Das Beste kommt noch!

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Kennen Sie Iris Apfel? Die ältere Frau mit dem faltigen Gesicht und den großen roten Brillen, die die verrücktesten Sachen trägt, als sei sie in ihren Zwanzigern? Sie hat viele andere inspiriert, sich so zu kleiden, wie sie sich fühlen und attraktiv finden. Große Statementketten, witzige Hüte! Street-Art macht vor, wohin die Richtung geht. Als mein Onkel und meine Tante in den sechziger Jahren mit ihrer Familie in die USA nach Minnesota zogen – zu einem Austauschjahr im Pfarramt –, kam die dortige Pfarrfamilie für ein Jahr nach Wuppertal, zog mit den Töchtern Paula und Gretchen und mit der Großmutter ins deutsche Pfarrhaus und gehörte seitdem zu unserer Familie. Es war die Großmutter, die mich besonders beeindruckt hat. Als ich sie zum ersten Mal sah, trug sie eine bunte Karohose, dazu knallrote Lippen und Fingernägel. Das war damals hierzulande für eine Frau über 65 nicht denkbar!

Seitdem ist viel passiert. Heute gehen die 68er-Frauen selbstbewusst, kritisch und voll Energie in die neue Lebensphase – nicht anders als die männlichen und weiblichen Beat- und Rockgrößen von Udo Lindenberg über Patti Smith bis zu den Rolling Stones und Tina Turner. Unter dem Motto „Das Beste kommt noch“ macht die Zeitschrift „Brigitte Wir“ den über sechzigjährigen Frauen Mut, der Vorstellung zu widerstehen, dass es mit dem Alter automatisch bergab geht. Aber ist der eindrucksvolle Auftritt der Einzelnen wirklich ein Garant für eine gute Lebensqualität im Alter? Was ist jenes Beste, das uns bevorsteht?

Vor zwei Jahren, 2016, erschienen gleichzeitig der siebte Altenbericht und der Alterssurvey, die regelmäßige Befragung der über Vierzigjährigen zu Familie und Arbeit, Engagement, Gesundheit und Wohlbefinden. Der Survey zeigt: Ein negatives Altersstereotyp trifft nicht das Selbstbild älter werdender und alter Menschen. Im Gegenteil: Noch nie in der Geschichte sind Menschen so gesund alt geworden, noch nie war die Breite der Bevölkerung so gut ausgebildet, so kompetent und selbständig wie heute, noch nie gab es auch so viele Möglichkeiten, sich zu vernetzen und gut zu organisieren. Wir haben in den letzten hundert Jahren im Schnitt zehn gesunde Jahre hinzugewonnen. Legt man den Alterssurvey zugrunde, sind Siebzigjährige kaum weniger leistungsfähig als gesunde 55-jährige. Und 73 Prozent der Befragten ab sechzig Jahren fühlen sich jünger, als sie es vom kalendarischen Alter her sind, und zwar im Durchschnitt fünfeinhalb Jahre. Mehr als ein Drittel der 55- bis 69-jährigen hat keine oder höchstens eine Erkrankung und noch die Hälfte der Siebzig- bis 85-jährigen fühlen sich trotz der einen oder anderen Krankheit funktional gesund. Ja, wir alle haben zehn gesunde Jahre dazugewonnen – aber es lohnt sich, noch einmal genauer hinzuschauen.

In allen Erhebungen zeigen sich deutliche Gruppenunterschiede: Insbesondere Personen aller Altersstufen mit niedriger Bildung, prekärer Beschäftigung, aber auch mit Migrationshintergrund sind bei allen Gesundheitsdimensionen benachteiligt. Und es gibt eine weitere Gruppe, die wir nicht aus dem Blick verlieren sollten: die älteren Frauen, die sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Viele von ihnen leben von sehr kleinen Renten und sind zusätzlich belastet, weil sie sich um ihre alten Eltern und um die Enkelkinder kümmern. Schließlich sind da die Hochaltrigen, deren familiäre Netzwerke ausdünnen, wenn die Kinder berufsbedingt weit entfernt wohnen. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir dringend neue Formen des gemeinschaftlichen Handelns brauchen, in denen sich die Generationen miteinander verbinden und Schwierigkeiten gemeinsam meistern. Soziale Räume, in denen Menschen jeder Altersstufe Sichtbarkeit finden und ihre Potenziale ausleben können.

Es gibt unglaublich viele spannende Projekte in Kommunen, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, die Familien entlasten und älteren Frauen und Männern neue Räume eröffnen können. Die Leihomas und Lesepaten gehören dazu. Die Pflegebegleiter, die in Abstimmung mit einer Sozialstation für hauswirtschaftliche und nachbarschaftliche Dienste sorgen, die Stadtteilmütter und Ausbildungsmentoren. Oder die Jobpaten, die schwer vermittelbare Jugendliche durch ein Praktikum bis in ein festes Arbeitsverhältnis begleiten. Und neben denen, die sich im sozialen Ehrenamt engagieren, stehen die kulturell Interessierten: Friedhofspaten, Museumsführerinnen oder Stifterinnen und Stifter aus den etablierten Milieus. Die Generation der 55- bis 69-jährigen ist es oft, die in einem Ort die Netze zusammenhält. Sie stärken die Eckpfeiler des nachbarschaftlichen Lebens, etwa mit den neuen Dorfläden und Nachbarschaftscafés oder auch mit Bürgerbussen, während sich die Kritischen in Bürgerinitiativen oder auch in Parteien organisieren. Bei der letzten Kommunalwahl wurde mir klar, dass es vor allem Freiberufler, Hausfrauen, Migranten und eben junge Alte sind, die sich für ihren Ortsteil engagieren – für den öffentlichen Nahverkehr, die Schwimmbäder und Einkaufszentren, die Ärzte im ländlichen Raum.

Die letzten beiden Freiwilligensurveys der Bundesregierung zeigen einen Trend weg von der Ausrichtung auf Geselligkeit hin zu Engagement für das Gemeinwohl. Es griffe aber zu kurz, bürgerschaftliches Engagement vor allem nach seinem gesellschaftlichen, sozialen oder kirchlichen Nutzen zu beurteilen. Bürgerinnen und Bürger nehmen gesellschaftliche Anliegen selbst in die Hand und gestalten sie auf eigene Weise. Ehrenamtliches Engagement ermöglicht Teilhabe, stärkt die Verwurzelung in der Nachbarschaft und Selbstbewusstsein „Ich für mich. Ich mit anderen für mich. Ich mit anderen für andere. Andere mit anderen für mich“ schreibt Margret Schunk aus Württemberg. „Weil wir uns vorgenommen haben, etwas gemeinsam zu tun, was uns allen nützt, was uns allen hilft. Eine Gemeinschaft, ein Netzwerk soll entstehen und wachsen können, das uns allen etwas bringt.“

Es geht um nicht weniger als unser Selbstverständnis als Gesellschaft; es geht um einen Mentalitätswandel. In unserer Gesellschaft, die stark geprägt ist vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstoptimierung, angesichts der Vermarktlichung des Sozial- und Gesundheitssystems, in dem Zugänge zunehmend über Geld und Wissen gesteuert werden, geht es um ein Gegengewicht: um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Am besten mit Spaß – ob mit roten Fingernägeln, in Cowboystiefeln oder in schlichtem Outfit, möge jede und jeder selbst entscheiden. Sicher aber mit der individuellen Lebenserfahrung und hoffentlich mit dem Selbstbewusstsein, dass wir alle es sind, die die Gesellschaft zu unserem Besten gestalten.

 

Cornelia Coenen-Marx

 

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