Die Krone der Pflege – Blick zurück in Begeisterung

Letzte Woche war die Woche der Krankenschwestern in den USA. Ich hätte das nicht erfahren, wenn nicht ein Freund auf facebook ein Lob auf die Schwestern und Pfleger veröffentlicht hätte. Er schreibt: dieser Beruf ist mir großer Verantwortung verbunden und hat doch wenig Anerkennung in der Gesellschaft. Sie treten ein in das Leben eines anderen Menschen , ja, sie mischen sich ein. Manche segnen Sie dafür , andere verfluchen Sie. Sie sehen Menschen in den schlimmsten und in den wunderbarsten Augenblicken. Sie sehen, wie das Leben beginnt und wie es endet.. Sie sehen, zu wie viel Liebe, Mut und Geduld wir Menschen fähig sind.“ Also: bitte: posten Sie diesen Text auf ihrer homepage, wenn Sie eine Pflegende sind oder wenn sie eine Pflegende lieben.“ Es gab eine Menge Rückmeldungen auf dieses Statement. „Heute haben wir die Hände der Pflegenden gesegnet“, schrieb ein Krankenhausseelsorger aus Chigaco. Und eine Pfarrerin bedankte sich mit dem Hinweis, sie sei im ersten Beruf Krankenschwester gewesen – und dabei hätte sie eine Menge über das Leben gelernt , was ihr noch heute entscheidend helfe.

Die Ausstellung, die wir heute eröffnen, erzählt von der Krone der Pflegenden, sie nimmt uns mit an die Orte der Gemeindekrankenpflege. Es gibt kaum eine Feierabenddiakonisse, die es nicht geliebt hätte, Gemeindeschwester zu sein – und die Ausstellung macht deutlich, warum: Gemeindeschwestern hatten einen ungeheuer vielseitigen Beruf, in dem sich Pflege und Pädagogik, Hilfe zur Haushaltsführung und Beratung mit der Anleitung von Familienangehörigen und Ehrenamtlichen verbanden. Sie waren der Mittelpunkt eines Netzes der Nachbarschaftshilfe, in dem sie eng mit Ärzten zusammenarbeiteten, der Umschlagplatz der Sozialpolitik im Quartier. Und: zugleich die rechte Hand des Gemeindepfarrers und tief verankert in den örtlichen Kirchengemeinden, wo sie durchaus familiäre Zugehörigkeit empfanden, oft auch im Pfarrhaus wohnten. Dabei waren sie – im Verhältnis zur Arbeit im Krankenhaus – relativ selbständig und hatten eine gewisse Finanz- und Entscheidungshoheit. Kurz: Gemeindeschwester zu sein, das war die ideale Kombination aus Berufung und Professionalität, aus Mobilität und Sicherheit, aus Freiheit und Frömmigkeit.

Aber nicht nur die alten Gemeindeschwestern bekommen glänzende Augen, wenn sie von ihrer Arbeit erzählen- vielen  Menschen in den Gemeinden geht es ganz ähnlich. Die Schwester war eine Institution im Stadtteil, sie verkörperte die Diakonie in der Gemeinde, das diakonische Amt, das inzwischen hinter den Serviceeinrichtungen verschwunden ist. Mit Tracht und Fahrrad, immer in den Häusern unterwegs, in der Regel ohne große Worte und Predigten, stand sie für die menschennahe Kirche , über die wir heute so gern reden. Und mir ihrer Bindung ans Mutterhaus lebte sie ganz unmittelbar den Brückenschlag zwischen Kirche und Diakonie, der uns heute oft so schwer fällt.

 

Unwiderrufliche Veränderungen

Diese Ausstellung erzählt am Beispiel der Gemeindepflegestation wie unter dem Brennglas von Aufstieg und Fall einer Lebensform , von den Veränderungen der Pflegediakonie in den letzten 150 Jahren, aber auch von der Entstehung und vom Wandel des Wohlfahrtsstaats – von seinen Chancen und Gefährdungen. Sie erzählt von der Rolle und Bedeutung der Kirche im Quartier und schließlich und nicht zuletzt zeigt sie uns ein Stück Frauengeschichte. Und dabei wird deutlich: der Focus auf die Gemeinepflege eignet sich hervorragend, um zu verstehen, was wir verloren haben , warum das so ist – und welche Herausforderungen auf uns zukommen.

Denn es hat ja seine Gründe, dass die Geschichte der Gemeindekrankenpflege in dieser Form zu Ende gegangen ist. Zwei Aspekte scheinen mir dabei besonders wichtig .Zunächst die Geschlechterordnung: Seit ihrer Gründung in der Mitte des 19. Jahrhunderts waren die meisten Mutterhäuser patriarchal strukturiert. Dabei funktionierten die Gemeinschaften nach dem Modell einer Ersatzfamilie mit dem Vorsteher als Diakonissenvater und der Oberin als Mutter.[1] Das Mutterhaus sorgte für Pflege und Erziehung und bot unverheirateten Frauen zugleich eine neue Perspektive und eine lebenslange Versorgung. Die Dominanz der Vorsteher und Ärzte über die Schwestern wurde mit der Schöpfungsordnung begründet. Dabei gehörten Empathie und Zuwendung, Beziehungsfähigkeit und Mütterlichkeit  nach damaliger Überzeugung zur  „Natur“ der Frau. Diakonisse zu werden, war für unverheiratete Frauen, die in den Kleinfamilien keine Aufgabe mehr fanden, durchaus attraktiv-und immerhin mit einer Ausbildung und einer sinnvollen Aufgabe verbunden. Als aber für Frauen beides denkbar wurde – ein eigenständiger Beruf mit Ehe und Familie, ging die Zeit der Schwesternschaften ihrem Ende zu.

Das Mutterhaus als entsendende Stelle, der persönliche Einsatz der Diakonissen, die Initiative von Pfarrern und Kirchengemeinden für ihr Quartier und die Spendenbereitschaft der bürgerlichen Famillien bildeten das magische Quadrat, in dem Gemeindepflegestationen wachsen und gedeihen konnten..  Die Ausstellung zeigt die allmähliche Ablösung dieses privaten und kirchlichen Engagements durch Kranken- und Sozialkassen im aufkommenden Wohlfahrtsstaat der Weimarer Republik und schließlich in den 60-Jahren die Ablösung der Diakonissen durch Tarifangestellte ,der Rund-um-die Uhr Dienste durch Schichtarbeit. Noch immer sind 75 Prozent der Beschäftigen in der Pflege Frauen , noch immer wird sie auch wie ein traditioneller Frauenberuf bezahlt, doch hat die Gesellschaft inzwischen den Eindruck, dass professionelle Pflege eine knappe Ware ist.

Mit der Ablösung des rundum versorgenden Wohlfahrtsstaats durch den Sozialmarkt wird nun auch Pflegezeit ökonomisch betrachtet – denn das  selbstverständliche Pflegepotential der Frauen schwindet. Das führt dazu, dass Pflegefachkräfte nur noch professionelle Tätigkeiten durchführen, und  fachfremde Aufgaben an andere abgegeben.  Und für  Zuwendung und Gespräche  bleibt  wenig Zeit. Inzwischen empfinden es Beschäftigten empfinden es als Zerreißprobe,  den diakonischen Anspruch, im Sinne  menschlicher Zuwendung, mit Professionalität in einem ökonomisch vorgegebenen Rahmen zu integrieren. Unter Zeitdruck werden pflegebedürftige Menschen zum Objekt der Behandlung und Pflegende werden sich selbst zum Instrument. Tatsächlich aber ist Pflege  ein Beziehungsgeschehen, für das ein hohes Maß an Wahrnehmungsfähigkeit, Empathie und  Intuition notwendig sind.. Pflege ist Kommunikation, sie braucht soziale Kompetenzen, Beratungsfähigkeit, pädagogisches Wissen.  Am Ende ist diese Sorgeaufgabe eben doch mehr als eine Dienstleistung, die auf unmittelbare, geldwerte Gegenleistung zielt. Der Kern klassischer Sorgesituationen, meint die Bremer Ökonomin Maren Jochimsen lässt sich am ehesten mit einem Geschenk vergleichen. Mit Löhes Diakonissenspruch – mein Lohn ist, dass ich darf – hat das gleichwohl nichts mehr zu tun: Die Schwestern von heute verstehen ihren Beruf nicht mehr als gehorsamen Dienst, sondern als eigenständigen Beitrag zum Heilungsgeschehen.

Damit komme ich zum zweiten Aspekt einer grundlegenden Veränderung: Die unmittelbare Rückbindung der Pflege an Kirche und Gemeinde ist zerbrochen..  Heilung wird nicht mehr unbedingt im Zusammenhang mit dem Heil verstanden.. Diakonisse zu sein, war eine geistliche Berufung, in der Leibsorge und Seelsorge zusammen gehörten. Die Schwestern widmeten  ihr Leben diesem Dienst – sie kannten keine Trennung von Arbeit und Leben, von Religion und Dienstleistung. Auch wenn es nach wie vor Diakonissen gibt, müssen wir festhalten: die Selbstverständlichkeit, mit der das geschah, ist verloren gegangen- das gilt  im übrigen auch für die meisten Pfarrerinnen und Pfarrer.

Das bedeutet aber nicht, dass die Frage nach Spiritualität in der Pflege keine Rolle mehr spielt – ganz im Gegenteil. Zwar folgt unser Gesundheitssystem einer ökonomisch-technischen Logik.- und das gilt auch für die Pflege. Aber die gängige Modularisierung, Standardisierung und Segmentierung in den Pflegediensten steht in Spannung zu der Tatsache, dass Heilung ein personales, existentielles und eben auch ein religiöses Geschehen ist. Wo es um die elementaren Bedürfnisse eines verletzlichen Menschen geht, können distanzierende Beschreibungen, die den Patienten zum Behandlungsobjekt machen, nur begrenzt erfolgreich sein.. Empathie und Intuition und Solidarität sind gefragt. Ungeteilte Aufmerksamkeit, Achtsamkeit ist ein Schlüssel für ein gelingendes Pflegegeschehen – und sie zugleich eine zutiefst spirituelle Haltung. Spiritualität wird inzwischen als Ressource für Pflegende, ja, als Burnout-Prophylaxe wieder entdeckt.

In einer Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD  zu der Frage, wie sich innere Kraftquellen in der Pflege manifestieren, wurde deutlich: Spiritualität kann helfen,  leichter mit kritischen Situationen wie Leiden und Sterben der Patienten umzugehen. Die Interviewten sprechen davon, dass sie sich getragen und geschätzt fühlen, dass sie Kraft bekommen, durchzuhalten, auch wo Erfolg nicht zu sehen ist. Auch diese Ausstellung erzählt sehr eindrücklich von den Kraftquellen, die die alten Gemeindeschwestern trotz Rund- um –die Uhr-Dienst und 32 Patienten am Tag durchhalten ließen: die Bedeutung von Rüstzeiten, Gesprächen mit Seelsorgern und Mitschwestern, eigener Tagesgestaltung.

 

Neue Herausforderungen  führen zurück ins Quartier

Vor einiger Zeit  habe ich eine Pflegekraft interviewt, die für das Johanneswerk in Bielefeld ein Quartierspflege-Projekt organisiert. Sie hat vor Jahren in der Kaiserswerther Diakonie gearbeitet. Während des Gesprächs fiel mir auf, dass ihre Arbeit durchaus mit der der alten Gemeindeschwester  verwandt ist. Es ist die gleich  Mischung aus Pflege und Angehörigenarbeit, aus Gemeinwesenarbeit und Begleitung Freiwilliger, der gleiche Brückenschlag zwischen professioneller Diakonie und Gemeinde. Denn die Gesundheits- und Sozialpolitik hat die Gemeindediakonie wieder entdeckt – diesmal in säkularer Gestalt. Die Kollegin bestätigte, ihre Arbeit sei mit der der Gemeindeschwester verwandt .Sie unterscheide sich aber im Blick auf ihre professionelle Distanz und  das eigene Selbstverständnis. Sie verstehe sich als Teil eines größeren Ganzen, das über die Gemeinde hinausgehe. Dabei beziehe sie die Gemeinde und gerade auch die Seelsorgerinnen und Seelsorger gern mit ein. Wenn die aber glaubten, sie könnten das Ganze steuern, dann werde die Zusammenarbeit nicht gelingen. Kooperation müsse ernst nehmen, dass die Gemeinden nur noch ein Teil im Netzwerk des Quartiers sind- genauso wie Ärzte und Pflegende. Wie schon in früheren Zeiten, sind es die Pflegenden, die den Umschlagplatz im Quartier bilden.

Das professionelle Gesundheitssystem verknüpft sich in neuer Weise mit gemeinwesenorientierter Arbeit. Inzwischen gibt es in den ländlichen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns Pflegende, die einen medizinischen Auftrag im „ Basisgesundheitsdienst“ wahrnehmen und damit alte Traditionen der Schwesternschaften wieder beleben. Hier öffnen sich die Grenzen zwischen Medizin und pflegenden Berufen, stationäre Einrichtungen und Krankenhäuser ambulantisieren sich ,und von allen Beteiligten wird mehr Flexibiltät und Kooperation erwartet. Die hohe Professionalität, die für diese Aufgaben nötig ist, wird auf Dauer nicht mehr nach „ Frauentarifen“ bezahlt werden können. Zugleich aber ist die finanzielle Grenze der Professionalisierung und Ökonomisierung erreicht. Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland wird bis 2030 von heute 1,9 Millionen auf schätzungsweise 3 Millionen wachsen.  Und wahrscheinlich werden wir in 20 Jahren auf die heutige Altenpflege zurück sehen wie wir heute auf die Einführung der Sozialstationen.

Mit dem Buch „Ich will sterben, wo ich gelebt habe.“ hat Klaus Dörner hat  vor einiger Zeit  das Quartier wieder stark gemacht.  Das Netzwerk von Ärzten und Pflegenden, von Profis und Laien., eine neuen Zusammenarbeit zwischen Pflegekraft und zu Pflegendem. Es gelte, gute Lösungen für unterschiedliche Lebenszusammenhänge und Wertesysteme zu finden, schreibt er – also nah an den Bedürfnissen zu sein wie die alte Gemeindeschwester. Dazu brauchen gerade die Mitarbeitenden in der ambulanten Pflege spirituelle und seelsorgliche Angebote und ethische Beratung.

Und hier sind auch die Kirchengemeinden wieder gefordert.. Das geistliche Zentrum für Menschen mit Demenz in Berlin ist ein gutes Beispiel für neue Aufgaben und Chancen. Dort hat ein Sozialunternehmer, Träger von Sozialstationen, ein Tanzcafe für Demente eingerichtet hat. Mit Musik, die zurück in die goldenen 20er und 30er führt. Im geistlichen Zentrum für Demenzkranke und ihre Angehörige gibt es aber auch einen neuen Typ Gottesdienst: einfach, sinnlich und sehr lebendig. Menschen geben Zeit und setzen Phantasie ein, um ihn vorzubereiten – und viele davon sehen darin ein Stück Lebenssinn. Arbeitslose, Hartz.IV:-Empfänger und Ältere sind die Mehrheit in diesem Stadtteil und sie haben in diesem Arbeitsfeld ihren Einsatzort gefunden. Die Zukunft der Kirche hängt auch  davon ab, dass und wie sich Gemeinden und engagierte Christen mit diakonischen Einrichtungen und Diensten vernetzen und zu Caring Communities werden.

Denn Diakonie kommt aus der Fürsorge für die Schwachen, die Kranken, die Kinder und die Armen, wie die Ausstellung zeigt. Das sind keine kaufkräftigen Kunden, das sind Menschen, bei denen die Markt- und Dienstleistungsorientierung an ihre Grenzen kommt. Wer ihnen helfen will, sich aufzurichten und ihr Leben zu meistern, tut das auch heute aus Überzeugung, ja- aus Berufung. Die Studie von Christel Kumbruck für das Sozialwissenschaftliche Institut zeigt, dass die Beteiligten das auch so sehen: Sie sprechen von sehender Fürsorge, von Mitmenschlichkeit ,die Fachlichkeit prägt und von ihrer Motivation, für die Bedürftigen da zu sein. Das geht  nicht ohne Konflikte ab – zwischen diakonischem Anspruch und der Realität auf dem Sozialmarkt. Deshalb bin ich besonders dankbar, dass auch unsere die Ausstellung Konflikte nicht ausspart: nicht die politischen im Dritten Reich, und auch nicht die zwischen den Schwestern und dem Mutterhaus um die Grenzen der Kraft oder zwischen Schwestern und Gemeinden um finanzielle Eigenständigkeit.  Anspruch und Wirklichkeit stehen nicht erst heute in Spannung zueinander – aber wo wir das wahrnehmen und zum Thema machen, da können wir uns auch weiter entwickeln. Um Zukunft zu gestalten, braucht es einen Rückspiegel. Ich bin sicher: die ambulante Pflege hat eine große Zukunft – und sie bleibt eine Herausforderung für das Verhältnis von Kirche und Diakonie wie für Männer und Frauen in unserer Gesellschaft. Um das zu erkennen, ist die Ausstellung ein brillanter Rückspiegel.

 

 

[1] Hermann Schauer, Frauen entdecken  ihren Auftrag, Göttingen 1960