Resonanzen im Corona-Advent

Die Weihnachtsgeschichte erzählt, wie Maria einem Engel begegnet: Ihr wird eine Zukunft eröffnet, die sie vollkommen überfordert:  Sie soll den lebendigen Gott in die Welt tragen. Nun verlässt sie ihr Haus – aufgewühlt, verunsichert, glücklich und ängstlich zugleich – und macht sich auf den Weg zu Elisabeth, der älteren Freundin. Von ihr erhofft sie sich Klarheit. Dabei ist die selbst schwanger und wohl auch zutiefst irritiert – niemand konnte damit rechnen, dass sie in ihrem Alter noch ein Kind bekommt.

Die Bibel voll von solchen Geschichten, in denen das Unmögliche möglich wird. Wo Menschen der Boden unter den Füßen entzogen wird, die alten Gewissheiten schwinden. Wo sie Grenzen überschreiten, ja – sich selbst überschreiten und ein neues Leben anfangen – auch im Alter noch. Wie Abraham und Sara, auch sie kinderlos, denen nachts unter dem Sternenhimmel eine reiche Nachkommenschaft verheißen wird – wenn sie aufbrechen in das Land, das Gott ihnen verheißt. Aufbrüche, mit denen keiner mehr gerechnet hätte. Leichte Wege sind es nicht. Abraham und Sara müssen durch die Wüste – äußerlich und auch innerlich: Es gibt Missverständnisse, Verrat und Traurigkeiten. Maria geht über das Gebirge – Adventslieder erzählen von den Dornen, die Rosen tragen. Aber als Maria und Elisabeth einander begegnen, hüpft das Kind in Elisabeths Leib.

Der Philosoph Hartmut Rosa spricht von Resonanzerfahrungen: Das Universum ist nicht leer und stumm, sagt er, es klingt, es ruft mich, es antwortet mir. Ich fühle mich angerufen, gemeint, angesprochen. Und zugleich kenne ich diese Lebensphasen, in der ich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte – Momente tiefer Irritation und Entfremdung. Ohne Entfremdungserfahrungen entwickelt man keine individuellen Resonanzachsen: Was spricht eigentlich zu mir? Auf welcher Frequenz bin ich empfänglich? Um etwas zu empfangen, müssen Sie eine Phase haben, in der die Welt still wird. In der sie nicht mehr mit ihr zurechtkommen, sagt Rosa in einem Interview.

Manche haben den Lockdown so erlebt, erleben die Pandemie noch immer so. Gewohnte Routinen fielen aus. Auch die kirchlichen. „Weihnachten auf dem Kirchplatz – das war ja noch schön“, sagte mir jemand. Aber Ostern? Ostern ohne Gottesdienst? Das war eigentlich unvorstellbar. Papst Franziskus im Regen auf dem leeren Petersplatz – war das vielleicht nur ein Vorzeichen? Wird der Tag kommen, an dem unsere Kirchen für immer leer bleiben? 

Für manche war der erste Lockdown wie eine Offenbarung. Im März war der Himmel blau- ohne einzigen Kondensstreifen. Wir haben uns eine App gekauft, mit der man die Vögel bestimmen konnte. Die Natur nahm sich den Raum und manche begannen, davon zu träumen, wie es wäre, wenn wir wirklich weniger Auto führen und weniger flögen… Sollte es nicht möglich sein, die Wunden zu heilen, die wir der Schöpfung geschlagen haben?

„Ist uns jetzt wirklich gewahr, dass wir nicht mehr auf Zeit spielen können und dass jeder von uns gehörige Veränderungen und ein fundamentales Umdenken in Kauf nehmen muss, wenn wir in der Klimaveränderung auf den allerletzten Metern noch einen Richtungswechsel vollziehen wollen?“, fragte Herbert Grönemeyer dieses Jahr in einem Podcast zur Bundestagswahl. „Und haben wir den Mut einer frischen, jüngeren Generation zuzuhören, Verantwortung zu übertragen, sie zu stärken und zu unterstützen, Neues zu wagen, uns wieder zum Mitmachen zu motivieren, zu überzeugen und gemeinsam mit ihnen zu lernen?“

Ich denke an Maria und Elisabeth, wie die Ältere sich über die Jüngere freut. An Hartmut Rosas Worte über die Resonanz. Und an Franz Kafkas Parabel vom „ Aufbruch“: Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört.“ So beginnt die kleine Geschichte. Nicht jeder empfängt die Resonanzen. Und auch der Erzähler weiß noch nicht, wo er hinreiten wird. Er weiß nur, dass er aufbrechen muss. Und dass die Welt nicht bleiben kann, wie sie ist.

Wie wird die Welt aussehen, wenn die Pandemie unter Kontrolle ist? Manche hoffen auf mehr Solidarität und Gemeinschaft, auf einen einfacheren Lebensstil, auf den 1,5 Grad-Pfad. Andere  wollen so schnell wie möglich zurück auf den Wachstumspfad. Denn eins ist klar: der Weg in eine neue Gesellschaft, hin zu einem klimaneutralen Lebensstil wird nicht einfach. Das wusste auch Franz Kafka: Es ist eine wahrhaft ungeheure Reise, heißt es in dem Text. Es ist ein Weg übers Gebirge.