Frauenpolitik ist Zeitpolitik

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Endlich wieder eine Frau, dachte ich, als Elisabeth Kühnbaum-Schmidt zur neuen Landesbischöfin in der Nordkirche gewählt wurde. Es war an der Zeit und ich war sicher nicht die Einzige, die diesen Gedanken hatte. Zusammen mit Annette Kurschus und Ilse Junkermann sind es nun wieder drei auf dieser Ebene. Hinzu kommen mit Kirsten Fehrs, Susanne Breit-Kessler, Petra Bahr und anderen kompetente und bekannte Bischöfinnen und Landessuperintendentinnen in Hamburg, Hannover, München. Aber auch wenn wir alle Bischöfinnen, Regionalbischöfinnen und Pröpstinnen zusammenzählen und die ehrenamtlichen Synodalpräsidentinnen mit Irmgard Schwätzer als Vorsitzende der EKD-Synode dazu nehnen: Auf der Spitzenebene sind die Frauen noch immer deutlich in der Minderheit. Schlimmer noch: Es geht seit Jahren nicht wirklich voran. Selbst auf der mittleren Ebene fällt es zunehmend schwer, Frauen für haupt- oder ehrenamtliche Führungsaufgaben zu gewinnen.

Nicht nur in der Kirche, auch im Bundestag erleben wir 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrecht Rückschritt oder Stillstand. Mit 30,7 Prozent Frauen unter den Abgeordneten ist der Wert auf den der Legislaturperiode 98/2002 zurückgefallen. „Was diese Regierung getan hat, war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorbehalten worden war“, sagte die Sozialdemokratin Marie Juchacz, Gründerin der AWO, bei ihrer Debütrede 1919 im Reichstag mit ruhigem Selbstbewusstsein. Der Durchbruch in Weimar war das Ergebnis einer langen zivilgesellschaftlichen Vorgeschichte, des politischen Kampfes so unterschiedlicher Frauen wie Gertrud Bäumer und Louise Otto-Peters, Hedwig Dohm („Die Menschenrechte haben kein Geschlecht“), und Clara Zetkin. Sie kämpften um Bildungswege und Berufschancen, um soziale Teilhabe und Bürgerrechte – immer gegen feste Rollenzuschreibungen und oft genug unter Einsatz all ihrer persönlichen Ressourcen. Toni Sender, Journalistin und Politikerin der USPD, erinnerte sich im Exil in den USA an die überlangen Arbeitszeiten in der Redaktion, weil sie „fast alle Artikel selbst verfassen musste, da Geld für freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fehlte.“[1]

Zeit ist noch immer ein großes Thema gerade für alle, die sich in Veränderungsprozessen engagieren. Frauen, die gebeten werden, einen Sitz im Leitungsgremium des Kirchenkreises oder einer Landessynode zu übernehmen, schrecken vor der Dreifachbelastung zurück, die damit verbunden ist: Beruf, Familie und Ehrenamt zu vereinbaren, ist gerade für Frauen schwer, weil die Kultur der Arbeitswelt weiterhin auf den „Hauptverdiener“ ausgerichtet ist, dem jemand zu Haus den Rücken frei hält. Und weil der größte Teil dieser Haus- und Familienarbeit noch immer von Frauen gestemmt wird, wie der „Alterssurvey“ der Bundesregierung noch 2014 zeigte. In der Kirche wie in Parteien und Gewerkschaften gilt: Wer Strukturen und Strategien mitgestalten und Entscheidungen beeinflussen will, muss viel Zeit einsetzen für die Arbeit vor Ort, in Bezirk, Kreis oder Dekanat, auf Landes- und Bundesebene, in Ausschüssen und Arbeitskreisen. Lohnt sich der Aufwand? Viele Frauen sagen nein – sie haben einfach keine Lust, sich multifunktional selbst zu verlieren. Ist es nicht besser, überzeugende Ideen zu entwickeln und sie öffentlich zu kommunizieren? Soziale Netzwerke und auch öffentliche Medien machen es möglich. Petitionsplattformen bieten ganz neue Chancen politischer Gestaltung. Im Zeitalter der Cyberdemokratie muss und kann das Verhältnis von unmittelbaren Impulsen und politisch-strategischen Prozessen, von Bürgerplattformen, Kirchen und Parteien neu gestaltet werden.

100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts sind politische Reformen in Parlamenten und Synoden notwendig, wenn Basis und Eliten sich nicht weiter entkoppeln und Frauen repräsentativ beteiligt werden sollen. Dabei geht es vor allem um den Umgang mit Zeit, Informationen und Willensbildung. Es geht um die Vollzeit-Anwesenheitskultur in Unternehmen genauso wie um die Infrastruktur in Pflege- und Bildungspolitik. Um das Familiensplitting genauso wie den Gendergap. Nur an der Spitze der Unternehmen, in den Leitungsgremien von Gewerkschaften und Parteien, in Synoden und Kirchenleitungen lässt sich daran strukturell etwas ändern. Wie notwendig das ist und woran es scheitern kann, dazu bringt die Geschlechtergeschichte eine Vielzahl von Erfahrungen mit. Diese Ernte einzubringen, sollte uns eine Ehre sein. Männern wie Frauen.

Cornelia Coenen-Marx, Pastorin und Publizistin, www.seele-und-sorge.de

 

[1] In Kerstin Wolff, Unsere Stimme zählt! Die Geschichte des deutschen Frauenwahlrechts, Kassel 2018

 

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