Kirche findet Stadt

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Gemeindeschwestern haben Konjunktur. In Mecklenburg ergänzen sie den ärztlichen Dienst mit Besuchen und digitaler Ausstattung. In den Niederlanden boomt „Buurtzorg“. In Rheinland und Westfalen erfinden Gemeinden das Modell neu. Und auf dem Marktplatz in Rotenburg an der Fulda steht ein Diakonissendenkmal mit Tracht und Haube- eine Erinnerung an Schwester Margarete, die in den letzten Kriegstagen die weiße Fahnen auf dem Kirchenturm gehisst hatte. Woher kommt diese Sehnsucht nach der Gemeindeschwester? Offenbar ähneln die Herausforderungen, vor denen wir stehen, in manchem denen des 19. Jahrhunderts. Damals brachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten, zusammen. Die Schattenseiten der Industrialisierung waren Arbeitslosigkeit und Armut, Wohnungsnot, überforderte Familien und schließlich unversorgte Kranke und Sterbende. Das kennen wir auch:  Das Gefühl der Beschleunigung, das „Care-Defizit“.

Vor allem die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen. Mehr als 40 Prozent der 70- bis 85-jährigen leben allein; nur noch ein Viertel hat erwachsene Kinder am gleichen Ort. Das macht sich bemerkbar bei den kleinen Diensten im Alltag.  Familien mit kleinen Kindern geht es ganz ähnlich. Für alle, die keine großen Sprünge machen können, ist das Wohnquartier besonders wichtig. Zugleich leiden Kommunen unter wachsenden Transferleistungen, Wohnungsproblemen, dem Personalmangel in Erziehungs- und Pflegeeinrichtungen und unter leeren Kassen.  Auf diesem Hintergrund wurde in den letzten Jahren die Quartiersarbeit entdeckt. In den Nachbarschaften werden Menschen gebraucht, die  Netzwerke knüpfen und Räume öffnen, damit Bürgerinnen und Bürger einander gegenseitig helfen können. Die „sorgenden Gemeinschaften“ in Mehrgenerationenhäusern und Familienzentren, die Tafeln und Mittagstische  erinnern an die Gemeindeschwesternstationen mit ihren Suppenküchen, Kindergärten, Strickstuben. Dabei ist heute vieles digital möglich- das zeigt der Erfolg von Netzwerken wie nebenan.de.  Aber es genügt nicht, eine Plattform zu installieren – weder digital noch analog. Dabei beteiligen sich immer die gleichen: die hochengagierte Mittelschicht mit ihren eigenen Interessen. Wenn wir die erreichen wollen, die ihre Rechte nicht selbstverständlich wahrnehmen, sind intermediäre Organisationen nötig: Wohlfahrtsverbände, Parteien, Schulen und nicht zuletzt die Kirche.

Viele, die sich heute in Sorgenden Gemeinschaften engagieren, sind keine Kirchenmitglieder. Das ist anders als im 19. Jahrhundert. Aber noch immer haben Kirche und Diakonie starke Netzwerke in der Zivilgesellschaft, dazu hauptamtliche Pflegekräfte, Erzieherinnen, Seelsorgepersonen und nicht zuletzt Begegnungsorte in Gemeindehäusern und Quartierscafés. Und welche Chancen darin liegen, wenn Gemeinden sich ins Gemeinwesen öffnen, wird an immer mehr Orten entdeckt. Gemeinwesendiakonie ist gefragt und wird öffentlich gefördert- von „ Kirche findet Stadt“ bis „ Wir sind Nachbarn. Alle“. Landeskirchen wie die EKBO oder Baden setzen sich für das Konzept der Sorgenden Gemeinschaften ein und Diakonieunternehmen wie das Johanneswerk Bielefeld qualifizieren fürs Quartier. Da wächst eine Bewegung, die Kirche und Diakonie neu verknüpft. Zum Beispiel am 3./4. Mai 2020 beim WIR&HIER- Quartierskongress von EKD und Diakonie Deutschland in Hamburg. Dabeisein lohnt!

Cornelia Coenen-Marx