„Doppelt verantwortlich“

Als das Hochwasser zurückging, versuchten viele, die ersten Eindrücke zu sortieren. Wer mit dem Leben davon gekommen war, wusste, das ist  das einzige, was wirklich zählt. Und wer Hilfe erfahren hatte, hielt sich an dieser Solidarität fest. Du lebst. Und Du bist nicht allein. Es war  zutiefst beeindruckend, wie viele Menschen spontan zu Hilfe kamen: aus Nachbarsdörfern, von Bauernhöfen, aus Bauunternehmen und Supermärkten- aber auch über viele km Entfernung aus der ganzen Republik. Auch bei uns im Norden wurden Container mit Hilfsmitteln gepackt – und einmal mehr erwiesen sich die Gemeindezentren als praktische Sammelstelle, die Gemeindebusse als Transporter. Das ist eine Erfahrung, die wir schon in den letzten Jahren gemacht haben: auch in der Coronakrise und zuvor in der Flüchtlingskrise boten Kirchengemeinden einen Rahmen für freiwilliges Engagement

Während der Coronakrise ist in Witzenhausen bei Kassel „Dich schickt der Himmel“ entstanden, ein Projekt mit Einkaufshilfen, für das sich die evangelische Gemeinde mit der Stadt, den Pfadfinder*innen und dem Kreisjugendring zusammengeschlossen hat. So kamen innerhalb von drei Tagen über 150 Ehrenamtliche und 230 Hilfesuchende zusammen. Menschen gerieten in den Blick, die lange zurückgezogen gelebt hatten – oft ohne Kontakt zur Kirchengemeinde. Aber alle freuten sich gleichermaßen über den Einkaufsdienst, die kurzen Besuche und den Gruß zum Sonntag.

Empathisch, effizient und leise – so organisierten die Kirchen ihre Hilfe für Flüchtlinge bis in einzelne Gemeinden hinein, schrieb der Freitag Ostern 2016 in einem Dossier über soziales Engagement. Da hatte die Berliner Caritas gerade ein halbes Dutzend Engagierte aus der Basisinitiative „Moabit hilft“ eingestellt und damit den Engagierten im Quartier Struktur und Stabilität zur Verfügung gestellt. Die Kirche und ihre Mitglieder, schrieb Christian Fülling, wirkten als Organisatoren alltäglicher Barmherzigkeit tief in die Gesellschaft hinein.

Es tat gut, das zu lesen – aber es war dann wohl doch übertrieben. Eine Allensbach – Untersuchung zum Engagement in der Flüchtlingshilfe vom April 2017 differenziert: 40 Prozent der Engagierten arbeiteten in Gruppen, die sich ausschließlich zu diesem Zweck gegründet haben– ohne Rechtsform, mit flachen Hierarchien und einem hohen Maß an Beteiligungsmöglichkeiten.  23 Prozent haben sich auf eigene Faust  engagiert.[1] Die letzten beiden Freiwilligensurveys der Bundesregierung zeigen:  Bürgerinnen und Bürger wollen gesellschaftliche Anliegen selbst in die Hand nehmen, Gesellschaft mitgestalten. Und Übergänge zwischen Familien- und Nachbarschaftshilfe, Selbstorganisation und Ehrenamt werden fließender. Das Pflichtmotiv spielt keine große Rolle mehr – aber es ist keineswegs so, dass die neuen Ehrenamtlichen nur an Selbstverwirklichung interessiert sind. Vielmehr haben wir es mit einem Motivmix zu tun: Freiwillig Engagierte verbinden selbstbezogene und altruistische Motive.  Es geht um ein Gleichgewicht von Geben und Nehmen.  Wer sich engagiert, gewinnt neue Beziehungen. „Spaß haben, Menschen helfen, und Gesellschaft verändern“ gehören zu den wichtigsten Motiven für ehrenamtliches Engagement.

Schon für den Hamburger Diakoniker Johann Hinrich Wichern bildeten die informellen Netzwerke den Kern diakonischer Arbeit, die sogenannte freie Diakonie. Die bürgerliche von Staat und Kommunen und die kirchliche verstand er von Anfang an als subsidiär. Die freie Diakonie, schrieb er, verdanke ihren Ursprung und ihre Erhaltung „weder den amtlichen Organen der Kirche als solchen, noch den Organen der bürgerlichen Gemeinde als solchen, sondern einzelnen, freiwillig sich dafür bestimmenden Gliedern des christlichen Gemeinwesens.“[i] Genau darin sah er „den vollsten Ausdruck des in Christo gemeinsamen Lebens, das zugleich gottesdienstlich und gesellschaftlich ist.  Vereine zur Wahrheit befreiter Menschen nannte er sie in der Tradition Schleiermachers. An anderer Stelle spricht er von „Netzwerken der brüderlichen Liebe.“

.Der feste Rahmen von Netzwerken, Vereinen und Verbänden sorgt dafür, dass das spontane Engagement Verbindlichkeit gewinnt- durch ein Wahlamt im Verein, durch die festen Übernahme einer Aufgabe in einer Organisation, durch persönliche und verbindliche Absprachen in Gruppen und Netzwerken. In Deutschland liegt die durchschnittliche Dauer des Engagements noch immer bei 10,2 Jahren. Vielleicht hängt das  mit der Verbindlichkeit zusammen, die in einer Gruppe entsteht und mit dem Glück, gebraucht zu werden. Übrigens lebte auch die Hilfe in der Flutkatastrophe von diesem Mix aus spontanem Engagement und formalem Ehren- und Hauptamt. Feuerwehr und THW, aber auch Caritas, Kirche und Diakonie sorgten für nachhaltige Strukturen.

Die Vereine, Verbände und Genossenschaften, die zu Wicherns Zeiten in Diakonie, Frauen- und Jugendarbeit gegründet wurden, waren zentral für die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Deutschland. Allerdings scheint die Kraft der Verbände zu erlahmen, während die Bedeutung von Initiativen steigt. Wo neue Verbandstrukturen entstehen, bilden sie sich  quer zu  konfessionell oder weltanschaulich geprägten Traditionen: im Mittelpunkt stehen akute Problemlagen. Beispiele dafür sind die Hospizbewegung oder die Tafelbewegung. Aber auch die Engagierten selbst sind in der Regel in mehreren Organisationen aktiv: in Schule und Sportverein, in Kirche und Nachbarschaft. Sie „gehören“ also keiner Organisation – im Gegenteil: sie sind es, die den Kern aller Wohlfahrt bilden, die mit ihren Ideen Bewegungen in Gang setzen. Leider tun sich manche Arbeitgeber schwer, ihre Mitarbeitenden für ein Ehrenamt freizustellen. Damit haben DLRG, THW oder Feuerwehr und manchmal auch die Kirche zu kämpfen. Das schwächt die Säulen der Zivilgesellschaft, der Gemeinschaft, die gerade in Krisensituationen lebensentscheidend ist. Aber ich bin überzeugt: was wir gerade erleben, wird etwas verändern. Auch im Ehrenamt. Wir alle müssen begreifen, dass wir doppelt verantwortlich sind, wie es das DLRG-Plakat oben zeigt.

Cornelia Coenen-Marx


[1] Allensbach, April 2017                                                                  

[i] Über Armenpflege. Der Anteil der freiwilligen oder Privatwohltätigkeit an der christlichen Armenpflege, 1856, in Wichern, Sämtliche Werke III/1, 61-7ß [Zitat verifizieren]