Eine Hand wärmen – von Pflege und Demenz.

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„Wenn ich das Sagen hätte, würde ein Staatssekretär für die Emanzipation von Menschen mit Alzheimer eingesetzt. Dann stünden unsere Wünsche bei der Pflege im Mittelpunkt und auch der Demenzkranke hätte das Recht auf Privatsphäre. Ruhe-Medikation ( würde ) verboten und der Kranke könnte jeden Tag ausgiebig schmausen.“ Das sind einige der Forderungen, die Stella Braam in ihrem Buch „Ich habe Alzheimer“ aufgeschrieben hat – in Zusammenarbeit mit ihrem erkrankten Vater. Das Buch, inzwischen einige Jahre alt, zielt auf eine maßgeschneiderte Pflege für jeden Einzelnen.

Seit dem 1. Januar ist in dieser Hinsicht viel passiert. Die Diagnose Demenz ist in die Leistungen der Pflegeversicherung eingegangen und die Bedürftigkeitsberechnungen haben sich verändert. Die Versorgung Demenzkranker ist endlich aus der Tabuzone ins öffentliche Interesse gerückt. Angehörige wie Stella Braam oder Tilman Jens haben viel dazu beigetragen. Das war alles andere als selbstverständlich. Denn Demenz konfrontiert uns mit den Grenzen von Autonomie und Vernunft. In einer Zeit, in der das Internet jederzeit alle Daten verfügbar hält und nichts „vergisst“, müssen wir begreifen, wie flüchtig unser Gedächtnis ist. In einer Zeit, in der die Aufklärung unser Weltverständnis bestimmt, werden wir mit „Gespenstern“ konfrontiert, die mit dem Verstand nicht zu verscheuchen sind. Wer mit Demenzkranken lebt und sie versorgt, kennt die Hilflosigkeit angesichts der Übermacht von „irrationalen“ Ängsten und wütender Verzweiflung.

Nicht nur Pflege und Versorgung sind eine Herausforderung. Die Begleitung von Menschen mit Demenz stellt unsere Vorstellungen von Leistung, Produktivität und Lebenssinn grundsätzlich in Frage. Das Bild vom immer gesunden und leistungsstarken Menschen, der nicht auf andere angewiesen ist – dieses Bild von Autonomie hält am Ende nicht stand. Der Gerontologe Andreas Kruse schreibt: „Die mit einer Gesellschaft des langen Lebens verbundenen Herausforderungen verlangen nach einer Auseinandersetzung mit Fragen des Menschseins, mit dem Verständnis von Würde und mit den Vorstellungen eines guten und sinnerfüllten Lebens.“ Wir müssen ein Bild vom Menschen entwickeln, in dem Verletzlichkeit, Vergesslichkeit und Angewiesensein Platz haben – genauso wie Wachstum, Entwicklung und Selbstbestimmung.

Gott sei Dank gibt es dafür gute Beispiele. Ich denke an das geistliche Zentrum für Menschen mit Demenz in Berlin. Dort hat ein Sozialunternehmer ein Tanzcafé für Demenzkranke eingerichtet. Mit Musik, die zurück in die „goldenen“ 20er und 30er führt. Neben den wenigen Profis haben hier Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger und Ältere ihren Einsatzort gefunden. Einmal im Monat wird zusammen Gottesdienst gefeiert: einfach, sinnlich und sehr lebendig. Menschen geben Zeit und setzen Phantasie ein, um diese Gottesdienste vorzubereiten – und viele von ihnen erfahren dabei ein Stück Lebenssinn, auch für sich selbst.

Wer bereit ist, sich auf das Erleben Demenzerkrankter einzulassen, kann auch selbst erfahren, wie sich für Augenblicke Zeit und Raum auflösen: mit der Musik von früher, mit alten Liedern, Gedichten, Gebeten betreten wir ein Land lebendiger Vergangenheit. Für die Dichter ist das übrigens normal. In seinem Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ hat Marcel Proust geschildert, dass der Geschmack von Madeleines genügte, sich in seine Kindheit zurückzuversetzen – eine fast mystische Erfahrung. Demenzkranke kennen das. Ein Gericht aus der Kindheit, ein altes Bild, der Duft eines Parfums, eine Blüte – alles kann zu sprechen beginnen. In jedem Augenblick kann sich ein großes Geheimnis enthüllen. Der Dichter Arno Geiger, der die Begleitung seines Vaters literarisch verarbeitet hat, schreibt: „Oft ist es, als wisse er nichts und verstehe alles. Einmal, als ich ihm die Hand gab, bedauerte er mich, weil die Hand kalt war, ich sagte, ich käme von draußen aus dem Regen. Er behielt meine Hand zwischen seinen Händen und sagte: ‚Ihr könnt tun, was ihr zu tun habt, ich werde derweil diese Hand wärmen.‘“

Was für eine Liebe – für mich die Liebe Gottes, der unsere Hand hält und uns nicht vergisst. Keinen von uns. „In meine Hände habe ich dich gezeichnet“, heißt es in der Bibel. Davon leben wir – alle miteinander.

Cornelia Coenen-Marx

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