Demokratie! Über Schwierigkeiten und Potenziale der Kirche im Umgang mit Rechtspopulismus

Mahnmal zur Barmer Theologischen Erklärung, Werth, am Ende der Adolf-Röder-Gasse in Wuppertal

Die Ereignisse bei der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen haben mich wie so viele andere bestürzt. Bestürzt hat mich, wie selbstverständlich vielen Politiker*innen offenbar die Zusammenarbeit mit einer Partei erscheint, die Fremdenhass schürt, die Verbrechen des Nationalsozialismus bagatellisiert und die explizit die demokratische Ordnung dieses Staates in Frage stellt.

Und natürlich frage ich mich, welche Rolle Kirche in diesem Zusammenhang spielt – und welche Rolle sie spielen könnte.

Die Reaktion des Landesbischofs der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, sowie mehrerer weiterer Landesbischöfe war zeitnah und richtig: „Die FDP- und CDU-Fraktion im Thüringer Landtag haben gestern eine rote Linie überschritten: Aus christlicher Sicht darf es keine Regierung unter Mitwirkung von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten geben. Dies leistet antidemokratischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Positionen Vorschub und macht sie salonfähig. Für Christinnen und Christen aber hat jeder Mensch seine Würde. Aufgabe der Politik ist es nach Artikel 1 Grundgesetz, diese Würde zu wahren und zu verteidigen“, heißt es in ihrer Erklärung. Doch wie verhält es sich mit der breiteren kirchlichen Kultur?

Nicht überraschend, aber ebenfalls bestürzend sind die Ergebnisse der Leipziger Autoritarismusstudie von 2018. Demnach haben Kirchenmitglieder – sowohl katholische als auch evangelische – eine starke Neigung zu autoritären Haltungen. Dem Satz „Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht sind“ stimmen 88 Prozent der Katholiken und 86 Prozent der Protestanten „etwas“, „ziemlich“ oder sogar „voll und ganz“ zu. Entsprechende Einstellungen finden sich auch unter den Konfessionslosen, jedoch in nicht ganz so hohen Maße: Dort liegt der Anteil der in unterschiedlichem Maße Zustimmenden bei 83 Prozent. „Menschen sollten wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft Führungspersönlichkeiten überlassen“, das meinen etwa 59 Prozent der Kirchenmitglieder und etwa 52 Prozent der Menschen ohne Kirchenzugehörigkeit.[1] Zur Einstellung von Kirchenmitgliedern gegenüber Islam und Zuwanderung ermittelte die Studie „Christ sein in Westeuropa“ des Pew Research Center von 2018: 55 Prozent der regelmäßigen Kirchengänger meinen, der „Islam sei grundsätzlich nicht mit Kultur und Werten unseres Landes vereinbar“ – bei den Religionslosen sind es 32 Prozent. 73 Prozent der regelmäßigen Kirchgänger meinen, man müsse „eine deutsche Abstammung haben, um wirklich deutsch zu sein“ – gegenüber 35 Prozent der Konfessionslosen.[2]

Wahr ist, dass eine jahrhundertelange Geschichte machtvoller Hierarchien auch innerhalb der Kirche – Gehorsamspflicht galt ja nicht nur weltlichen Herrschaften gegenüber – eine Kultur der Autoritätsgläubigkeit geprägt hat. Nach dem Ende der Einheit von Kirche und Reich hatten die weltlichen Obrigkeiten auch innerhalb der Kirche weitgehenden Einfluss: Seit der Reformation galt in den evangelisch gewordenen Staaten das landesherrliche Kirchenregiment. Der Landesherr war zugleich Summus Episcopus. Er fiel unter den Geltungsanspruch des vierten Gebotes – die Obrigkeit wurde patriarchal verstanden. Als 1918 mit der Monarchie auch das Summepiscopat endete, bedeutete das für viele Christen eine große Verunsicherung. Dies war sicherlich einer der Hintergründe für den großen Erfolg der Religionspolitik der NSDAP, die mit dem Anspruch einer national gesinnten, überkonfessionellen, aber positiv christlichen Weltanschauung auftrat. Das kirchliche Leben nahm einen enormen Aufschwung. Ausgetretene kehrten in die Kirche zurück. Und Gliederungen der NSDAP nahmen in Uniform und geschlossenen Formationen an Gottesdiensten teil.

So viel zu der Rolle, die Kirche und kirchliche Kultur historisch zur Bildung von rechtsradikalen Einstellungen beigetragen haben. Anlässlich der Debatten um (teilweise lange zurückliegende) Äußerungen des inzwischen zurückgetretenen evangelischen Landesbischofs von Sachsen, Carsten Rentzing, beispielsweise zu einem Vergleich der Opfer der Militärdiktatur in Chile mit der Zahl der Abtreibungen in Deutschland, zu Herrschaft und Eliten oder zu schlagenden Verbindungen entstand der Eindruck, dass auch in der Gegenwart einige kirchliche Kreise die Grenze zwischen konservativen und rechtsextremen, menschenverachtenden Positionen nicht eindeutig ziehen.

Die frühen Christen zeigen uns Beispiele des nichthierarchischen, Fremde nicht ausgrenzenden Miteinanders. Und auch im 20. Jahrhundert gibt es eine andere Tradition. Erinnert sei an die Barmer Theologische Erklärung von 1934.

„Die christliche Gemeinde ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte […].“ (These 3 )

Mit dem Bild von der Gemeinde von Brüdern (und Schwestern) nimmt der Text der Barmer Erklärung die biblische Tradition der Gleichheit und Geschwisterlichkeit wieder auf, die sich in den frühchristlichen Gemeinden in der Beteiligung von Männern und Frauen, Sklaven und Freien, Juden und Griechen zeigt. Auch wenn der Text die Juden vergisst und die Frauen ausspart, leuchtet diese Vision als Herkunftsbestimmung der Gemeinde auf: Über alle sozialen Unterschiede hinweg, über Herkunft, Geschlecht, Unterschiede des Alters und der Gesundheit hinweg ist Gemeinde Leib Christi.

Und:

„Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.“ (These 4)

In dieser Tradition, in diesem Denken liegt meiner Ansicht nach ein großes Potenzial auch für ein gesellschaftliches Miteinander, das auf lebendigem Dialog und dem Lernen voneinander beruht.

Die Kirche selbst hat sich schwer getan, ihre eigene Beteiligung am nationalsozialistischen Unrechtsregime aufzuarbeiten. Und zu den Traditionen von Gleichheit und Geschwisterlichkeit zurückzufinden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es vierzig Jahre gedauert, ehe die EKD ihre Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ formulieren konnte. Grundlage der Demokratie ist die Achtung der Menschenrechte. Daraus ergibt sich die Anerkennung von Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger. „Die grundrechtlich begrenzte Demokratie verträgt nicht nur, sondern fördert“, so heißt es in der Denkschrift explizit, „unterschiedliche Lebensauffassungen, Überzeugungen und Lebensstile.“ Damit wird die Vielfalt bewusst wertgeschätzt.

Noch heute stehen starre Strukturen im Weg, wo es darum geht, den Geist dieser Erklärungen Realität werden zu lassen. Als der „Leib Christi“ ist die Kirche eine Gemeinde von Schwestern und Brüdern. Aber: „Was macht eine Kirche, die von diesem Selbstverständnis her nur eine sehr flache Hierarchie braucht, aber mit Gemeinden, Dekanaten und Kirchenkreisleitungen, Landeskirchenleitungen und der EKD als Gemeinschaft der Gliedkirchen nach Leitungsebenen durchgestaffelt ist?“, fragt Heinrich Bedford-Strohm.[3]

Wenn sie ihre Kultur verändern und ihre Potenziale wirksam in die Gesellschaft einbringen will, ist die Kirche dringend auf ein gleichberechtigtes Einbeziehen von Ehrenamtlichen mit ihren  unterschiedlichsten Biografien und Kompetenzen angewiesen. Zugleich geht es darum, die Potenziale von Kindern und Jugendlichen, genauso wie die von Hochaltrigen und auch von Menschen mit Behinderung wahrzunehmen. Und: Die Kirche muss sich öffnen für eine Zusammenarbeit mit anderen Akteuren in der Gesellschaft, wie es etwa 2016 in der „Allianz für Weltoffenheit“ geschah.

„In den 70er-Jahren werden wir aber in diesem Lande nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantwortung ermutigen. Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen. Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Das sagte Willy Brandt bei seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969. Es gilt noch heute und es gilt auch für die Kirche.

Die Potenziale an Engagement, an Kultur der Gemeinschaft, an Kultur des Vertrauens sind da. Aus aus meiner Sicht besteht für alle, denen die Kirche am Herzen liegt, eine gewaltige Chance darin, sich auf den Weg zu machen, sich zu bewegen, um diese Potenziale lebendig werden zu lassen – um das Feld nicht dem Hass und der Ausgrenzung zu überlassen. An jedem Ort in der Gesellschaft, auch in Thüringen.


[1] Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.), Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018. Online unter: https://www.boell.de/sites/default/files/leipziger_autoritarismus-studie_2018_-_flucht_ins_autoritaere_.pdf?dimension1=ds_leipziger_studie, hier S. 221.

[2] Pew Research Center, Christ sein in Westeuropa. 29. Mai 2018. Online unter http://assets.pewresearch.org/wp-content/uploads/sites/11/2018/05/24143201/Being-Christian-in-Western-Europe-FINAL-GERMAN.pdf, S. 20 und 26.

[3] Heinrich Bedford-Strohm, Den Sinn des Kreuzes öffentlich machen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Mai 2018.