Wo die Liebe wohnt

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Ein Foto ist in diesen Tagen um die Welt gegangen: das Bild von Omran, dem kleinen Jungen aus Aleppo(Fotograf: Mahmud Raslan). Auf Twitter war es unter dem Hashtag „Aleppoboy“ zu finden. Da sitzt er, ein verletzter Vierjähriger, auf dem Sitz eines Rettungswagens – Gesicht und Körper mit einer Schicht aus Blut und Staub bedeckt. Gerettet aus einem Bombenangriff. Ganz ruhig sitzt er da, wie eingefroren und erinnert mich an die Toten, die einst – von einer Minute auf die andere – unter Lava und Asche des Vesuvs begraben wurden. Omran lebt noch – aber seine Lebendigkeit ist gewichen. Der Vierjährige wurde zu einer Ikone des hundertfachen Todes in Aleppo, des tausendfachen Leidens syrischer Kinder und Familien. 50.000 Kinder sind in diesem Krieg schon umgekommen. Und allein in der letzten Woche sind vier frühgeborene Säuglinge im letzten noch verbliebenen Krankenhaus in Ost-Aleppo gestorben, weil die Stromzufuhr für die Wärmebettchen ausblieb.

Aber das Bild von Omran ist nicht das erste und es wird nicht das einzige bleiben, das wie ein Lauffeuer durch die Medien geht und Menschen erschüttert. Es erinnert an den anderen Vierjährigen, der tot an einem griechischen Strand lag und zum Symbol der Flüchtlingskrise wurde. Jeder von ihnen steht für Tausende – als ob das Leid der vielen Ungesehenen sich in dem einen Foto Ausdruck schafft. Ein stummer Schrei: Warum verschließt Ihr die Augen?

Schreie gab es auch auf der Straße von Jerusalem nach Jericho, wo wieder einmal ein Mann unter die Räuber gefallen war, wie es in der Bibel heißt. Heute führt diese Straße durch die von Israel besetzten Gebiete Palästinas, zur Zeit Jesu durch das Gebiet der Samaritaner. Es geht durch die Fremde und es geht bergab – 1.200 Meter bergab durch Staub und Wüste. Man muss wachsam sein, wenn man sein Ziel erreichen will, ohne zu verdursten, ohne unter die Räuber zu fallen. Aber natürlich passiert das immer wieder – unterwegs durch ein fremdes Land, auf der Flucht über das Mittelmeer, in einer belagerten Stadt. Täglich geschieht es und täglich verschließen wir die Augen – obwohl wir die Bilder in allen Medien sehen.

„Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen ein Levit – ein Tempeldiener; als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber“, erzählt Jesus. Die beiden werden es eilig gehabt haben – vielleicht kamen sie vom Tempel in Jerusalem und wollten nun schnell zurück zu ihren alltäglichen Pflichten. Vielleicht wollten sie sich selbst auf dieser Straße keinen unnötigen Gefahren aussetzen. Wer solche Wege geht, beschleunigt den Schritt. Stehen bleiben bei diesem Elenden – das würde jede Menge Scherereien bringen. Es gibt viele Gründe, warum Menschen lieber nicht so genau hinsehen. Meist hört sich das so an: „Wir können doch nicht jedem helfen. Wir können doch nicht die ganze Welt retten.“ Sätze, mit denen wir uns schützen.

Aber plötzlich greift es einem ans Herz und er sieht hin. Es tut weh, was er sieht. Ein kleiner Junge, von Staub bedeckt. Ein Verletzter am Straßenrand. Ein Kind, das in einem Pappkarton schläft. Unglaublich, was geschieht, wenn einer den Schmerz an sich heranlässt. Ungefiltert, in Echtzeit. Face to face. Der Mann beugt sich herunter, verbindet dem anderen die Wunden, setzt ihn auf seinen Esel und bringt ihn zur nächsten Herberge. Er achtet nicht auf die Zeit, er hat keine Angst um sein Geld – er tut einfach das Notwendige. Der barmherzige Samariter. Das ist der geläufige Titel der Geschichte. Ein Fremder also. Vielleicht weiß er, wie es ist, wenn man übersehen wird.

Wie der kleine Omran ist der barmherzige Samariter zur Ikone geworden. Das Symbol für die Nächstenliebe. Jede Zeit hat ihr Elend in dieses Bild eingetragen. Theodor Fliedner, der Gründer der Kaiserswerther Diakonie, ließ einen Holzschnitt drucken und verkaufte ihn viele hundert Male zugunsten der Krankenpflege. Viel später, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, sieht man in einem Bild von Ernst Ludwig Kirchner den Zusammenhang: Da setzt ein Pfleger im blauen Kittel einen Kranken in eine Badewanne; ganz vorsichtig hält den zerbrechlichen Körper mit dem geneigten Kopf. Fast wie Maria den toten Jesus hält.

Bilder der Liebe. Jemand trägt einen anderen – wie Eltern ein Kind tragen. Er wischt ihm Blut, Staub und Tränen ab und gibt ihm zu trinken. Einer hüllt einen Frierenden in eine Decke und setzt ihn in den Rettungswagen. Diese Bilder stellen die Hilfe in einen größeren Horizont. Sie erinnern an den verwundeten und gekreuzigten Jesus, den seine Mutter auf dem Schoß hat – und an das Kind in der Krippe, das auf der Flucht geboren wird. Wo ist eigentlich Jesus, wo ist Gott in der Geschichte vom Barmherzigen Samariter? Theologen haben gesagt, er sei selbst der Samariter, der sich zu uns niederbeugt. Andere sahen ihn in dem Verwundeten – Jesus, der Menschen zum Opfer fiel und auf unsere Menschlichkeit angewiesen ist. Beides ist wahr, denke ich. Diese große Erzählung bleibt irritierend, grenzüberschreitend und offen – und spricht uns gerade darum an. Ich denke, Gott ist in dem Geschehen, er ist in der Liebe – ja, er ist die Liebe. Gott ist in den Augenblick, in dem das Leiden eines anderen uns zu Herzen geht. In der Zeit, die wir uns nehmen, einem anderen wieder aufzuhelfen. In dem Geld, das wir an Hilfsorganisationen spenden wie der Samariter an den Wirt.

Vor ein paar Tagen ging wieder ein Bild aus Aleppo über Facebook. Khaled Omar Harrar, der Held von Aleppo war unter Chlorgasbomben gestorben. Vor zwei Jahren war er bekannt geworden, weil er einer Mutter half, ihren verschütteten Säugling frei zu graben. Als alle anderen schon aufgegeben hatten. In einem zerstörten Haus, zwischen den Betontrümmern, hatte er das Wimmern gehört. Er schloss sich den Weißhelmen an, die zwischen den Fronten Leben retten. Unbewaffnet. Und er konnte noch viele Kinder retten. Bis vorige Woche. Er war erst dreißig, als er starb. Das Foto mit seiner Todesnachricht zeigt ihn mit einem verletzten Kind auf dem Arm. In einem Nachruf in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ vom 19. August heißt es dazu: Der Held von Aleppo ist uns ein leuchtendes Beispiel der Liebe zu den Menschen. Er wird ganz sicher jetzt bei Gott sein, in seiner unmittelbaren Nähe. Bei dem einen Gott aller Menschen. Ob Khaled nun Christ war oder Moslem oder sonst etwas glaubte – er ist Gottes geliebter Sohn. So wie der Samariter. Der war ja auch kein Jude, kein Priester oder Levit. Er war ganz einfach barmherzig.

Cornelia Coenen-Marx

 

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