Eine Kultur des Hinsehens ist gefragt

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In dieser Woche beginnt vor dem Landgericht Oldenburg der dritte Prozess gegen den Pfleger Niels H. Verhandelt wird die wohl größter Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte. Mord in 100 Fällen. Es hat gedauert, bis die Zusammenhänge klar wurden – mit 5 Fällen fing es an. Dann gab der Pfleger 30 Fälle zu – nur scheibchenweise kommt die Wahrheit ans Licht. Und viele rechnen damit, dass längst noch nicht alles auf dem Tisch liegt. Wie konnte es dazu kommen. Der Mann hatte eine behütete Kindheit, keine Probleme in der Schule – die üblichen Erklärungsmuster passen nicht. Stattdessen erkennen wir einen Mann, dem sein Leben irgendwann entglitten ist: Suchtprobleme, wechselnde Kontakte zu Frauen, das Gefühl, als Vater überfordert zu sein. Psychologen attestieren ihm eine narzisstische Persönlichkeitsstörung: er spritzte eine Überdosis Herzmittel, um seinen Kolleginnen und Kollegen zu zeigen, wie erfolgreich er seine Patienten reanimieren konnte. „Rettungsrambo“ war einer seiner Spitznamen im Team.

Dass Niels H. zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wird, ist jetzt schon klar – er wurde bereits in einem früheren Prozesse verurteilt. Jetzt aber geht es auch um seine Vorgesetzten. Ärzte, Stationsleitung. Wie konnte es passieren, dass alle Hinweise übersehen wurden? Dass man die Augen zumachte, obwohl die Zahl der Todesfälle auffällig hoch war, wenn dieser Pfleger Dienst hatte? Dass er nicht sofort freigestellt wurde, als der Verdacht im Raum stand? Was hat das mit der Situation in unseren Krankenhäusern zu tun? Mit der Personalknappheit gerade in der Pflege? Mit dem unerbittlichen Wettbewerb zwischen Kliniken? Das Klinikum Oldenburg, ohnehin in den roten Zahlen, hatte Angst um sein Image. So kam es zunächst zur Versetzung, aber nicht zur Entlassung.

Am vergangenen Mittwoch hat der Landtag ein neues Krankenhausgesetz beschlossen: in Zukunft sind Krankenhäuser verpflichtet, Stationsapotheken und Arzneimittelkonferenzen einzurichten. Ich erinnere mich noch gut, dass die Krankenhausapotheken abgeschafft wurden, als ich selbst Ende der 90er Jahre Vorstand eines Diakonieunternehmens mit Krankenhaus war. Damals war man der Auffassung, die Medikamentenversorgung liefe doch viel effektiver und günstiger, wenn verschiedene Kliniken einen Verbund bilden und zusammen einkaufen. Zu dieser Zeit wurden auch immer mehr Aufgaben aus der Pflege ausgegliedert und outgesourcet. Der Dienst an den Kranken wurde zu einem Baukasten vieler einzelner Aufgaben, die unabhängig voneinander ausgeführt wurden. Zusammengehalten durch Checklisten im Netz. Das war günstiger und effektiver – und darauf schien alles anzukommen. Krankenhäuser wurden und werden geführt wie Unternehmen – alles scheint berechenbar.

Dabei ist etwas in die Brüche gegangen, was man nicht berechnen kann: Die Beziehung zwischen Pfleger und Patienten. Da ist etwas aus dem Blick geraten, womit wir uns unweigerlich auseinandersetzen müssen: Die Angst vor dem Sterben, die Angst, dem nicht gewachsen zu sein. In einer Vernehmung sagte der Angeklagte, er habe die schwerkranken Patienten nur noch als „vergammelte Hüllen“ gesehen. Er soll seine Patienten versorgt haben – aber ohne Einfühlung, sagen Kolleginnen. Dunkle Züge seien bei diesem Pfleger zutage getreten, schrieb ein Journalist. Er fühlte sich als Herr über Leben und Tod und machte andere Menschen zu Objekten. Das ist eine große Versuchung – auch und gerade im Gesundheitswesen. Niels H. ist ihr erlegen; es wird schwer sein, damit weiter zu leben. Aber viele andere haben Bedingungen geschaffen, unter denen das möglich war. Denn wir rechnen mit Kennzahlen, Budgets, Gewinnen und Verlusten – aber wir rechnen nicht damit, dass Menschen schwach und versuchbar sind. Mit dem Bösen rechnen wir nicht. Und nicht mit der Sünde.

Ein Mensch dreht sich um sich selbst – und kommt doch nicht mit sich selbst zurecht. Er will wer sein, giert nach Anerkennung, dafür ist ihm jedes Mittel Recht. Auch andere Menschen sind nur Mittel zum Zweck. So wird die Menschenwürde mit Füßen getreten, so wird Leben zerstört. Immer und immer wieder hat die Bibel diesen Zusammenhang dargestellt: Die Sünde führt in den Tod. Das Schreckliche an dieser Geschichte ist: Wie bei den berühmten drei Affen hält sich die Umgebung bis zum Schluss Augen und Ohren zu. Aus Angst vor Überlastung, vor Imageschäden, aus Mangel an Zeit und Personal. Aber auch das sagt die Bibel ein ums andere Mal: Sünde ist mehr als die Schuld eines einzelnen Menschen. Sünde ist ein Lebenszusammenhang, in den wir alle einbezogen sind. Paulus sagt, wir seien an die Sünde verkauft. Wie einer, der seine Arbeitskraft verkauft und sein Gewissen dabei an der Garderobe abgibt. Und tatsächlich hängt es ja nicht vom Einzelnen ab, wie gearbeitet wird, wieviel Zeit, wieviel Geld zur Verfügung steht und wie die Kultur eines Unternehmens ist. Wer es anders machen will, wird oft genug zum Sand im Getriebe. Nur nicht die Preise verderben.

Der Todespfleger hält uns einen Spiegel vor. Es wäre zu einfach, ihn zum menschlichen Monster zumachen. Sichtbar wird: der homo oeconomicus, der alles effektiv und vernünftig steuert, ist ein Zerrbild des Menschen. Wir haben Schwächen, sind versuchbar und geneigt, uns um uns selbst zu drehen. Darum brauchen wir Kollegialität, Aufmerksamkeit füreinander, eine Kultur des Hinsehens und Hinhörens. Eine Kultur der Menschlichkeit.

Cornelia Coenen-Marx

 

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