Mehr als Vater-Mutter-Kind

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Was ist Familie und welche Familien- und Lebensformen sind gesellschaftlich, sozialpolitisch und auch kirchlich anerkannt? Seit der Entscheidung des Bundestags über die „Ehe für alle“ ist der Streit wieder aufgeflammt. Das „Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ wurde am 20. Juni vom Bundestag beschlossen. Darin heißt es: „§ 1353 Absatz 1 Satz 1 wird wie folgt gefasst: ‚Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.‘“ Das Gesetz trat am 1. Oktober in Kraft. Das war ein Sonntag. Dennoch wurden in Berlin einige Standesämter geöffnet, damit neun homosexuelle Paare heiraten konnten. Seitdem sind auch die sogenannten Regenbogenfamilien – also homosexuelle Paare und ihre Kinder – Familien im Sinne des Grundgesetzes. Es steht zu hoffen, dass der Streit nun beendet ist. Der Streit um das Verständnis von Art. 6 des Grundgesetzes, der Ehe und Familie schützt, um Ehegatten- und Familiensplitting, um Alleinerziehende und Patchworkfamilien. Es geht um die Frage nach dem Leitbild: Gehören Ehe und Familie zusammen? Und besteht die heile Familie letztlich doch aus Vater, Mutter, Kind? Oder hat Heilsein mit der Form gar nichts zu tun?

Ich kenne diese hochemotionalen Debatten aus der Arbeit an der EKD-Orientierungshilfe zur Familie. Familie ist Streitpunkt und Sehnsuchtsort zugleich. Familie – das sind die Menschen, zu denen ich ganz selbstverständlich gehöre. Der Platz, wo mir geholfen wird – bei kleinen Alltagsproblemen und in schweren Krisen. Heimat in einer mobilen Gesellschaft. Ein glückliches Familienleben gehört zu den sehnlichsten Wünschen der allermeisten Menschen. Dabei wächst der Anteil von Singles. Denn vor allem mit der beruflich geforderten Mobilität entstehen Zerreißproben zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen. Da ist es schwer geworden, Familie zu leben. Das hat mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun – aber auch mit unseren eigenen Ansprüchen an das Leben. Wir leben in einer Optionsgesellschaft, immer auf der Suche nach besseren Möglichkeiten. Auch unsere Freiheit, unsere Selbstbestimmung sind uns heilig.

Dabei geht es nicht nur um die Institution Ehe und nicht nur um Moral. Es geht um Vertrauen und Respekt, aber auch um individuelle Entscheidungen – Entscheidungen, die empören und verletzen können. Was das angeht, bringt Jesus noch mal eine andere Perspektive ins Spiel, eine andere als erwartet. Davon erzählt der Evangelist Markus (Mk 3,32 ff.). Die Geschichte spielt zudem in einer vollkommen anderen Welt. Die damaligen Familien waren keine Vater-Mutter-Kind-Familien; sie glichen eher den großen Clans mancher Migranten, die bei uns leben. Wo es keinen Sozialstaat gibt, sind Familien die einzige Lebensversicherung. Und dabei sind die Rollen sehr klar zugewiesen. Man kann sich seiner Familie nicht einfach entziehen – das ist verrückt, pflichtvergessen, gefährlich. Und das ist der Stoff, aus dem damals Streit entsteht. Eine Frau, die nicht Mutter wurde; ein Sohn, der nicht für die alten Eltern sorgte – undenkbar!

Aber Jesus lässt seine Familie draußen stehen, während er drin sitzt mit einer Gruppe von Fremden. Es werden die gewesen sein, bei denen er auch sonst einkehrte: Frauen wie Maria und Martha, Menschen mit Behinderungen, Arme und Verachtete. Menschen vom Rand der Gesellschaft, Leute, die von ihren Familien verlassen wurden. Mit ihnen fühlt er sich mehr verbunden als mit den Verwandten draußen vor der Tür. Denen lässt er ausrichten: Meine Mutter? Meine Brüder? Wer den Willen meines Vaters tut, der ist mir Mutter und Bruder und Schwester. Eine Provokation – nicht nur damals.

Was ist Familie? Und wer gehört dazu? In einem Tagebuch aus dem 19. Jahrhundert berichtet Adelheid Bandau von ihrer Einsegnung zur Diakonisse. Die neue Tracht und die Haube liegen bereit, man spürt die Aufregung vor dem großen Tag. Das Ganze erinnert ein wenig an eine Hochzeit – aber mit ihr wird eine ganze Gruppe von Probeschwestern ihr Versprechen abgeben. Ihnen fühlt sie sich verbunden. „Es war, als ob wir unter einem Mutterherzen gelegen hätten“, schreibt sie schwärmerisch in ihr Tagebuch. Und tatsächlich versteht sich das Mutterhaus als Familie – eine Wahlfamilie mit Diakonissenmutter und Diakonissenvater. Aber auch hier ist die Beziehung zur Herkunftsfamilie zu klären. Was ist, wenn Vater oder Mutter krank werden? Wer hat jetzt das Sagen?

Adelheid Bandau trat nach einigen Jahren wieder aus der Schwesternschaft aus und suchte ein eigenes Leben als Lehrerin. Das Mutterhaus war ihr zu eng geworden. Sie war nicht die Einzige, die weiterzog – andere wurden Pfarrfrauen und gründeten eigene Familien. Die meisten träumten damals von der bürgerlichen Familie, aber die Kehrseite des wachsenden Wohlstands waren Armut, Wohnungsnot und überforderte Familien. Das war ja der Hintergrund für die Gründung der Mutterhäuser und Brüderhäuser. Sie waren nicht nur Wahlverwandtschaften für Schwestern und Brüder – sie wurden auch zur Familie für verwahrloste Kinder, für Kranke und Sterbende.

Heute wandelt sich die Gesellschaft wieder rasant. Vor vier Jahren hat die Kommission für den Siebten Familienbericht darauf aufmerksam gemacht, dass uns bald wieder ein Caredefizit droht, wenn es nicht gelingt, den absoluten Vorrang ökonomischen Denkens in Frage zu stellen. „Caring Communities“, „Sorgende Gemeinschaften“ sind zu einem neuen politischen Leitbegriff geworden. Kommunen, Kirchengemeinden, Schulen und Unternehmen sind gefragt, Verantwortungsstrukturen neu zu beleben. Die sorgenden Gemeinschaften von heute gleichen Wicherns „Netzwerken der brüderlichen Liebe“. Und heute wie damals ist eine gute Quartiersarbeit gefragt.

Wo die Kinder und Enkel weit weg wohnen, brauchen gerade ältere Menschen Freunde und Wahlfamilien. Die Kirche hat hier eine besondere Aufgabe. Denn eigentlich waren ja auch die ersten christlichen Gemeinden Wahlfamilien. Da kamen ganz unterschiedliche Menschen zusammen, die sich aus ihren Herkunftsfamilien gelöst hatten, weil sie dem neuen Glauben anhingen. Sie kümmerten sich umeinander, sorgten für die Kranken und Hilfebedürftigen, materiell und mit kleinen Diensten. Familie – das sind die Menschen, zu denen ich gehöre. Der Platz, wo mir geholfen wird – bei kleinen Alltagsproblemen und in schweren Krisen. Seit der Geschichte mit Jesus wissen wir: Die Form ist dabei nicht so entscheidend. Es geht um Respekt, Vertrauen und Fürsorge.

Es geht also nicht um Grenzziehungen und auch nicht darum, die Herkunftsfamilie gegen die Wahlfamilie auszuspielen oder umgekehrt die Blutsverwandtschaft gegen das Kloster – obwohl es das in der Kirchengeschichte immer wieder gegeben hat. Jesus selbst verbindet am Ende seines Lebens beide, wenn er seine Mutter dem Lieblingsjünger anvertraut. „Siehe, das ist dein Sohn, siehe, das ist deine Mutter.“

Die liebevolle Fürsorge überspringt die engen Grenzen. Auch die Grenzen von Gemeinden und Gemeinschaften. Die Kirche beziehungsweise Gruppen in ihr haben die geschwisterlichen Gemeinschaften immer dann neu entdeckt, wenn Familien und Nachbarschaften sozial überfordert waren, wenn die Gesellschaft verrohte. Das war so im 19. Jahrhundert und es war so im Dritten Reich in der Bekennenden Kirche. „Die christliche Gemeinde ist eine Gemeinde von Brüdern“, heißt es in der Barmer Erklärung von 1934. Diese Geschwisterlichkeit hat die Widerstandskraft gestärkt. Wenn aber Gemeinschaften vor allem durch soziale Kontrolle zusammengehalten werden sollen, wenn die Zusammengehörigkeit sich an Formen entscheidet und am Ende nur noch Amtsträger einander Bruder nennen, werden erneut enge Grenzen gezogen. Das ist genauso problematisch wie wenn aus der Schwester eine bloße Berufsbezeichnung wurde. Da wird dann Geschwisterlichkeit mit Hierarchien und Ansprüchen verbunden. Was würde Jesus dazu sagen? Der Gründer von Taizé, Roger Schutz, sagt es folgendermaßen: „Es geht darum, für alle Menschen ein Ort der Gemeinschaft zu sein, an dem sich auch der Nichtglaubende aufgehoben weiß und wo auf niemanden irgendein Zwang ausgeübt wird.“

Zwang und enge Grenzen zerstören die Gemeinschaft, die wir schützen wollen. Aber das Umgekehrte gilt auch. Vertrauen braucht eine Form. So bleibt unser Bild von Familie dynamisch und veränderbar, es wandelt sich mit der Zeit. Und ist gut, dass Verwandtschaft und Wahlfamilien einander ergänzen und entlasten. Tragende Gemeinschaften sind mehr und vielfältiger als Vater, Mutter, Kind.

 

Cornelia Coenen-Marx

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