Ballast oder Ressource: Kirchen und ihre Gebäude im Quartier

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Die ehemalige Friedenskirche in Rheydt wurde 2001 zu Wohnungen umgebaut. Die Gemeinde konnte Unterhalt und notwendige Sanierungen dieses ohnehin nur selten gefüllten Hauses nicht mehr finanzieren und verkaufte die Kirche für einen Euro an eine Gesellschaft, die achtzehn Sozialwohnungen entstehen ließ. Manchmal habe ich davon geträumt, eine Nacht dort zu verbringen – immerhin bin ich gleich nebenan geboren, im Pfarrhaus, das inzwischen abgerissen wurde. In der Kapelle eines schottischen Klosters habe ich tatsächlich übernachtet und himmlisch geschlafen unter Kirchenfenstern. So wie man im Restaurant „Glück und Seligkeit“ in Bielefeld Salate und Chutneys genießen kann, während das kunstvolle Lichtdesign die Atmosphäre prägt – auch „Glück und Seligkeit“ ist eine alte Kirche. Der Name passt.

Als ich kürzlich mit einer Freundin in diesem Restaurant aß, fiel mir ein, wie groß die Aufregung noch vor fünfundzwanzig Jahren in London war. Da standen wir im Osten der Stadt vor einer verrammelten Kirche: eine Gruppe rheinischer Theologinnen und Theologen auf der Suche nach Impulsen für die Gemeinden der Zukunft. Mitten in einem globalisierten Viertel mit Menschen aller Hautfarben und Religionen, in dem die Armut offensichtlich groß war. Kein Wunder, dass der Bischof der Meinung war, die Kirche werde nicht mehr gebraucht und sei auch nicht mehr zu finanzieren. So wie wir später Kirchen im Duisburger Norden aufgegeben haben – in Bruckhausen zum Beispiel, wo nur noch eine kleine Minderheit zur evangelischen Kirche gehörte und auch im evangelischen Kindergarten längst überwiegend muslimische Kinder spielten und lernten. Die Bruckhausener, viele von ihnen in prekären Verhältnissen, fühlten sich aber im Stich gelassen. Und die Menschen, die wir im Londoner Osten trafen, waren ebenfalls empört. Sie hatten eine Bürgerinitiative gegründet, um die Kirche zu erhalten. Viele von ihnen lebten längst anderswo – hier aber waren sie getauft und getraut worden, hier hatten auch ihre Kinder den Segen bekommen. Hier waren sie wer und gehörten dazu. So etwas gibt man nicht einfach auf.

Solche Themen und Gefühle bewegen auch die Kirchenkuratoren und Kirchenkuratorinnen, die dafür sorgen, dass Dorfkirchen in Brandenburg oder in Mitteldeutschland saniert werden – die Orgelpaten suchen, Veranstaltungen planen, die Kirchen offenhalten, auch wenn sie selbst gar nicht Mitglied sind oder längst anderswo wohnen. Gerade weil Menschen heute so mobil sind, die Lebenswege sie häufig an viele verschiedene Orte führen, spielt Heimat eine wichtige Rolle. Heimat als der Lebensraum, in dem wir uns selbstverständlich und ungezwungen bewegen können, weil wir uns auskennen, weil wir dazugehören. Und nicht zufällig sind es oft die Kirchen, die das Heimatgefühl stärken. Denn die Kirche ist nach wie vor ein markanter und prägender Punkt im Stadtbild, die Schläge der Kirchturmuhr und der Klang der Glocken gehören zum akustischen Raum und die Silhouetten der Dome sind Symbole ihrer Stadt – und das gilt nicht allein für den Kölner Dom, die Frauenkirche in München, den Hamburger Michel oder Notre-Dame de Paris. Diese Gebäude gehören allen, die in einer Stadt, in einem Ort leben, auch wenn nur wenige sie zum Gottesdienst betreten möchten.

Den „Krautsaal“ in Heckinghausen, in dem ich konfirmiert wurde, hat die Gemeinde vor zwei Jahren verkauft. Jetzt sind darin Wohnungen untergebracht und ein Veranstaltungsraum für Events, aber auch für eine Tanztruppe und eine italienische Gemeinde. Das aber ist gar nicht viel anders als früher, dachte ich beim Lesen, und Herr Carl, der neue Besitzer, sagt in einem Interview, ihn bewege die starke Bindung vieler Menschen an das Gebäude. Gibt es ein Rezept, wie sich beide Anliegen – die Notwendigkeit des Sparens seitens der schrumpfenden Kirchengemeinden, aber auch all die emotionalen und sozialen Bedürfnisse der Menschen in ihren Heimaten – miteinander verbinden lassen? Wie kann das Kapital, das die Kirche in Form ihrer alten Gebäude hat, auf eine nicht allein wirtschaftliche Weise genutzt werden? Aus meiner Sicht sind all die Initiativen auf einem guten Weg, die dieses Kapital für das Leben im Quartier einsetzen, damit dieses – weiterhin oder wieder – Heimat sein kann.

Der indische Theoretiker Homi Bhabha hat das Konzept des „dritten Ortes“ entworfen, eines Ortes, der keiner Gruppe eindeutig zuzuschreiben ist, an dem sich die Verschiedenen ohne Hierarchisierung begegnen und ihre Anliegen aushandeln können. Dritte Orte sind leicht zugänglich und offen; die Teilnahme kostet nichts. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis gegen Ende des letzten, als die Volkskirchen im Quartier verwurzelt waren, waren Gemeindehäuser solche dritten Orte. Heute werden sie oft als Clubhäuser für Eingeweihte wahrgenommen, halb leerstehende allerdings. Wo sie aber den frei gewordenen Raum mit anderen Gruppen im Quartier teilen – mit Sportvereinen, einem diakonischen Dienst oder einer Beratungsstelle – oder sie an Bürgervereine vermieten, da entsteht neues Leben: In Gelsenkirchen-Hasselt, in Bochum und an anderen Stellen haben Kirchengemeinden selbst Bürgervereine gegründet, die die neuen Zentren tragen.

Zu den Ressourcen der Kirchen gehört nämlich noch mehr als ihre Häuser. Dazu zählen auch all die Haupt- und Ehrenamtlichen, deren Kontakte, Netzwerke und Beziehungen. Schließlich wohnen die Kirchenvorstandsmitglieder in der Nachbarschaft, manche arbeiten sogar in der Nähe. Und auch in den Elternräten der Schulen, in den Vorständen der Vereine sitzen Kirchenmitglieder. Zu diesen eher informellen Ressourcen kommen die professionellen Sorgestrukturen der Diakonie mit ihren vielen Angeboten von der Drogenberatung über die Kinderbetreuung bis zur Altenpflege. Dieses doppelte Potenzial gilt es zu nutzen. Für die Gemeinde, vor allem aber für die Menschen in der Nachbarschaft.

Kirchengemeinden können Ideenentwickler, Impulsgeber, Pioniere sein. Sie verfügen über Daten und lokales Wissen, über ein Frühwarnsystem für soziale Umbrüche. Sie sind Initiatoren von oder Beteiligte an Netzwerkprozessen, Öffner in den Sozialraum, verlässlicher und kontinuierlicher Kooperationspartner. Sie werden erlebt als politische Lobby, als Stimme mit Gehör in Öffentlichkeit, Medien und Institutionen. Und sie verfügen eben über jene Immobilien, Gebäude und Liegenschaften, die von unterschiedlichsten Menschen in ihrer Umgebung als ein Stück Heimat empfunden werden.

Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, die Kirchen zu öffnen – also auch und vielleicht zuerst das Denken zu öffnen – und die Gebäude mit anderen Gruppen, Organisationen und Vereinen gemeinsam zu unterhalten. „Wenn Kirchengemeinden das WIR auch wirklich als WIR sehen – wenn sie ihr Dorf oder ihren Stadtteil meinen – dann ist ein erster Schritt getan“, sagt Peter Meißner von der Initiative Gemeinwesendiakonie. „Wenn Gemeinden andere Akteure einladen und mit ihnen in den Austausch gehen, wenn sie fragen, was braucht dieser Ort und wie sind unsere Wahrnehmungen, dann kommt etwas in Bewegung.“

Es geht darum, Verantwortung zu teilen und auch anderen wieder Raum zu geben – gerade da, wo andere Träger sich zurückziehen und öffentliche Orte privatisiert werden. Und möglicherweise kann in den Begegnungen in den nicht mehr allein kirchlichen Räumen auch ein Gespräch darüber entstehen, was uns Menschen jenseits von Häusern und Nachbarschaften Heimat geben kann.

Herzliche Grüße
Ihre Cornelia Coenen-Marx, Pastorin und Publizistin

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