottesebenbildlichkeit in gleicher Weise für beide Geschlechter gilt- was lange Zeit durchaus nicht selbstverständlich war. Die damit verbundene Vorstellung der Gleichheit macht es auch möglich, männlich und weiblich in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung zu denken.

Nicht die Geschlechterdifferenz, sondern die Angewiesenheit aufeinander wie auf den Segen Gottes, die die Freiheit nicht in Frage stellt, sondern in einem tieferen Sinne erst ermöglicht, steht deshalb im Mittelpunkt der theologischen Überlegungen der Orientierungshilfe und bestimmt letztlich deren gesamten Aufbau. Während zu Beginn, vor allem im historischen Teil, die gesellschaftliche Entwicklung hin zu Gleichheit und Gerechtigkeit, mithin zu Autonomie im Mittelpunkt steht, werden in der zweiten Hälfte des Textes – nach dem theologischen Kapitel, die Herausforderungen dargestellt, die damit verbunden sind, dass wir das Angewiesen sein und die Sorge füreinander als grundlegend verstehen und Familien als Sorgegemeinschaften stärken.

Verantwortung für sich selbst und Verantwortung für andere in der Familie gehören zusammen. Denn Familie ist mehr als das Zusammenleben unterschiedlicher Individuen mit je eigenen Rechten, sie ist zugleich eine eigene, eigensinnige Lebensform, eine Fürsorge- und Lerngemeinschaft zwischen Partnern und Generationen. Darin sind nicht nur Kinder und Eltern, sondern auch Großeltern und weitere Verwandte und Wahlverwandte einbezogen. Die „multilokale Mehrgenerationenfamilie“ von heute ist ein verwandtschaftliches Netzwerk geworden, das Kinder und auch erziehende Eltern unterstützt und gerade für Alleinerziehende von entscheidender Bedeutung ist. Angesichts der Umbrüche, die wir erleben, angesichts von Scheitern und Grenzerfahrung, aber auch von unerfüllten Wünschen ist die Segensorientierung des Textes wichtig.

Dabei geht es nicht nur um den Schöpfungssegen, sondern um den immer wieder erneuerten Segensbund Gottes, dem unser menschlicher Bund entsprechen soll. Die reformierte Bundestheologie, die bei Calvin, Zwingli und Bullinger eine Rolle spielt, und dann von Karl Barth aufgenommen wird, stellt die Bundesschlüsse Gottes mit seinem Volk in den Mittelpunkt einer dynamischen Geschichtsbetrachtung. Danach hat Gott nicht nur den Bund mit Adam und Eva geschlossen, sondern dann – nach der Flut, auch den Regenbogenbund mit Noah und später den Bund der Verheißung mit Abraham und Sara und ihren Nachkommen. Den Bund mit Mose und mit David und schließlich den neuen Bund in Jesus Christus, in dem Gott Mensch wird. Durch die Geschichte hindurch zeigt sich: es ist Gottes Gnade, seine Zuwendung zum Menschen, die Zukunft erschließt. So verstand Huldrych Zwingli die Kindertaufe als Fortsetzung des „Bundeszeichens“ der Beschneidung und auch der Heidelberger Katechismus nennt dann die Taufe „das Zeichen des Bundes“ (Frage 74). Diese Bundestheologie nimmt Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik [16] auf, wenn er die Gottesebenbildlichkeit des Menschen darin entdeckt, dass Menschen Beziehungswesen sind – was besonders in der Bezogenheit von Mann und Frau zeigt. In dieser Tradition verstehen die reformierten Kirchen in den USA auch die Trauung als Bundesschluss, mit dem wir unserer Gottesebenbildlichkeit entsprechen.

In der Gemeinschaft, die Gott seinem Volk in immer neuen Bundeszuschüssen zuspricht und zuletzt in seiner Menschwerdung bekräftigt, ist ein tiefer Grund für die Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen gelegt – und zugleich wird darin deutlich, dass trotz Brüchen und Versagen immer neue Vergebung und Versöhnung, ja neue Anfänge möglich werden. Auf diesem Hintergrund betont die Orientierungshilfe im Blick auf das Scheidungsverbot Jesu vor allem die Schutz- und Anspruchsrechte der Schwachen – damals der Frauen, heute der Kinder, die auf den Rechtscharakter funktionierender Institutionen angewiesen sind. Von ihnen her begründet Bernhard Laux auch die Bedeutung einer dauerhaften Beziehung, das Leitbild der verlässlichen Gemeinschaft in der Ehe oder Partnerschaft.[17]

Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind von einer solchen Bedeutung, dass sie in der gesamten Bibel zum Symbol für die Gottesbeziehung werden. Sie bilden auch die Folie, ohne die eine Fülle biblischer Geschichten und Texte anscheinend nicht ausreichend verstanden werden können“, heißt es in der Familienschrift der EKM.[18] Das Zusammenleben in der Familie hat entscheidenden Einfluss auf das Gottesbild wie auf die Entwicklung des Glaubens. Familie ist ein entscheidender, wenn nicht der entscheidende Lernort des Glaubens.

Aber dabei steht sie nicht allein. Von Anfang an sind Familie und Christliche Gemeinde aufeinander bezogen, insofern die Gemeinde eine erweiterte „Familiarität“ ermöglicht, die auch Alleinlebende einschließt und zugleich Familien in vielfältiger Weise unterstützen kann.[19] So betrachtet, haben auch die familienkritischen Aussagen gerade des Neuen Testaments eine wesentliche Funktion – auch Jesus betont ja, dass Familie gerade nicht vor allem Gemeinschaft des Blutes, sondern Wahlverwandtschaft in Gott ist („Die den Willen meines Vaters tun, die sind meine Mutter und Schwestern und Brüder“). Deshalb konnten und können eben auch kirchliche Gemeinschaften die Rolle der Familie übernehmen – so wie in den Klöstern oder den Einrichtungen der Gemeinschaftsdiakonie des 19. Jahrhunderts, als die Kleinfamilien während der industriellen Transformation schon einmal vollkommen überfordert waren. Auch das macht deutlich, dass es vor allem darum gehen muss, die Funktion und das Handeln der Gemeinschaft zu stärken.

In der protestantischen Tradition spielt die Familie als Hausgemeinde eine zentrale Rolle. Die lutherische Tradition des Heiligen Abends mit Weihnachtskrippe und Christkind, die Rolle des Hausvaters, der die Familie im kleinen Katechismus unterrichtete, das evangelische Pfarrhaus mit seiner Vorbildfunktion waren dabei prägende Elemente. An der Geschichte des Pfarrhauses im letzten halben Jahrhundert lässt sich denn auch der Wandel des Familienbildes am deutlichsten ablesen: Berufstätige Pfarrfrauen, Frauen als Pfarrerinnen, Zwei-Verdiener-Haushalte, katholische Ehepartner, homosexuelle Lebensgemeinschaften mussten und müssen zum Teil noch Schritt für Schritt erkämpft werden. Am Ende dieser Entwicklung steht die deutlichere Trennung von Beruf und Privatsphäre, bis hin zur Aufgabe der Residenzpflicht in vielen Fällen.

Hinter dem Verschwinden des Pfarrhauses als kirchliche Institution wird die Situation der Familie als religiöse Sozialisationsagentur sichtbar[20]. Mobilität und Pluralisierung der Gesellschaft haben dazu geführt, dass der Anteil der konfessionsverbindenden und multireligiösen Familien wächst – denn nicht nur die zunehmende Mobilität, sondern auch die wachsende Migration gehören ja zu den gesellschaftlichen Trends, die Familien verändern. Dass sich religiöse Überzeugungen heute für viele immer schon im Plural darstellen, dass immer mehr Menschen erst als Erwachsene zum Glauben finden, muss aber kein Nachteil sein. Auch das kann Befreiung bedeuten – von einem übermächtigen Vater – und Gottesbild, von Schicksalszuweisungen und dominanten Traditionen – und zur eigenen Wahl und Berufung ermutigen. Wenn man sich klar macht, dass Menschen noch vor ein oder zwei Generationen wegen der falschen Konfession nicht geheiratet haben, wird vielleicht deutlich, was ich meine. Die ersten Christengemeinden haben mit religiösen Normen gebrochen, weil sie ihren Glauben als Befreiung empfanden, sie haben alles daran gesetzt, Menschen aus den unterschiedlichsten Traditionen für einen Weg mit Christus zu gewinnen. Das gilt es neu zu entdecken; es fordert die Gemeinden aber auch heraus. Die religiöse Erziehung in der Familie muss ergänzt werden durch Wege erwachsenen Glaubens; Eltern unterschiedlicher Konfession und Religion müssen darin gestärkt werden, mit Vielfalt zu leben und Kinder brauchen Ermutigung, ihrer religiösen Neugier und Sehnsucht zu folgen; Großeltern brauchen Unterstützung bei der Glaubensvermittlung an ihre Enkel und das Patenamt muss aus dem Schatten der Jahrhunderte geholt und entstaubt werden.

Ist Familie unverwüstlich, trotz allem Wandel? Wenn wir Familie als Sorgegemeinschaft der Generationen verstehen und dabei die verschiedenen Formen der Partnerschaft und auch christliche Wahlfamilien einbeziehen, ganz sicher. Allerdings bleibt es nötig, politisch wie rechtlich alles zu tun, um nicht nur ehe-oder partnerschaftsbasierte Familien, sondern Sorgegemeinschaften zu stärken, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern und die Partnerschaft von Tageseinrichtungen, Schulen und Pflegediensten mit Familien zu fördern. Zugleich aber ist die Kirche gefordert, mit Seelsorge und Beratungseinrichtungen, mit Gemeinde- und Bildungsangebote, Familienzentren wie ihrer Zeitpolitik und einer besseren Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie im Quartier Familien in ihrem Wunsch nach verlässlicher Gemeinschaft zu unterstützen. Was das angeht, man die Orientierungshilfe eine Fülle von Vorschlägen, die noch zu wenig beachtet wurden.

Beginnend mit dem Schöpfungssegen, über das Zeichen des Regenbogens bis zum Sinaibund und den Segenshandlungen Jesu lassen sich die biblischen Texte als Zuspruch lesen, das Leben zu wagen, Verantwortung zu übernehmen und anderen zu verlässlichen Bündnispartnern und zum Segen zu werden. Dass dieser Segen erfahrbar wird, dazu kann auch die Kirche beitragen.

 

Cornelia Coenen-Marx (mdl. Vortrag in Rostock, 13.11.15)

 

[1] Zahlen von Allensbach entnommen aus Synodalbericht LB Käßmann 2008, Robert-Bosch-Stiftung 2013

[2] Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende

[3] so Landesbischöfin Margot Käßmann in ihrer Rede der Landessynode 2008

[4] „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit, Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2013

[5] Mit einem Kind sind sie zu 46%, mit zwei und mehr Kindern sogar zu 62% armutsgefährdet. In Paarhaushalten liegt die Armutsrisikoquote dagegen je nach Kinderzahl zwischen 7 und 22%.

[6] In den USA seit den 50er Jahren von 9 auf 27 Prozent, in Skandinavien bei 47 Prozent.

[7] Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, Berlin 2013

[8]Jürgen Ebach, „Alttestamentliche Notizen“, in : „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Die Orientierungshilfe der EKD in der Kontroverse“, Hannover 2013

[9] Zusammen mit der Frauenzeitschrift „Brigitte“

[10] So auch der 8. Familienbericht der Bundesregierung „Zeit für Familie“, 2012

[11] Vgl. Anke Spory, Familie im Wandel, Kulturwissenschaftliche, soziologische und theologische Reflexionen, 2013

[12] Sozialwissenschaftliches Institut der EKD

[13] Ev. Kirche der Pfalz, 2008

[14] Jürgen Ebach, a.a.O.

[15] Christine Geber “Wie wird Ehe- und Familienethik schriftgemäß – eine Zustimmung zur Orientierungshilfe“ in „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Die Orientierungshilfe in der Kontroverse“, Hannover 2013

[16] KD IV; 1, 57-70

[17]Konrad Hilpert, Bernhard Laux, Leitbild am Ende? Der Streit um Ehe und Familie, Freiburg 2014

[18] Ev. Kirche in Mitteldeutschland, Im Blickpunkt: Familie, 2012

[19] So die Erklärung der Ev. Kirche der Pfalz von 2008

[20] Vgl. dazu auch die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, „Engagement und Differenz“, 2015