Gemeinsam in die Zukunft

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Am Bahnhof Dresden-Neustadt werden wieder viele Gäste ankommen, um teilzunehmen am großen Fest zur Deutschen Einheit. Das Bild des Bahnhofs gefällt mir: ein Dach über Schienen. Wir sind auf dem Weg, weil wir unseren Sehnsüchten folgen, aber immer wieder können wir ankommen und aufgehoben sein, können anderen begegnen und die Richtung neu bestimmen.

Dresden, drei Tage vor dem Tag der Einheit. Die ganze Innenstadt ist jetzt schon Sperrgebiet und wer kann, flieht die Stadt, in der die Party stattfinden soll. Mit dem Einheitsfest tun wir uns dieses Jahr schwer, die Freude will nicht so recht aufkommen. Der 3. Oktober erinnert bekanntlich an die offizielle Vereinigung von DDR und BRD zur neuen Bundesrepublik Deutschland mit dem Abschluss des Einheitsvertrags. Doch an der Einheit zwischen Ost und West, macht der pünktlich veröffentlichte Bericht der Bundesregierung zur Deutschen Einheit deutlich, gibt es trotz sehr großer Fortschritte noch viel zu tun und auch sonst ist die Freude keineswegs ungetrübt. „Anschlag auf die Einheit“ titelte die FAZ am Mittwoch nach den Sprengstoffanschlägen in Dresden. Ob „Integration“ gelingt und Deutschland bleibt, was es ist, steht in den Sternen, heißt es in dem Kommentar. „Es sollte aber Anlass sein, den Tag der Einheit gegen alle zu wenden, die daraus einen Tag der Spaltung machen wollen.“

So richtig es ist, Gewalt zu verurteilen, so sehr frage ich mich doch auch, ob diese Rhetorik den Kern der Sache trifft oder ob sie nicht vielmehr die Kluften noch befördert, die Fronten befestigt, die da entstanden sind und die doch so häufig auch aus Projektionen bestehen: zwischen dem Osten und dem Westen, den Hiesigen und den Neuankömmlingen, zwischen den moralisch Überlegenen und den „dumpfen anderen“. Und ich frage mich auch, ob es tatsächlich wünschenswert ist, dass Deutschland bleibt, was es ist.

Manchmal hilft ein Blick nach außen, um das Eigene besser zu verstehen. Die gewalttätigen Aufstände der Jugendlichen in den Pariser Vorstädten seit dem Herbst 2005 sind, so die Einschätzung vieler Soziologen, Ausdruck der Frustration über ein grundlegendes Gefühl des Abgehängtseins, der Überflüssigkeit, das sich aus struktureller Arbeitslosigkeit, Chancenlosigkeit und trostlosen Wohnquartieren speist. Die Jugendlichen in den französischen Banlieus sind zumeist Kinder von Zugewanderten. Doch ihr Gefühl des Abgehängtseins hat weniger mit ihrer Herkunft oder mit irgendeinem Anderssein zu tun als mit fehlenden Bildungs- und Arbeitschancen. So kann es durchaus erlaubt sein, eine Parallele zu jenen zu ziehen, die in Deutschland aufständisch werden, auch wenn deren Eltern, Großeltern und vielleicht auch Urgroßeltern schon hier lebten. Auch in den Aufständen der Rechten, in PEGIDA und in Hetze und Morddrohungen gegen eine muslimische Religionspädagogin im westdeutschen Dinslaken äußert sich eine Aggression, die möglicherweise letztlich weniger in einer Ablehnung des Fremden als in dem Gefühl der eigenen Überflüssigkeit wurzelt. „Die wichtigste Maßnahme, um eine solche Erfahrung des Überflüssigseins zu verhindern“, schreiben Herfried und Marina Münkler in ihrem gerade erschienenen Buch „Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft“(Berlin, September 2016), „ist die Integration der Jugendlichen in den Arbeitsmarkt und der Versuch, sie dort dauerhaft in Beschäftigungsverhältnissen zu halten.“

Es wird oft betont – auch der Bericht zur Deutschen Einheit hebt es wieder hervor –, welche Chancen in der Zuwanderung für unser überaltertes Land bestehen. Herfried und Marina Münkler konstatieren nüchtern, dass es eigentlich gar keine Alternative dazu gibt, diese Chancen zu nutzen. Stimmt. Umso weniger hilfreich ist es, das Scheitern zu beschwören. Auch und gerade wegen der weiteren Chance, die die Autoren beschreiben: Mit der großen Zahl der Neuankömmlinge und den Aufgaben, die sich damit für unsere Gesellschaft auf allen Ebenen stellen, entsteht auch die Notwendigkeit, „über die eigene Kollektividentität neu nachzudenken und dabei zu klären, was für sie elementar und unverzichtbar ist und was eher einer vergangenen geschichtlichen Etappe angehört“. Ein Nachdenken über das, was wirklich wichtig ist, woran es festzuhalten, woran es zu arbeiten lohnt, könnte zu der Wahrnehmung führen, „dass Neuankömmlinge und Alteingesessene mehr miteinander verbindet als voneinander trennt“.

Die Schüler meines Mannes sollten im Unterricht Gemüsekisten auseinanderbauen und daraus etwas Neues schaffen. Ein Junge baute ein Schiff, auf das er eine Deutschlandfahne steckte. Es segle in die Zukunft, kommentierte er.

So viel Kreativität können wir brauchen. So viel Wissen darum, dass wir tatsächlich in einem Boot sitzen. Und so viel Vertrauen darauf, dass wir einen guten Weg in die Zukunft vor uns haben.

Dass das Improvisieren und auch die stete Veränderung nicht eine Bedrohung, sondern notwendig sind, das wissen die am besten, die selbst große Umbrüche erleben mussten. Einer von ihnen war Hans von Lehndorff. Der ostpreußische Arzt, dessen Vater Landgraf in Trakehnen war, gehörte der Bekennenden Kirche an und war eng mit dem Widerstand gegen den NS verbunden. Einer seiner Vettern wurde als Widerstandskämpfer nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet, seine Mutter wurde von den Nationalsozialisten verhaftet, gegen Kriegsende auf der Flucht in den Westen von den Rotarmisten erschossen. Er selbst leitete bis zum Kriegsende ein Lazarett in Königsberg und arbeitete noch bis 1947 unter sowjetischer Besatzung weiter. Was es heißt, alles zu verlieren, das hat Lehndorff, wie viele andere in unserem Land, erlebt. Über seine Erfahrungen schrieb er ein Tagebuch, das er nach dem Krieg veröffentlichte, sein Ostpreußisches Tagebuch wurde berühmt. Ein Lied von ihm ist ins Evangelische Gesangbuch aufgenommen worden und es liegt mir sehr am Herzen: „Komm in unsre stolze Welt, Herr, mit deiner Liebe Werben. Überwinde Macht und Geld, lass die Völker nicht verderben. Wende Hass und Feindessinn auf den Weg des Friedens hin.“ Dieses Lied hat Lehndorff aber nicht nach dem Krieg verfasst, sondern 1968 – der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, Flucht und Vertreibung waren damals nicht einmal so lange her wie für uns die deutsche Einheit. Offenbar hatte sich alles schon wieder gesettelt, alles geschlossen? Eine neue Normalität war eingekehrt, die nicht nur die junge Generation als unehrlich empfand, als belastend. Es beeindruckt mich, wie dieser Autor gerade im Unbehaustsein, im Unterwegssein eine besondere Kraft sieht, von der er sich Erneuerung erhofft. In der vierten Strophe seines Liedes heißt es: „Komm in unser festes Haus, der du nackt und ungeborgen. Mach ein leichtes Zelt daraus, das uns deckt kaum bis zum Morgen. Denn wer sicher wohnt, vergisst, dass er auf dem Weg noch ist.“

So erleben wir einen Himmelsweg schon auf der Erde – wenn auch etwas kleiner! (Café Am Milchweg, Magdeburg)

Deutschland braucht nicht zu bleiben, was es ist, es kann und soll sich ändern. Die, die hier neu ankommen, können dafür gute Impulse geben. Geschwisterlichkeit und Recht, Einigkeit und Freiheit, die unsere Nationalhymne besingt, sind gute Wegweiser für die Zukunft. Um auf diese Zukunft zuzugehen, sind, scheint mir, Arbeits- und Bildungsprogramme, auch die kleinen Schritte der Arbeit von SozialpädagogInnen in der rechtsextremen Szene, Nachbarschaftstreffen und Feste – und nicht zuletzt eine Portion Hoffnung und Zuversicht wichtiger als eine Rhetorik der Spaltung oder des Scheiterns. Eine solche Energie war es schließlich auch, die 1989 die Mauer fallen ließ.

Aber, wie wir sehen: Die Einhe‎it liegt immer erst vor uns. Vielleicht bleibt sie auch ein Traum. Aber einer, der uns antreibt, uns immer neu zu erfinden. Mir scheint, es ist ein gutes Zeichen, dass dieser schwierige 3. Oktober 2016 fast zusammenfällt mit dem jüdischen und auch dem muslimischen Neujahrsfest. Lassen wir uns gemeinsam ein auf den Neubeginn.

Cornelia Coenen-Marx

 

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