Kreativität gegen Einsamkeit

 „An Einsamkeit stirbt man bloß länger als an Corona“, sagt Elke Schilling. Die 75-Jährige Berlinerin hat den Telefondienst „Silbernetz“ gegründet, der sich inzwischen bundesweit an einsame Ältere richtet. Der Dienst ist nachgefragt wie nie zuvor. Und Elke Schilling hat sich auch vom Lockdown nicht abhalten lassen, ins Büro zu gehen. Auch wenn sie zur Risikogruppe gehört, sie wird gebraucht.

In Großbritannien wurde Anfang letzten Jahres ein Ministerium gegen Einsamkeit gegründet. 75 Prozent der Landbevölkerung sind dort älter als 65 – sie leben in Gegenden, wo Post und Pub geschlossen sind und immer weniger Busse fahren. Herz-Kreislauf-Probleme und Depressionen nehmen zu, wenn Menschen ihre Wohnung kaum noch verlassen. 20 Prozent Gesundheitskosten könnten eingespart werden, haben Wissenschaftler berechnet, wenn man soziale Angebote auf Rezept verschriebe: Wandergruppen, Gesprächskreise, Chorgesang. Die Situation in Deutschland ist nicht viel anders; auch bei uns leben 46 Prozent der 70- bis 85-jährigen allein. Und 20 Prozent von ihnen geben an[1], in der Woche zuvor ihre Wohnung kaum verlassen zu haben „Ich habe in den ersten Wochen der Corona-Zeit das Alleinsein als besondere Last empfunden, viel schwerer und niederdrückender als vorher. Ich habe vermisst, dass jemand mich umarmt oder die Hand gibt. Die „Kinderfamilien“ leben verstreut in Zürich, Berlin, Recklinghausen. Mit neuen Formen wie „ facetime“ halten wir den  sicht- und hörbaren Kontakt, aber es bleibt Ersatz“, schreibt Ilse G.

„Die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben“, sagt auch Prof. Eckart Hammer.[2] Während der Corona-Krise entstanden deshalb an vielen Orten Einkaufsdienste; besonders erfolgreich waren sie da, wo sich unterschiedliche Organisationen zusammengetan haben, um Ehrenamtliche und Hilfebedürfte anzusprechen. „Dich schickt der Himmel“ heißt ein Projekt in Witzenhausen – denn es  geht nicht nur um Lebensmittel oder Medikamente: auch der kurze Plausch an der Haustür kann lebensnotwendig sein.

83 Prozent von rund 1.000 Befragten können sich vorstellen, einen Service-Roboter zu nutzen, wenn sie dadurch im Alter länger zu Hause leben könnten[3]. Und an einer Krankheit fürchten mehr als drei Viertel der  Deutschen vor allem den Verlust der Selbständigkeit – noch vor Schmerz und Tod. Wenn die Mobilität eingeschränkt ist, können Smart Homes helfen. Die Firma Magenta wirbt deshalb mit dem Slogan „Das Zuhause, das sich kümmert.“ Aber letztlich, das wissen wir, kann ein Haus sich nicht kümmern. Mein Zuhause, das sind auch die Menschen, die ich kenne, die mich kennen. Freundinnen, die nach mir sehen, wenn ich frisch aus dem Krankenhaus entlassen bin. Nachbarn, die schauen, ob der Briefkasten geleert wird, die Rollladen hoch gezogen sind. Tatsächlich engagieren sich immerhin 25 Prozent in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten, Arztbesuchen. Die kleinen, wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten,[4] sie stärken das gemeinschaftliche Gewebe. Denn das Interesse, das dabei spürbar wird, gilt dem ganzen Menschen – nicht nur seiner Hilfebedürftigkeit.

Jeder Mensch braucht die Gewissheit, sich in seinem Handeln und Sprechen »aus der Hand geben« zu können, sagt die Philosophin Hanna Arendt. So wichtig unsere Selbstbestimmung ist, so entscheidend ist auch, dass wir Menschen haben, denen wir vertrauen können, eine Gemeinschaft, in der wir uns geborgen wissen. Wo die informellen Netze nicht mehr tragen, sind wir auf professionelle Dienst und vertrauenswürdige Einrichtungen angewiesen. Die ersten „Sorgenden Gemeinschaften“ entstanden in den  Mutterhäusern von Diakonie und Caritas, die  Kranke und Sterbende aufnahmen, als in der industriellen Transformation die Familien vollkommen überlastet waren. Dabei entwickelte sich allerdings auch eine institutionelle Eigengesetzlichkeit, die wir bis heute in den Pflegeeinrichtungen kennen. Die Versorgung, die auch den Angehörigen Sicherheit bietet, erleben Betroffene auch als Verlust an Autonomie, Privatsphäre und Freiheit.

Die Spannung zwischen Sicherheit, Selbstbestimmung und Gemeinschaft  hat im Frühjahrs-Lockdown zu einer einschneidenden Vertrauenskrise geführt. In Pflegeeinrichtungen sind Menschen gestorben, ohne ihre Angehörigen noch einmal zu sehen. Alte Menschen fühlten sich „wie im Knast“, Angehörige fühlten sich „ausgesperrt“,  selbst gesetzliche Betreuer konnten nicht mehr auf die Zimmer von Sterbenden kommen. Wie groß tatsächlich der Einfluss von Besuchern und Besucherinnen auf das Infektionsgeschehen war, ist noch nicht erforscht. Klar ist aber: Organisationen mit vielen Hochrisikopatienten und schlechten Schutzvorkehrungen sind gefährdet – zumal wenn der Schutz der Mitarbeitenden, die in den Häusern ein – und ausgehen, nicht gewährleistet ist, wie es im Frühjahr noch der Fall war.  Jedenfalls haben sich die Selbstbestimmung der Bewohner und die Beteiligung der Angehörigen oft nicht durchhalten lassen. „Freiheitsbeschränkende Entscheidungen wurden ohne die Einbeziehung von kontrollierenden Instanzen getroffen“.[5]

In dieser Zeit fehlten den Bewohnerinnen und Bewohnern die Kontakte auf dem Flur, im Speisesaal. Vertraute, die sonst regelmäßig kamen, blieben plötzlich aus. Mitarbeitende, die das Zimmer mit Schutzkleidung und Maske betraten, waren oft kaum zu erkennen. Berührung war nicht möglich. Aber gerade Kranke und Sterbende sind darauf angewiesen. Pflegende wissen das besser als andere. Und dieses Wissen ist tief verankert in der christlichen Kultur.  „Ist einer von euch krank? Dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben“, heißt es im Brief des Jakobus: Lasst die Kranken nicht allein, sprecht mit Ihnen, wenn ihr sie schon nicht berühren könnt! Während der Pandemie gerieten deshalb nicht nur Pflegeeinrichtungen in die Kritik, sondern auch die Kirchen. „Ordnungspolitik, die totalitär wird, darf keine Option sein für einen demokratischen Staat. Wir dürfen Sterbende nicht wieder allein lassen“, äußerten sich im Oktober die evangelischen und katholischen Bischöfe in Niedersachsen selbstkritisch. [6]

Angehörige nahmen die Dinge selbst in die Hand. Sie machten Musik vor der Tür, zogen Körbe mit Obst an Seilen auf den Balkon, schickten Tabletts und Kameras, um die Kommunikation aufrecht zu halten. Manche Ehepartner zogen sogar selbst ins Pflegeheim. So viel Kreativität, so viel Bereitschaft, das Risiko zu teilen!  Ich bewundere das – auch wenn ich überzeugt bin, dass wir früher schon andere Lösungen hätten finden müssen. Mit Treffen in Parks und Besucherräumen, mit Tests und  Tabletts, vor allem aber immer mit Pflegebedürftigen und Angehörigen gemeinsam. Und wir werden sie finden. Die Gemeinschaft zwischen den Generationen ist für uns alle ein Stück Lebensqualität. Und Einsamkeit nimmt uns den Lebensmut.  Denn „was nutzt es, wenn Menschen überleben, aber den sozialen Tod gestorben sind?“[7].

Cornelia Coenen-Marx


[1] Studie der Universität Frankfurt

[2] Mitglied des Beirats „Alter neu gestanden“ der Ev. Kirche in Württemberg.

[3] Bundesministerium für Bildung und Forschung.

[4] Bundesfreiwilligensurvey 2014

[5] Positionspapier Care.Macht.Mehr

[6] HAZ, 27.10.20

[7] Peter Dabrock, Spiegel , Nr. 34, 2020, S. 28