Was wir als Kirche mit dem Quartier zu tun haben – zur Theologie der Gemeinwesenarbeit

1.  „Wo das Herz wohnt“

„Heimat“ ist das Gefühl des Monats in der Zeitschrift vital. Kaum ein anderer Begriff hat so viel Imagewechsel und Definitionen erlebt, sagt Dr. Simone Egger, die diese Sehnsuchtslandschaft erforscht hat. Im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Industrialisierung und ersten Globalisierung, entstand die romantische Sehnsuchtsheimat mit Bildern von Caspar David Friedrich und den Hausmärchen der Brüder Grimm. Dass Heimat dann in den 60ern und 70ern als piefig galt – bis die Geschichte von Schabbach eine andere Hunsrückstory erzählte –, das hing mit der politischen Instrumentalisierung im Dritten Reich zusammen. Und jetzt, seit etwa zehn Jahren, ist Heimat im Trend, mit Lederhosen, lokalen Brauereien und Kaffeeröstereien, mit Landgasthöfen und regionaler Ernährung. Je mobiler die Gesellschaft, je mehr Optionen und Lebensstile, desto wichtiger wird Heimat. Der Lebensraum, in dem wir uns selbstverständlich und ungezwungen bewegen können, weil wir dazugehören. Die Stadt, von der ich „Wir“ sagen kann, sagte kürzlich ein Schriftsteller. Vital empfiehlt eine kleine Silberkette, auf der man die Koordinaten der Heimatstadt eingravieren lassen kann – die Heimat im Herzen tragen.

Die heimatliche Silhouette ist ohnehin häufig ganz tief in die Seele eingraviert: die Frankfurter City mit ihren Hochhäusern, die Münchner Frauenkirche, das Brandenburger Tor, der Hamburger Michel, die Dorfkirche in Wickrathberg – nicht zufällig sind es ganz häufig die Kirchen und Dome, die das Heimatgefühl stärken – auch für die, die die Kirche selbst kaum noch besuchen: „Wir lassen der Dom in Kölle“. Ob im Dorf oder im Stadtteil einer Metropole – die Kirch ist nach wie vor markanter und prägender Punkt im Stadtbild, die Schläge der Kirchturmuhr und der Klang der Glocken gehören zum akustischen Raum und geben uns Orientierung in der Zeit.

Auch wenn die Kirche längst nicht mehr den Alltag bestimmt – für viele bleibt sie Teil der eigenen kulturellen Identität, Seelenheimat eben. In Zeiten der Verunsicherung richten sich deshalb durchaus Hoffnungen und Erwartungen, aber auch Wut und Verzweiflung darauf. Wir spüren das, wo die Kirchen Sparprogramme auflegen, Kirchenkreise fusionieren und Kirchengebäude aufgeben, verkaufen oder umwidmen. Da erinnern sich Mitglieder an die Augenblicke, in denen sich dieser Ort in ihre Biographie eingeschrieben hat. Und manchmal engagieren sich auch die, die längst nicht mehr an diesem Ort wohnen. Ich erinnere mich, dass wir vor zwanzig Jahren den Osten Londons besucht haben – eine heruntergekommene Hafengegend mit internationaler Bürgerschaft, in der der Bischof von London eine Kirche aufgegeben hatte – dort kämpfte eine Bürgerinitiative um den Erhalt; es waren Menschen, die dort getauft oder getraut worden waren, die dort eine Erfahrung von Verbundenheit und Zugehörigkeit, ja, von Würde gemacht hatten. Und ich denke an die Kirchenkuratoren und Kirchenkuratorinnen, die heute dafür sorgen, dass alte Dorfkirchen in Brandenburg oder in Mitteldeutschland saniert werden – die Orgelpaten suchen, Veranstaltungen planen, die Kirchen offen halten, selbst wenn sie selbst gar nicht Mitglied sind. Mir fallen aber auch die vielen wütenden Briefe ein, die ich ebenfalls vor zwanzig Jahren im rheinischen Landeskirchenamt erhielt, als in Duisburg der Streit um den Emissionsschutz beim lautsprecherverstärkten Gebetsruf auf den Moscheen losbrach. Kirchenglocken ja – Muezzinrufe nein. Die „anderen“, hieß das, gehören hier nicht dazu. Dass die Kirchen die Lichter ausgeschaltet haben, wo die Identitären von Pegida und Hagida versucht haben, sie als Identitätsorte zu nutzen, war deshalb ein wesentliches Zeichen.

Das alles kann aber deutlich machen, wie verunsichernd der Transformationsprozess ist, der uns gerade herausfordert – und der eben auch die Kirchen selbst herausfordert: als Orientierungspunkte in den Nachbarschaften und Quartieren, bei der Suche nach Zugehörigkeit und in den Kulturkämpfen unserer Tage. Ich liebe übrigens die Klangkulisse von Jerusalem, dieser Stadt, in der man zu bestimmten Zeiten eine wunderbare Mischung aus Glocken, Muezzinrufen und Schofarhörnern erleben kann – aber klar ist: Es ist die Fremde, die mich da reizt, und gerade nicht die Heimat. Ein Heimatgefühl stellt sich ein, wenn bei uns im Dorf die Glocken den Sonntag einläuten – und mich an einen Lebensrhythmus erinnern, der so ganz anders ist als die 24/7-Gesellschaft, in der wir uns heute bewegen.

 

 

 

2. Nachbarschaften in der Transformation

Noch bekomme ich regelmäßig die „Gemeindethemen“, den Gemeindebrief meiner ersten Pfarramtsgemeinde, die ich vor 25 Jahren verlassen habe. In den ersten zehn Jahren konnte ich beobachten, wie meine ehemaligen Konfirmanden heirateten und ihre Kinder tauften. Inzwischen kenne ich nur noch einen geringen Teil der Namen der Verstorbenen und interessanterweise viele der Engagierten. Dass Familien, möglicherweise sogar mit mehreren Generationen, an einem Ort wohnen, ist schon lange keine Normalität mehr – offenbar gibt eine solche Konstellation aber Rückhalt für bürgerschaftliches Engagement. Ich komme später darauf zurück. Der Normalfall ist dagegen die sogenannte multilokale Mehrgenerationenfamilie, die sich durchaus füreinander engagiert, dafür aber erheblich mehr Zeit aufwenden und Entfernungen überwinden muss. Junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger Beweglichen, die häufig Wohneigentum haben, das sich in schrumpfenden Regionen kaum verkaufen lässt. Väter pendeln von Ost nach West zur Arbeit: Wo bereits Kinder in der Familie leben, sind es dann häufig die Mütter, die bleiben. Aber auch und gerade kinderlose Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren ist betroffen. Der Soziologe Eric Klinenberg spricht bereits von einer Versingelung der westlichen Gesellschaften – immerhin 28 Prozent aller US-Haushalte sind heute Single-Haushalte, verglichen mit 9 Prozent in den 50er Jahren – ein enormer Anstieg. Klinenberg kommt zu dem Ergebnis, dass Alleinleben der beste Weg ist, die modernen Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle. Zugleich aber verlieren Menschen, die häufig umziehen oder auch pendeln, die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Das Alleinsein und das Zerbrechen der hergebrachten sozialen Bezüge sind dabei nicht nur eine emotionale Herausforderung. Familien mit kleinen Kindern, auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demografischen Wandel wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags oft enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Der Theologe Ernst Lange, der Gründer der ersten „ Ladenkirche“ in Berlin, sprach damals vom Ensemble der Opfer.

Aber auch die Nachbarschaften verändern sich, weil Menschen von anderswoher zuziehen – als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge. Manche, wie die Einwanderer der 60er Jahre aus Südeuropa oder aus der Türkei, gehören mit ihren Familien seit Generationen dazu; und dennoch hat sich noch nicht überall ein echtes Miteinander entwickelt. Wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, wo viele leben, die von Transfereinkommen abhängen, wächst angesichts der Neuankömmlinge die Angst mancher „Autochthonen“ vor dem Verlust des „Eigenen“ – des eigenen Arbeitsplatzes, der eigenen Kultur, der gewohnten Nachbarschaft.

Zwar beobachten wir zur Zeit einen guten Stand bei der sozialversicherungs­pflichtigen Beschäftigung, aber sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind vielfach nicht mehr existenzsichernd – zumal wenn davon nicht nur ein Einzelner, sondern eine Familie ernährt werden soll, wie z.B. bei der wachsenden Gruppe Alleinerziehender. Armut aber bedeutet nicht nur fehlende materielle Absicherung, sondern vielfach auch Ausschluss von der gesellschaftlichen Teilhabe. „Wir reden von Millionen von Ausgeschlossenen, die einen Keil durch unsere Gesellschaft treiben“, schreibt Heinz Bude. „Kinder, die in Verhältnissen aufwachsen, wo es für keinen Zoobesuch, Musikunterricht oder für Fußballschuhe reicht, junge Leute, die sich mit Gelegenheitsjobs zufrieden geben müssen, Minijobber und Hartz-IV-Empfänger, denen es kaum zum Leben reicht. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Überzeugung gewonnen haben, dass es auf sie nicht mehr ankommt.“[1]

Es gäbe inzwischen eine Art „heimatlosen Antikapitalismus“ der zu Abgrenzung und Unsicherheiten führe und der Treiber der rechtspopulistischen Bewegungen sei, sagt Bude, der gerade ein neues Buch über die „ Gesellschaft der Angst“ geschrieben hat. Dahinter steht die diffuse Erfahrung, dass die sogenannten Märkte nicht nur den Wettbewerb der Unternehmen um Produkte, Dienstleistungen, Arbeitsplätze antreiben, sondern inzwischen auch auf Lebensbereiche übergreifen, die bislang öffentlich und solidarisch organisiert waren. Die Kämpfe, die wir zurzeit um Mieten und Wohnungswirtschaft, um Wasserwirtschaft und Ernährung, um Erziehung und Pflege, ja auch um Bahn und Post erleben, zeigen, worum es geht. Um Infrastruktur und öffentliche Güter – und auch um die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft, ihr Leben subsidiär mitzugestalten.

 

3. Überforderte Kommunen, chancenreiche Quartiere?

Die Bertelsmann-Studie zur Situation der Kommunen, die vor kurzem erschien, hat in allen Medien Aufsehen erregt: Sozialausgaben belasten die Kommunen mit bis zu 58 Prozent des gesamten Haushaltsvolumens, hieß die Schlagzeile. Nach langen Jahren der Debatte um einen neuen Finanzausgleich wird endlich wahrgenommen, dass viele Kommunen kaum noch in der Lage sind, ihre Pflichtaufgaben in ausreichendem Maße zu erfüllen – geschweige denn, den wachsenden Erwartungen nachzukommen. Günstige Wohnungen werden gebraucht, Kitas und Schulen, die ganztätig eine qualifizierte Betreuung, Erziehung und Bildung leisten, möglichst angepasste Pflegeangebote, eine alternsgerechte städtische Infrastruktur, Beratung und Unterstützung in Krisen und nicht zuletzt öffentliche Orte, an denen sich Menschen begegnen können. Strukturen eben, mit denen die Schwierigkeiten der Einzelnen abgefangen werden können, Strukturen, die auch beitragen zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit und zu einem Miteinander auf Augenhöhe.

Erst die finanziellen Herausforderungen, die mit inklusiven Schulen und persönlichen Budgets verbunden sind, und die Konflikte, die sich angesichts von Flüchtlingswohnheimen in überforderten Kommunen abspielen, haben auch politisch deutlich gemacht, welcher Handlungsbedarf besteht. Die enormen Transferleistungen in strukturschwachen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit, die Folgen des demographischen Wandels haben die Situation schon in länger angespannt und vielen Kommunen die Freiheit, eigene Prioritäten zu setzen, genommen. Hinzu kommen die Sparzwänge, die mit dem Stichwort Schuldenbremse verbunden sind. Die Bertelsmann-Studie markiert die Unterschiede zwischen Orten in wirtschaftlich strukturschwachen Regionen, in denen das Steueraufkommen gering ist, der Bedarf an Transferleistungen dagegen sehr hoch, und sogenannten In-Vierteln der boomenden Metropolen, in denen gut verdienende Menschen hohe Steuern, aber auch hohe Mieten zahlen, wodurch weniger gut Verdienende verdrängt werden – auch dies Ausdruck wachsender sozialer Ungleichheiten.[2] Hinzu kommt, dass angesichts der oben angesprochenen Marktlogik auch Städte – wie übrigens auch Schulen und Universitäten – zunehmend unternehmerisch geführt werden. Für eine Stadt wie Düsseldorf hat das bedeutet, sich durch geschickte Privat-Public-Partnership neue, schuldenfreie Spielräume zu erarbeiten. Für andere bedeutet es, dass auch die soziale Arbeit durch regelmäßige Projektvergabe an den günstigsten Anbieter im Quartier an Stabilität und Stetigkeit verliert.

Nicht nur von Sozialpolitik und Stadtplanung, sondern auch von den Sozialwissenschaften und von den unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Initiativen wird das Quartier deshalb in den letzten Jahren wiederentdeckt. als ein Raum, in dem neue Formen der Kooperation zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen, Kommune, Sozialversicherungen und Trägern sozialer Dienste Antworten auf die drängenden Bedürfnisse der Menschen geben können, wo aber auch neue Chancen der Begegnung und der Teilhabe entstehen. Im Quartier, wo Menschen einkaufen, ihre Kinder zur Tageseinrichtung bringen, wo Schulen und Sportvereine Anknüpfungspunkte bieten und Ärzte medizinische Versorgung bereitstellen, begegnen sich unterschiedliche Menschen noch immer ganz selbstverständlich. Hier anzuknüpfen, bedeutet allerdings, nicht nur fall-, sondern eben auch feldorientiert zu arbeiten und entsprechende Einrichtungen der Begegnung und Beratung im Quartier zu fördern.

Ein instruktives Beispiel ist die Pflege älterer Menschen: 43 Prozent der Älteren leben inzwischen in Einpersonenhaushalten. Auch wenn die meisten Pflegebedürftigen noch immer in ihren Familien gepflegt werden, gehen doch auch viele in ein Altenheim. Der Grund ist dabei häufig „nur“, dass sie ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen können. Hinzu kommt, dass die familiären Pflegesettings bei zunehmender Erwerbsarbeit der Frauen alle Beteiligten überfordern. Was fehlt, ist ein ambulantes Setting mit Unterstützung beim Erledigen der Hausarbeit und beim Einkaufen. Gehen die alten Menschen dann in eine stationäre Einrichtung, so verlieren sie damit nicht nur weitgehend ihre Autonomie und damit ein wesentllches Stück Lebensqualität. Diese „Lösung“ ist zudem extrem teuer, entweder für die Betroffenen selbst oder auch für die Kommunen. Eine quartiersbezogene Komponente, eine regelhafte Planung sowie Angebote der Beratung stehen deshalb in Altenhilfe und Pflegeversicherung genauso an wie zuvor in der Jugendhilfe und der Behindertenhilfe. Es gibt inzwischen zahlreiche Projekte, in denen mit innovativen Konzepten hilfreiche Angebote im Quartier geschaffen werden. Im Blick auf die alternsgerechten Kommunen verweise ich auf das Konzept Wohnquartier hoch 4 der Diakonie RWL.

Damit solche neuen Konzepte funktionieren können, müssen einige wesentliche Voraussetzungen erfüllt sein. Beispielsweise müssen sich die Kommunen, die sozialen Dienste, die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe und Einkaufszentren, Ärzte und Apotheken auf neue, ungewohnte Kooperationen einlassen. Es muss aber in den Quartieren auch die Menschen geben, die die Bereitschaft, die Fähigkeit und die Zeit mitbringen, sich in Projekten zu engagieren. In der Regel ist dazu auch professionelle Unterstützung erforderlich – z.B. im Quartiersmanagement oder in einem Familienzentrum oder Mehrgenerationenhaus. Gebraucht werden die Räume, wo alle Beteiligten sich treffen, die Plattformen, auf denen die Vermittlung organisiert werden kann.

Dabei geht es immer häufiger darum, überhaupt die Eckpfeiler des öffentlichen Raums und des nachbarschaftlichen Lebens aufrecht zu halten: eine Grundschule, einen Laden am Ort, die Praxis des Hausarztes, eine Kneipe oder ein Café, wo man sich ungezwungen treffen kann, regelmäßigen Nahverkehr. Wo die Kommunen kein Geld mehr haben, die Infrastruktur bereitzustellen, wo vielen Wirtschaftsunternehmen die Rendite zu gering ist, setzen in den letzten Jahren zivilgesellschaftliche und innovative privatwirtschaftliche Initiativen an: Schulgründungen, gerade im Osten, die Dorfladenbewegung, Initiativen, die Schwimmbäder unterhalten – aber auch die Wohnungswirtschaft, die den Supermarkt mietfrei lässt und für einen Treffpunkt mit Quartiersmanagement sorgt. Mit zivilgesellschaftlicher Partizipation, mit sozialer Unternehmerschaft und in Zusammenarbeit mit aufgeschlossenen Akteuren bei den öffentlichen Trägern werden Einrichtungen und Strukturen geschaffen, die auf vorhandene Bedarfe reagieren.

Nicht zuletzt durch das gemeinsame Engagement für die Nachbarschaft entstehen starke Bindungen zwischen den Beteiligten, oft über die Grenzen traditioneller kultureller oder ethnischer Milieus hinweg. Neue Nachbarschaften wachsen, in denen Menschen aufgehoben sind und einander helfen. Zentraler Bestandteil solchen Engagements ist in der Regel eine basisdemokratische, beteiligungsorientierte Entscheidungsstruktur. Darin liegt durchaus eine Herausforderung für die Kirche, die zugleich viel einzubringen hat – an öffentlichem Raum, Infrastruktur und freiwillig Engagierten.

 

4. Trennungen überwinden – Chancen und Herausforderungen für Kirche und Diakonie

Was sich in Kommunen und Quartieren abzeichnet, das zeigt sich auch in den Kirchengemeinden: Die zunehmende Spreizung der Einkommen, die wachsenden sozialen Unterschiede zwischen Erwerbstätigen und Hilfebeziehern, zwischen Bildungsgewinner und Bildungsverlierer, zwischen denen, die Kinder erziehen und Alte pflegen, und denen, die sich ganz auf Erwerbsarbeit konzentrieren; die Parallelgesellschaften zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, zwischen Migranten und Autochthonen – ein solches buntes Bild ist eigentlich selbstverständlich in einer Kirche, deren Haupt-Rechtsstruktur nach wie vor die Parochie ist – also die religiöse und diakonische Versorgung wie die Stiftung von Gemeinschaft an einem Ort.

Nicht immer sind sich die Engagierten und Verantwortungsträger bewusst, dass sie selbst Teil des sozialen Wandels sind. Und sie halten fest an ihren traditionellen Formen und ihrer hergebrachten Klientel. Viele andere dagegen fühlen sich nicht angesprochen: Die Zahl der Arbeitslosen und Geringverdiener, der Alleinerziehenden, der Menschen mit Behinderung oder Demenzerkrankung in Gottesdienst und Gruppengemeinde ist gering – viele Betroffene haben das Gefühl, dort ohnehin nicht verstanden zu werden; sie spüren, dass die äußeren und vor allem die mentalen Schwellen viel zu hoch sind. Andere haben keinen Kontakt zur Gemeinde, weil sie längst in einem komplett anderen Wochenrhythmus leben, als ihn die kirchlichen Gruppen- und Angebotsstrukturen vorsehen. Wieder andere fühlen sich in der Ortsgemeinde schlicht nicht zu Hause – nicht nur, weil das Milieu nicht passt, sondern weil ihr Seelenort nach wie vor anderswo liegt. In den EKD-Denkschriften und -Orientierungshilfen der letzten Jahre von „Gerechte Teilhabe“ über die Orientierungshilfe zur Familienpolitik bis zur Inklusionsschrift ging es immer wieder um die Frage, wie es gelingen kann, die Schranken zu überwinden, die letztlich dazu geführt haben, dass der öffentliche und gesellschaftliche Horizont von Kirchengemeinden enger wurde. Es dominiert dort ein Mittelschichtsmilieu, das sich im Bildungsniveau, Lebensstil und im ganzen Verhalten deutlich gegen andere Milieus abgrenzt. Dazu heißt es in der EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“: „Aus der Sicht der von unzureichenden Teilhabemöglichkeiten betroffenen Menschen zählen die Kirchen, gemeinsam mit anderen Einrichtungen, in der Regel zu denen, die eher ‚oben‘ angesiedelt sind und mit denen man zwar unter bestimmten Bedingungen etwas zu tun hat, zu denen man aber nicht gehört und in denen man sich deshalb auch nicht betätigt. Die Gründe für diese mangelnde Beteiligung liegen in erheblichen emotionalen, kulturellen und sozialen Distanzen.“

Teilweise wird der Wandel der Bevölkerungsstruktur in den Gemeinden von den Akteuren durchaus wahrgenommen. Die Antworten darauf sind jedoch nicht immer geeignet, Gemeinschaft und damit vielleicht auch Heimat zu stiften. In einem Aufsatz über Milieus und Kirchenreform[3] hat Franz Grubauer neulich beklagt, dass die weit verbreitete Analyse von Gemeindegruppen anhand der Sinus-Milieustudien dazu verführt, zielgruppengerechte Angebote zu schaffen, als sei die Kirche ein Unternehmen oder ein Club. Er schreibt: „Die Logik des Marktes beteiligt sich beabsichtigt oder unbeabsichtigt an der kulturellen und ästhetischen und schließlich sozialen Ausdifferenzierung und damit auch an der sich verschärfenden Spaltung der Gesellschaft. Die Milieuforschung selbst beschreibt ja diese Spaltung […].“ Angesichts „wachsende[r] Wohlstandspolarisierung, prekäre[r] Beschäftigungsverhältnisse, Erosion der klassischen Familienverhältnisse und biographische[r] Brüche“ sei aber die gezielte Ansprache der einzelnen Gruppen die falsche Strategie: „Die theologische Orientierung der Kirche (dagegen) lautet: Zusammenhalt und Integration fördern, Grenzen und Schranken durch die Botschaft überwinden.“

Für die tatsächliche Situation unserer Kirchengemeinden spielt die historische Trennung von verfasster Kirche und Diakonie in Deutschland eine entscheidende Rolle. Auch wenn die Aufbrüche der Inneren Mission im 19. Jahrhundert vom Quartier ausgingen und ins Quartier zurückführten – mit Wicherns Utopie eines neuen Wohnquartiers in Hamburg-St. Georg oder mit Fliedners Gemeindeschwestern – die Entwicklung des Sozial- und Wohlfahrtsstaats führte über die Anstaltsdiakonie zur fallbezogenen Dienstleistung und ist grundiert von der Exkludierung und besonderen Behandlung der jeweils anderen, denen die Gesunden und Gesicherten mit Barmherzigkeit begegnen. Die Trennung von Kirche und Diakonie spiegelt sich deshalb in der Trennung der Klientel – und zwar auch dann, wenn alle Betroffenen Kirchenmitglieder sind. Die Klienten diakonischer Beratungsangebote und Dienstleistungen sind oft gerade die, die in der Gruppengemeinde vor Ort fehlen – weil sie das Gefühl haben, nicht der Norm zu entsprechen. Die niedrige Taufquote Alleinerziehender ist dafür nur ein Beispiel.

Theologisch allerdings ist es umgekehrt: „Ohne die uneingeschränkte Integration von Menschen […] mit Behinderungen […] kann die Kirche nicht für sich in Anspruch nehmen, Leib Christi zu sein“, heißt es in „Kirche aller“, einer Erklärung des Zentralausschusses des ökumenischen Rates von 2003. Und weiter: „[…] ohne die Erkenntnisse derer, die […] mit Behinderung [leben,] werden die tiefsten, ureigensten Elemente der christlichen Theologie verfälscht oder verloren gehen.“ Dazu gehören die Erfahrungen der Verwundung und Verletzung, von Angewiesenheit und Freundschaft, Kreuz und Auferstehung. Die Erklärung wurde von einer Gruppe mit behinderten Menschen und ihren Betreuern geschrieben. Einige Sätze darin haben mich besonders beeindruckt: „Menschen mit Behinderungen wissen, was es bedeutet, dass sich das Leben unerwartet von Grund auf verändern kann. […] Wir sind Gott in jener leeren Dunkelheit begegnet, in der uns bewusst wurde, dass wir ‚die Kontrolle‘ über uns verloren haben, und wir haben gelernt, auf Gottes Gegenwart und Fürsorge zu vertrauen. […] Wir haben gelernt, Neuland zu gewinnen und einen neuen Weg für unser Leben zu finden, der uns noch nicht vertraut ist.“

Die Bibel hilft uns, einander als Gleiche wahrzunehmen, indem sie die Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen betont, und das heißt auch und gerade von denen zu lernen, die in persönlichen und gesellschaftlichen Krisen die verdrängte Seite unseres Menschseins offenbar werden lassen – unsere Verwundbarkeit und Endlichkeit, unser Angewiesensein auf Freundschaft und wechselseitige Hilfe. Der Autor Ulrich Bach, der nach einer schweren Polioerkrankung zeitlebens auf den Rollstuhl angewiesen war, schrieb einmal über ein Treffen von Behinderten und Nichtbehinderten: „[…] nicht als Behinderte und Nichtbehinderte sind wir beisammen, sondern als Gemeinde des dreieinigen Gottes. Fragt nicht in erster Linie, was ihr könnt oder nicht könnt. Hört, was Gott euch sein lässt.“ Die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum hat herausgearbeitet, dass es ein wesentlicher Aspekt der Würde eines Menschen ist, etwas beitragen zu können.[4]

Neben der Wiederentdeckung der Vielfalt der bunten Gemeinde Gottes – auch das ein Bild von Ulrich Bach – geht es im Quartier zentral um Gastfreundschaft, Beteiligung und Nächstenliebe als gute Nachbarschaft. „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid“, sagt Jesus (Mt 11,28). Die Bibel ist voller Einladungen. Und die Nächstenliebe überschreitet Grenzen – zwischen Etablierten und Außenseitern, zwischen Autochthonen und Zugewanderten, zwischen denen, die in den Arbeitsmarkt integriert sind, und denen, die keine Chance haben. Grenzen zwischen Männern und Frauen, die voll in ihrem Job aufgehen, und denen, die Kinder oder Pflegebedürftige zu versorgen haben, Grenzen zwischen Steuerbürgern und Transferempfängern. Dabei ist es wichtig, dass wir die Nächstenliebe nicht missverstehen als ein Gutmenschentum, mit dem man einer wahrgenommenen sozialen Verantwortung nachkommt, sich aber letztlich über den anderen erhebt. „Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade“, soll Pestalozzi einmal gesagt haben. Nächstenliebe, Gastfreundschaft und die Anerkennung des anderen als Ebenbild Gottes leben dagegen von Respekt und Solidarität.

 

5. Gemeinden als Caring Communities

Schon die ersten Kapitel der Apostelgeschichte erzählen davon, wie die Gemeinde Schranken überwindet: Bald gehören Sklaven und Frauen dazu, Armut ist kein Hindernis am Tisch des Herrn und Menschen mit Behinderung werden genauso einbezogen wie Migrantinnen und Migranten. Ein solches Miteinander, auch das erzählt die Bibel, muss aber auch immer neu erstritten werden: Wie heute gab es Spannungen zwischen Einheimischen und Migranten, zwischen den jüdischen Christen aus Jerusalem und denen, die aus der Fremde gekommen waren. Die einen sprachen hebräisch, die anderen griechisch. Diese Griechinnen und Griechen gehörten zur gleichen Gemeinde, aber so ganz gehörten sie doch nicht dazu. Auf beiden Seiten gab es Arme, aber auch hier, wie so oft, eine Hackordnung. Am schlechtesten geht es damals den griechischen Witwen. Frauen ohne Einkommen. Frauen, die einst eine ganze Familie versorgt haben, sich selbst jetzt aber nicht versorgen können. Migrantinnen zudem. Sie sitzen ganz unten an der Tafel, sie müssen von dem leben, was dort ankommt. Aber kaum einer schaut hin. Die Armut dieser Frauen bleibt unsichtbar.

Damals aber kommt Bewegung in die Geschichte. Denn die griechischen Männer empfinden die Ungerechtigkeit. Sie beklagen sich und ihr Ärger trifft auf offene Ohren. Endlich wird in der Gemeindeleitung überlegt, was geschehen muss, damit diesen Frauen Gerechtigkeit widerfährt. Die Benachteiligten brauchen Anwälte, die ihre Sache in die Hand nehmen. Und die Gemeinde braucht Diakone, Leute, die sich einfühlen können und für die Armen eintreten. Dass die griechischen Männer die Versorgung der Witwen zu ihrer Sache gemacht haben, war ein entscheidender Schritt. Jetzt werden sieben von ihnen als Diakone berufen. Die Apostelgeschichte erzählt, welche Kräfte frei werden, wenn Menschen bereit sind, für andere einzutreten, wenn Menschen, die am Rande stehen, integriert werden. Die griechischen Diakone werden Teil der Gemeindeleitung und sie beginnen, das Evangelium in ihrer eigenen Sprache zu predigen. Zugehörigkeit macht stark. Und sie ist, wie Martha Nussbaum analysiert, ein wesentlicher Faktor, der es uns ermöglicht, für uns selbst einzutreten und uns einzubringen.

In der Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie liegt ein großes Potenzial, die quartiersbezogene Entwicklung in den Feldern Familie, Pflege, Armut oder Zuwanderung wirklich zu unterstützen. Diakonie kann ergänzen, was Kirchengemeinden oft fehlt: Sie bietet professionelle Dienstleistungen, größere Freiheitsspielräume, Unternehmensgeist zur Projektentwicklung, politisches Know-how. Das Gelingen von Gemeinwesendiakonieprojekten hängt davon ab, beides zusammenzubringen – Lebensweltorientierung und Professionalität, Sozialraum und Dienstleistung, aber auch: Orientierung an denen, die in die Gemeinde kommen, und denen, die das besondere Engagement der Kirche brauchen. Dass Kirche und Diakonie unterschiedliche Perspektiven, Sprachen, Kulturen haben, ist eine ungeheure Chance. Auch hier kommt es darauf an, Verschiedenheit wahrzunehmen und wertzuschätzen. Dabei geht es auch um die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit von Kirchengemeinden. So beschäftigen sich zum Beispiel die Alterskommission der Bundesregierung unter Leitung von Andreas Kruse sowie die Ehrenamtskommission unter Vorsitz von Thomas Klie zurzeit mit der Entwicklung Caring Communities – und in beiden sind die Kirchen nicht vertreten. Sie gelten nicht als innovativ.

Manchmal müssen wir uns durchaus selbst in Erinnerung rufen, welches Sozialkapital Gemeinden mitbringen – an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen, an symbolischen Orten, an gemeinsamer Geschichte mit Stadt und Quartier. Versuchen wir einmal die Gemeindewirklichkeit mit dem Blick eines Fremden anzusehen: Fast an jedem Ort gibt es Kirchen und Gemeindehäuser. Nur noch die Sparkassen sind besser vertreten. Gemeindehäuser aber sind öffentliche Räume mit ungeheuren Möglichkeiten für Begegnungen, Basare, Cafés und Büros, aber auch für Vermietungen. Gemeinden nehmen Flüchtlinge auf und bieten Kirchenasyl, bieten Mittagstische, an denen gemeinsam gekocht wird, bauen die Kirchen im Winter zu Winterspielplätzen um. Kirche hat Begegnungsräume fast in jedem Wohnquartier – oft sind es die letzten öffentlichen Orte, die zugänglich sind, ohne Eintrittsgeld zu bezahlen. Sie zu öffnen, damit viele sich einbringen können, ist ein wesentlicher Schritt. Wo wir sie nicht mehr brauchen und nicht mehr tragen können, kann es richtig sein, einen Verein mit anderen zu gründen, wie es bei Kirche findet Stadt hier und da geschehen ist. Wir müssen nicht mehr immer Gastgeber sein – wir können, um im Bild zu bleiben, auch als Servicekräfte mithelfen, damit das Leben gelingt.

Christen und Kirchen wären besonders stark darin, kleine Netze im Stadtteil zu knüpfen, Heimat zu schaffen und Benachteiligte einzubinden, führte einmal ein Artikel im britischen „Guardian“ aus. Der Redakteur hatte das Sozialkapital, das die Kirchen für die Gesellschaft bereitstellen, sogar umgerechnet in Pfund. Und er kam zu dem Schluss, dass diese Leistung in Deutschland anerkannt würde – mit der Kirchensteuer nämlich. Ich fürchte allerdings, hierzulande war vielen lange nicht mehr bewusst, dass Kirchensteuer auch dazu dienen sollte, Netze im Stadtteil zu knüpfen und Menschen Heimat zu bieten. Gemeinden seien Agenturen für Gemeinschaft, schreibt auch Rosemarie Henel, die als AWO-Mitarbeiterin beim Thema Inklusion mit einer Kirchengemeinde zusammenarbeitet, sie seien ein „Circle of support“.

 

6. Gemeinschaft (er)leben – Gemeinschaft organisieren

Die Großeltern, deren Enkel an anderen Orten wohnen, die gemischtkonfessionellen Familien, die Sportvereine, die sich für Migranten geöffnet haben, die Elternvertreter in den Inklusionsklassen – sie alle leben im Quartier und sind schon längst daran interessiert, Trennungen zu überwinden und Gemeinschaft zu gestalten. Angesichts schrumpfender öffentlicher Etats wird ihr ehrenamtliches Engagement zu einer entscheidenden Ressource des Sozialstaats. Manche fürchten nicht zu Unrecht, dass Engagierte zum billigen Jakob werden. Es mutet merkwürdig an, wenn im Kontext der Einführung des Mindestlohns immer wieder betont wurde, dass die 8,50 Euro nicht für Ehrenamtliche gelten – aber tatsächlich gibt es längst eine Grauzone zwischen dem klassischen Ehrenamt und prekären Beschäftigungsverhältnissen mit Übungsleiterpauschale, Bürgerarbeit und Minijobs. Langzeitarbeitslose und Rentnerinnen mit kleinen Renten gehören zu denen, die es sich nicht leisten können, nur für Ehre und Anerkennung zu arbeiten. Studien, die analysieren, aus welchen Schichten und Milieus die meisten Engagierten kommen, zeigen deutlich: Sie sind nicht nur gut ausgebildet, sondern können sich auch auf Familie und Freundeskreis verlassen. Im Blick auf Quartier und Nachbarschaft spielen die sogenannten „jungen Alten“ eine besondere Rolle. Sie sind häufig lange am Ort, sozial und oft auch politisch engagiert, bringen breite Lebenserfahrungen und soziale Netze ein und sind damit Teil einer neuen, generationenübergreifenden und gemeinwohlorientierten Bewegung. Engagierte zwischen sechzig und 69 tragen viele neue Projekte vom Mentoring über die Tafeln bis zu den Wohngemeinschaften. Diese Power-Ager gehören zu den stärksten Potenzialen der Kirche.

Gleichwohl gilt das Matthäusprinzip: Wer hat, kann weitergeben. Wer aber wenig an Ressourcen mitbekommen hat, der findet oft den Einstieg nicht. Was können Kirchengemeinden tun, um auch diejenigen zum Engagement einzuladen, die sich bisher als Hilfeempfänger verstanden haben? Menschen mit Behinderung zum Beispiel, Flüchtlinge, oder auch Arbeitslose? Was ist nötig, um Menschen im Dritten Lebensalter bei ihren eigenen Konzepten zu unterstützen? Wie können wir ernst machen mit der Gemeinde von Schwestern und Brüdern, in der die verschiedenen Ämter der Kirche keine Hierarchie bilden? Diese Zielbestimmung aus der Theologischen Erklärung von Barmen 1934, wird nicht nur im Ehrenamtsgesetz der rheinischen Kirche zitiert – sie bleibt eine Zielsetzung für die Kirche der Zukunft.

Dazu muss die Kirche sich neu entdecken: als Plattform für Teilhabeprozesse, als Lebensmittelpunkt, als Ermöglicherin, als Herberge auf dem Weg. Gemeindehäuser, die wieder zu Stadtteilzentren werden, Diakonieläden in Brennpunktquartieren, Cafés in Familienzentren machen sichtbar, wohin die Reise geht. Es müssen nicht die eigenen Räume sein, die wir nutzen. Wo ein Gemeindehaus oder eine Kirche umgebaut werden muss, lässt sich entdecken, was alles im Stadtteil möglich ist: Gottesdienste in der Scheune oder in der Sporthalle, Konfirmandenarbeit im Altenzentrum, Arbeitsgruppen im Rathaus, Elternabende beim Griechen – manche Gemeinde hat sich mit diesem Wandern durch die säkularen Orte den Stadtteil neu erschlossen, hat Fenster und Türen nach außen geöffnet. Wo das gelingt, werden vielleicht auch die Plätze neu zu uns sprechen, in die die Geschichte einer Gemeinde eingeschrieben ist: der Platz, wo die alte Synagoge stand, das Haus, wo die jüdische Familie wohnte, die stillgelegte Fabrik, die Friedenseiche mit dem Gedenkstein. Oft ist die Kirche an diesen Geschichten beteiligt, die die Seele des Ortes zum Klingen bringen. Und wir wissen nur zu gut, dass Veränderung und Neuorientierung nur möglich sind, wenn wir die erreichen. Community Organising zeigt, wie es geht: Zuhören und Raum für Selbstorganisation geben – tatsächlichen und ideellen Raum: Ehrenamtliche fördern, Projekte professionell unterstützen und auch Mittel zur Verfügung stellen. Dabei kann es durchaus darum gehen, Projekte zu fördern, deren Mittelpunkt nicht die Kirche ist – sondern vielleicht ein Familienzentrum, eine Schule oder auch ganz einfach eine Fußgängerbrücke so wie in Saarbrücken. Da wurde das Bürgerengagement gegen den Abriss einer Fußgängerzone zum Kristallisationspunkt des Quartiers.

„Was sollen wir denn noch alles tun?!“, fragen manche, wenn es um neue Projekte geht – gleich ob Gemeinwesendiakonie oder Inklusion, Familienzentren oder generationengerechtes Arbeiten. Aus meiner Sicht geht es aber nicht darum, mehr zu tun oder verschiedene Felder, Milieus und Zielgruppen zusätzlich abzudecken, es geht um die Entwicklung eines neuen, quartiersbezogenen und inklusiven Selbstverständnisses. Es geht darum, die ambulanten Dienste und Wohngemeinschaften der sozialen Träger neu wahrzunehmen. Neben den Wohngruppen der Jugendhilfe und den Wohngemeinschaften für Demenzkranke die vielen Alters-WGs und Familien-Nachbarschaften, die selbstbestimmt entstehen. Den Ort wahrzunehmen und den Raum, die soziologische Situation der Gemeinde, aber auch ihre Mythen, Geschichten, ihre Stimmungslage wahrzunehmen. Das Gefühl der Überlastung werden wir nur abbauen, wenn wir auf die Bewegung achten und die Kompetenzen in den einzelnen Feldern gut verteilen. Das gelingt nicht in jeder Gemeinde, aber es ist möglich auf der mittleren Ebene. Die Stärkung der Kirchenkreisebene ist ein Anliegen aller Reformprozesse der letzten zehn Jahre. Vor allem die Gemeinwesenarbeit ist auf eine strategische Vernetzung mit Diakonie und Bildungsarbeit auf der mittleren Ebene angewiesen.

 

7. Gastfreundschaft leben – in der Hoffnung auf Gottes neue Stadt

Das Altbewährte ist brüchig geworden, Institutionen erodieren, das Verhältnis von Markt, Staat und Zivilgesellschaft verändert sich – aber in den Rissen und Brüchen wächst Neues heran. Was für die gesamte Gesellschaft gilt, das gilt auch für die Kirche. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen Resonanzerfahrungen möglich sind. Kooperationen zu organisieren, an denen sich die Bewohner, Nutzer, Hilfeempfänger, Gemeindeglieder als Bürgerinnen und Bürger beteiligen können. Orte entstehen zu lassen, an denen jeder gefragt und mit seinen Gaben gebraucht wird. Damit das gelingt, muss man wahrnehmen, wo der Schuh drückt, am besten miteinander leben. Kirchengemeinden sind dazu prädestiniert. Eine große Zahl an erfolgreichen Projekten ganz unterschiedlicher Größenordnung zeigt, was es bedeutet, Gelegenheiten aufzugreifen und etwas in Bewegung zu setzen. Ein Blick auf die Website von „Kirche findet Stadt“ genügt.

Die Kirche gehört zum Quartier: mit ihren Gebäuden, mit ihren Klängen, aber eben auch mit ihren Menschen und mit deren Hoffnungen und Träumen und ihrem Einsatz für eine gerechte Welt. Dieses Kapital ist ganz sicher noch wichtiger als die kirchlichen Immobilien und natürlich auch die Kirchensteuer – aber alles zusammen bietet großartige Voraussetzungen, um Solidarität zu leben, neue Formen der Gemeinschaftlichkeit für alle zu unterstützen. Solidarität, sagt Heinz Bude, das sei das Wissen, dass das, was dem anderen passiert, auch mir selbst geschehen kann. Nicht immer muss die Kirche dabei Ziel und Richtung vorgeben, vielmehr können Kirche und Diakonie, wie es in den 12 Kriterien zur Gemeinwesendiakonie heißt, „[j]e nach Situation, nach Ressourcen und Begabungen, nach Kräften und gesellschaftlichen Möglichkeiten verschiedene Rollen einnehmen. Um es mit dem Bild einer Filmproduktion zu sagen: Sie können Produzent, Regisseur, Haupt – oder Nebendarsteller, manchmal vielleicht auch nur Komparse sein. Wichtig ist, dass sie in ihrer Motivation und ihrem Profil erkennbar bleiben.“[5] Oder, um es in noch einem anderen Bild zu sagen: Manchmal sind wir Wirt oder Gastgeber und manchmal nur die Bedienung – aber darauf kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass wir Gastfreundschaft übern. Und dass wir einander Heimat geben auf dem Weg zur neuen Stadt Gottes, zum ewigen Zuhause, wie Friedrich von Bodelschwingh sagt.

Die neue Stadt Gottes braucht keinen Tempel mehr. In der Mitte stehen keine Geldtürme, aber auch keine Kirchtürme; in der Mitte steht das Lamm mit seinen Verwundungen und dem Siegeszeichen. Hier waren die Opfer nicht umsonst, Tränen werden abgewischt, Schmerzen gestillt, blutige Kleider ausgewaschen, der Lebensdurst wird gelöscht, das beschädigte Leben beginnt neu. Wir sehen die Völker von Osten und Westen, von Norden und Süden zu dieser Stadt pilgern, wir sehen sie durch die Tore gehen und durch die Straßen wandern – in dem Licht, das von Gottes Thron ausstrahlt. Vieles von dem, was wir in der Offenbarung über das neue Jerusalem lesen, ist die Erfüllung alter prophetischer Visionen.

Gott wohnt unter den Menschen. Was für eine Verheißung! Als die Offenbarung des Johannes geschrieben wurde, da war das alte Jerusalem schon zweimal zerstört wurden und auch der zweite Tempel war geplündert und niedergerissen. Bis in die Gegenwart gehört die Hoffnung auf den Neuaufbau, auf die Vereinigung der geteilten Stadt, ja sogar auf den Wiederaufbau des Tempels zu den Triebkräften der Geschichte und Politik in Israel. Aber spätestens nach den furchtbaren Erfahrungen der Kreuzzüge hat sich in unseren Köpfen das himmlische vom irdischen Jerusalem getrennt. Wir denken nicht mehr an eine reale Stadt. Allenfalls an die Verheißung, die jeder Stadt gilt. So konnte New York zum neuen Jerusalem werden – genauso wie einst Konstantinopel, Rom oder Aachen. Tatsächlich geht es aber immer um eine reale Stadt. Es geht darum, dass das Reich Gottes, dass der Himmel sich in unserem irdischen Raum erden will! Auch deswegen tragen Kirchengemeinden Verantwortung für den Raum, für die Stadt. „Das neue Jerusalem ist ein Versprechen, eine Herausforderung und eine Einladung, sich jetzt schon einzulassen auf das Leben in der himmlischen Welt, indem wir Barmherzigkeit leben und der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen, und damit dafür sorgen, dass unsere irdischen Städte etwas vom Glanz der himmlischen spiegeln. Auch wenn wir noch auf den neuen Himmel und die neue Erde warten – lasst uns anfangen, die neue Stadt zu bauen, die Stadt von Frieden und Gerechtigkeit“, sagte Anthony Pilla, der katholische Bischof von Cleveland, 1993 in einer Rede über die Kirche in der Stadt:

Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause – nichts charakterisiert die Rolle der Kirchen besser als dieses Wort von Friedrich von Bodelschwingh. Die Kirchen und auch die Gasthäuser in unseren Heimatorten sind Herzensorte, an denen Einheimische wie Fremde willkommen sind und wenn es gut geht, zu Nachbarn und Freunden werden. Wenn es wahr ist, dass Heimat heute mehr ist als ein Ort; wenn es um Zugehörigkeit geht, um ein Gefühl der Sicherheit, um vertraute Speisen und Klänge und Gerüche, dann können unsere Nachbarschaften vielen zur Heimat werden. Mit internationalen Gärten und unterschiedlichen Gerichten, mit Glocken und Muezzinrufen, mit gemeinsamem Lernen und Festen. Entscheidend ist, dass wir leben, was wir sind – Seelenorte mit unseren Nachbarschaften und Hilfenetzen wie mit unseren Kirchtürmen.

 

Cornelia Coenen-Marx, Lindlar, 18.6.2015

 

[1] Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München, Hanser, 2008.
[2] Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung hält fest (ich zitiere): „Die Belastung der Kommunalhaushalte durch Sozialleistungen ist bundesweit unterschiedlich. Am geringsten ist sie in Baden –Württemberg mit durchschnittlich 31 Prozent, am höchsten in Nordrhein-Westfalen mit 43 Prozent. Zwischen den einzelnen Kommunen sind die Unterschiede teilweise eklatant: Während die Stadt Wolfsburg (17 Prozent) und der bayerische Kreis Haßberge (18 Prozent) nur einen kleinen Teil ihres Etats für Sozialleistungen aufwenden, machen die Sozialkosten in Duisburg, Wiesbaden, Eisenach und Flensburg mehr als die Hälfte des städtischen Haushalts aus.“ http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2015/juni/sozialausgaben-belasten-haushalte-der-kommunen-mit-bis-zu-58-prozent/ Vom 8. Juni 2015.
[3] „Zweierlei Logik, Milieus und Kirchenreform: Richtige Analyse, falsche Strategie? Franz Grubauer in „Zeitzeichen“ 2/ 2012.
[4] Martha C. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2010. Von ihr können wir auch lernen, was die Bedingungen hierfür sind, nämlich die Fähigkeit, das eigene Denken, eine eigene Lebensperspektive zu entwickeln. Alle Menschen brauchen Angebote zur Bildung und Ausbildung, um sie zu entwickeln. Genauso ist die Fähigkeit, sich selbst zu versorgen, auf die eigene Gesundheit zu achten, für die eigene Wohnung zu sorgen. Es gehört zum Menschsein, Bindungen aufzubauen, zu Menschen und zu Dingen – zu lieben, zu trauern, Dankbarkeit und Zorn zu empfinden, sich zugehörig zu fühlen. Das alles brauchen wir, um Selbstachtung zu empfinden.