Mitten im Leben: Friedhofskultur gestalten

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„Eure Toten werden leben“ steht über dem Friedhofseingang in Mönchengladbach-Rheydt. Ich habe diese Inschrift vor kurzem wieder entdeckt, als ich das Grab meiner Großeltern besuchte. Es liegt gleich an der Mauer in der Nähe der Friedhofskapelle – da, wo die Kirchengemeinde schon im 19. Jahrhundert eine Grabstätte für ihre Pfarrer und deren Frauen angelegt hat. Ich liebe diese Grabstätte. Die grauen Steine sind alle gleich. Sie unterscheiden sich lediglich durch die Bibelworte, die den Namen und Daten hinzugefügt sind. Meist sind es die Konfirmationssprüche, manchmal aber auch ein Motto, ein Wahlwort. Wenn ich an den Gräbern vorbeigehe, habe ich das Gefühl, durch die Bibelworte hindurch etwas zu ahnen vom Leben, vom Charakter der Menschen, die dort liegen. Mir gefällt der Gedanke, dass die ehemaligen Kollegen, Vorgänger und Nachfolger in einem intensiven Bibelgespräch sind.

Die Pfarrgrabstätte ist schon eine besondere Ecke auf diesem Friedhof; die Zahl der Gräber mit Bibelsprüchen geht ansonsten deutlich zurück. Inzwischen sieht man auf dem evangelischen Friedhof neben Engeln und Marienfiguren auch Spiralen, Gingkoblätter und Lotusblumen. Die konfessionellen Bindungen lösen sich auf, der Friedhof spiegelt die Individualisierung und zunehmende Vielfalt unserer Gesellschaft. Familiengrabstätten sind selten geworden; aber noch findet man überall die alten Namen aus der Region. Diese Familien prägten die evangelische Gemeinde, zu der heute nur noch eine Minderheit in der Stadt gehört – wahrscheinlich sind es nicht viel mehr als die Musliminnen und Muslime, die in den letzten fünfzig Jahren zugezogen sind. Merkwürdig, wie die Realitäten auseinanderfallen: Wer einem Trauerzug über den Friedhof folgt, taucht ein in eine vergangene Welt. Ein Gefühl von Heimat wird spürbar, Geborgenheit in der Phase des Verlusts und der Verunsicherung. Und es ist nicht nur der Weg unter aufblühenden Bäumen, der Hoffnung vermittelt – es ist auch das Ritual selbst, der Trauerzug, zu dem Verwandte und Freunde gekommen sind. Man kann sich getragen fühlen in der Tradition.

Als ich in den 80er Jahren Gemeindepfarrerin in Mönchengladbach war, bin ich regelmäßig mit Konfirmandinnen und Konfirmanden auf den Friedhof gegangen. Der alte Friedhofsgärtner führte uns an den Gräbern entlang wie durch eine Totenstadt; er erzählte die Geschichten der Verstorbenen – der Bekannten wie der Außenseiter – als Geschichte der Kleinstadt. Die Jugendlichen hatten Grablichter bemalt oder beklebt und stellten sie am Ende zu einem Menschen, der sie besonders beeindruckt hatte. Wenn die Lichter angezündet waren, wurde sichtbar, wie Tote und Lebende zusammengehören.

Davon ist dreißig Jahre später immer weniger zu spüren. Auf dem Friedhof gegenüber unserem Haus, wo meine Eltern begraben sind, werden die Gräber kleiner – die Zahl der unscheinbaren Urnengräber wächst. Wo die Familien nicht mehr an einem Ort wohnen – und das ist inzwischen der Normalfall –, wollen Sterbende die Angehörigen nicht mit Grabpflege belasten. Eine kleine Grabplatte mit Namen und Daten, im Rasen eingelassen, genügt. So wachsen die freien Flächen, immer mehr Waldfriedhöfe entstehen, auch Seebestattungen sind gefragt. Die Friedhofskultur ändert sich rasant. Und sie spiegelt die gesellschaftlichen Veränderungen: Individualisierung, Mobilität, Patchworkfamilien, religiöse Vielfalt.

Im Land Bremen ist der sogenannte Friedhofszwang inzwischen aufgehoben, Urnen können also auch im eigenen Garten bestattet oder auf den Kamin gestellt werden. Der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf sieht darin einen Gewinn an Freiheit, einengende, bürokratische Normen würden überwunden.[1] Andere dagegen – ich gehöre auch dazu – sehen vor allem einen Verlust an Öffentlichkeit. Zugleich allerdings entstehen neue Öffentlichkeiten: Seit den 1990er Jahren gibt es virtuelle Friedhöfe im Netz, dazu digitale Traueranzeigen, wo man einen anteilnehmenden Vers hinterlassen oder eine virtuelle Kerze anzünden kann. Ein Beispiel ist die Gedenkstätte „Lichter der Ewigkeit“ des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge. Und weil weit entfernt lebende Angehörige und Freunde oft nicht mehr zur Bestattung kommen können, bieten viele Bestatter in Großbritanien bereits einen Livestream von der Trauerfeier an.

Kein Wunder, dass sich viele Kirchengemeinden und auch Landeskirchen Gedanken darüber machen, wie Friedhöfe Gemeinschaftsorte bleiben können, auch wenn sie nicht mehr Heimat- und Gemeindegeschichte spiegeln. Orte, die Trost geben und etwas erzählen von der Verbindung zwischen Tod und Leben. Wo Menschen auf einer Bank miteinander reden, Kinder ganz selbstverständlich den Umgang mit dem Tod lernen, während in den Bäumen die Vögel singen. In den ehemaligen Leichenhallen werden Gesprächsorte eingerichtet: Trauercafés, Begegnungsstätten. Gemeindebusse oder Bürgerbusse fahren Ältere einmal die Woche zum Friedhof. Bänke, manchmal schon abgebaut, werden wieder aufgestellt. In der Begegnungsstätte gibt es Kaffee und Kuchen. Kinder dürfen mitfahren und finden am Rand des Friedhofs vielleicht sogar einen Spielplatz. Ein Ort des Lebens, an dem auch die Toten ins Gespräch kommen. Wo selbstverständlich auch die ihren Ort finden, die in den Traditionskulturen keinen Platz auf dem Friedhof fanden: frühgeborene Sternenkinder, Menschen, die sich selbst das Leben genommen haben, Menschen anderer Religion. Der Wunsch nach Freiheit, Mitgestaltung, Vielfalt, der sich in der Zivilgesellschaft zeigt, ist ja leider auch eine kritische Antwort auf die normative Enge mancher Gemeinde- und Friedhofsordnungen früherer Tage.

Jetzt, in der Passionszeit, sind mir die Gedanken an Sterben und Tod besonders nah. Meine Mutter starb an einem Samstag vor Ostern, zwischen Karfreitag und Auferstehung sozusagen. Als der Sarg aus der Tür ihres Appartements getragen wurde, hing am Türschild schon ein gelbes Ostersträußchen. Lebendige Hoffnung, dass das Leben siegt. Und zugleich ein Zeichen, wie eng Tod und Leben zusammengehören. Ich bin überzeugt, dass der Tod, der so existenziell zu unserem Menschsein gehört, uns verbinden kann – er macht uns gleich, über all unsere lebendigen Verschiedenheiten hinweg. Und ich wünsche mir, dass auch die Hoffnung uns verbindet: Unsere Toten werden leben.

Ich wünsche Ihnen noch eine gesegnete Passionszeit und frohe Ostern.

Ihre CCM

 

[1] Vgl. Henning Scherf in: Ders., Annelie Keil (Hg.): Das letzte Tabu. Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen. Freiburg, Herder, 2016.

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