Kirche findet Stadt! Utopie oder Wirklichkeit?

1. Träume treiben uns voran

Im Jahr 1516 erschien in Löwen ein Buch mit dem Titel: Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia“. Der Autor, der Theologe Thomas Moore, hatte vier Jahre in einem Kloster gelebt, bevor er heiratete und sich für eine juristische Karriere und für die Politik entschied. Er wurde Lordkanzler von Heinrich VIII und war über lange Zeit dessen rechte Hand. Aber jenseits aller politischen Loyalität blieb für ihn klar: Politik braucht einen Traum, eine Vision, um Zukunft zu ermöglichen. Und gerade in Umbruchzeiten kommt es darauf an, dass die Werte klar beschrieben werden, die uns treiben, die Ideen, an denen unsere Konzepte hängen. Mit seinem Traum von der Insel Utopia hat Thomas Morus das versucht: In seinem idealen Gemeinwesen spielen Menschenwürde, Teilhabe und Toleranz eine zentrale Rolle. Grund und Boden sind gemeinsamer Besitz; denn der Schutz der öffentlichen Güter ist Voraussetzung für die Teilhabe aller.

Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum, hat sich auf Thomas Morus bezogen, als sie in den letzten Jahren deutlich machte, wie Menschenwürde und Menschenrechte zusammen gehören. Sie entwickelt ihre Theorie der Gerechtigkeit als Befähigungsgerechtigkeit und nimmt dabei auch die Bürgerinnen und Bürger in den Blick, die für Thomas Morus noch keine Rolle spielten: die Abhängigen und Transferempfänger, Menschen mit Behinderung, chronisch Kranke, pflegebedürftige Ältere – alle die, für die wir traditionell Hilfen vorhalten, deren soziale Bürgerrechte aber immer wieder in Frage gestellt werden. Der Wandel vom fürsorglichen Wohlfahrtsstaat über den aktivierenden zum investiven Sozialstaat hat daran nichts geändert. Martha Nussbaums politische Utopie ist die einer inklusiven Gesellschaft, in der sich alle Menschen auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam Wirklichkeit gestalten. Wenn wir ernst machen wollen mit den sozialen Bürgerrechten, dem Recht auf Bildung und ein sozial-ökonomisches Existenzminimum zum Beispiel, dann gilt es, durchzubuchstabieren, was Menschen brauchen, um nach ihren Möglichkeiten für sich selbst sorgen zu können, sich trotz mancher Behinderungen von einem zum anderen Ort zu bewegen, Beziehungen zu gestalten und aufrecht zu erhalten und ihren Lebensraum zur Heimat zu machen.

Die Idee der Inklusion, die von Martha Nussbaum mit entwickelt wurde, gilt inzwischen als internationale Leitidee in der Sozial- und Gesellschaftstheorie[1] und wird als die soziale Frage der Gegenwart betrachtet[2]. Dabei geht es nicht nur um einen individuellen Rechtsanspruch auf gesellschaftliche Teilhabe und aktive Mitgestaltung, es geht vielmehr um die Verpflichtung von Staaten und Kommunen, aber auch von Kirche und Diakonie, angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit Menschen ihre Rechte auch wahrnehmen können. Wir sind herausgefordert, unsere Unterstützungsleistungen so zu erbringen, dass ein Leben in der Mitte der Gesellschaft möglich ist. Das kann nur gelingen, wenn die Leistungen personenbezogen und lebensweltlich ausgerichtet sind. Es geht darum, das Einsortieren von Menschen in „Schubladen“ und Gruppen zu beenden, das auch unsere Hilfesysteme kennzeichnet- mit unterschiedlichen Refinanzierungen und Strukturen je nachdem, ob einer behindert oder pflegebedürftig, alt oder krank ist.

Die Philosophin Hannah Arendt,[3] die schon in den 60er Jahren beschrieben hat, wie gerechte Teilhabe gelingen kann, benennt als grundlegende Voraussetzungen, dass jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit anerkannt und geachtet wird, dass jeder auf die Unterstützung anderer vertrauen kann und dass jeder Mensch Zugang hat zum öffentlichen Raum hat. Kein Mensch soll aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Diese Vision hat in den letzten Jahrzehnten viele Bürger und Bürgerinnen angetrieben: von der Psychiatrieenquete bis zur Ambulantisierung der Behindertenhilfe, von Cecily Sounders bis zu Klaus Dörner. Ihre Träume richteten sich zumeist auf das Zusammenleben im Quartier. Wer pflegebedürftig ist oder mit Behinderungen leben muss, wer unheilbar krank und sterbend ist, soll deswegen nicht ausgeschlossen sein. Keiner soll umziehen müssen oder im Heim untergebracht werden, nur weil er sich selbst nicht mehr versorgen kann; keiner soll isoliert sein, wenn er stirbt. Die Umsetzung dieses Traums in eine menschenrechtliche Norm, die UN-Behindertenrechtskonvention, zwingt uns jetzt dazu, ganz konkret darüber nachzudenken, wie unsere alltäglichen Lebensorte gestaltet sein müssen, damit das gelingt. Wie Wohnquartiere und Arbeitswelt, soziale Dienste und deren Finanzierung sich ändern müssen. Projekte wie Wohnquartier hoch 4 zeigen bereits anschaulich, wie ein Stadtteil aussehen muss, in dem ältere Menschen gut leben können. Ich bin überzeugt, dass der demographische Wandel uns über kurz oder lang zwingen wird; auch in den Systemen der Altenhilfe die Rechtsgrundlagen wie die Refinanzierungsmöglichkeiten zu ändern. Mit dem Ziel, die bestmöglichen Kommunen und Quartiere für eine älter werdenden Gesellschaft zu schaffen, um Thomas Morus Gedanken vom besten Zustand des Staates noch einmal aufzunehmen.

Wir brauchen Utopien wie die von Thomas Moore, wir brauchen Träume wie die von Saunders und Dörner, um nicht in der Alternativlosigkeit des Hier und Jetzt zu ersticken. Um Politik zu gestalten. Oft sind es die Quellen der Bibel, aus denen die großen Träumer geschöpft haben- von Thomas Morus bis Martin Luther King. Die Utopie, die am Anfang aller Träume stand, ist die neue Stadt Gottes, das neue Jerusalem, das im alten, in der der christlichen Gemeinde schon erfahren werden kann.

 

2. Erfahrungsorte einer neuen Wirklichkeit

Was für ein Anspruch, werden jetzt viele von Ihnen denken: die Kirche als Kern einer Erneuerungsbewegung- das ist sie doch schon längst nicht mehr. Sie werden die Milieuverengung in vielen Gemeinden vor Augen haben, die Probleme, mit demenzkranken Menschen einen normalen Gottesdienst zu besuchen, den Zeitdruck, der auch auf diakonischen Pflegestationen lastet. Es gibt sie aber: die Aufbrüche, die Traumplätze. Ich denke an das geistliche Zentrum für Menschen mit Demenz, das Nachbarschaftszentrum in Stralsund, die Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg oder die Diakoniekirche in Offenbach- lauter Plätze, an denen kirchliche und diakonische Handlungsfelder neu aufeinander bezogen werden. Manchmal steht ein Gemeindezentrum im Mittelpunkt, das zum Nachbarschaftshaus umgebaut wurde, manchmal wird ein Familienzentrum zum zentralen Knotenpunkt im Stadtteil, manchmal ist es ein Mehrgenerationenhaus. Immer geht es darum, Hindernisse und Barrieren abzubauen und Menschen miteinander in Beziehung zu bringen, Hilfen anzubieten und zur Selbstorganisation zu ermächtigen. Kirche findet Stadt- das heißt, sie entdeckt sich neu als zivilgesellschaftliche Kraft. Die beschriebenen Projekte leben von der Zusammenarbeit von Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen, von den Initiativen freiwillig Engagierter und von der Kooperation mit anderen Gruppen aus der Zivilgesellschaftlich.

Eine konkrete Utopie für das 21. Jahrhundert nennt Jan Hendricks sein Buch „ Gemeinde als Herberge“: Er sieht Wesen und Auftrag der Gemeinde in einer dreifachen Begegnung: mit Gott, miteinander und mit der Gesellschaft. Kirche hat Begegnungsräume fast in jedem Wohnquartier –oft sind es die letzten öffentlichen Orte. Sie zu öffnen, damit viele sich einbringen können, ist ein wesentlicher Schritt. Wo wir sie nicht mehr brauchen und nicht mehr tragen können, kann es richtig sein, einen Verein mit anderen zu gründen, wie es bei Kirche findet Stadt in Gelsenkirchen geschehen ist. Wir müssen nicht mehr immer Gastgeber sein- wir können, um im Bild zu bleiben, auch als Servicekräfte mithelfen, damit das Leben gelingt.“ Gemeinden sind Agenturen für Gemeinschaft, schreibt Rosemarie Henel, die als AWO-Mitarbeiterin mit einer Kirchengemeinde zusammenarbeitet, sie seien ein „Circle of support“. Hier fänden sich Menschen, die bereit sind, genau hinzuschauen, wenn andere Unterstützung brauchen oder in Isolation geraten und ihre Kompetenzen einzubringen, wenn es darum geht, nachbarschaftliche Netze zu bilden. Vielen ist inzwischen klar, dass soziale Teilhabe nicht allein von Organisationen gewährleistet werden kann, sondern von Menschen gestaltet werden muss. Diese Entwicklung kommt der Kirche sehr entgegen und fordert sie zugleich heraus.

Die Diakoniedenkschrift der EKD, die 1998 zum 150-jährigen Jubiläum der Inneren Mission veröffentlicht wurde, benennt dabei drei wesentliche Herausforderungen. Es geht darum,

  • die Distanz zwischen Kirchengemeinden und Diakonischen Diensten überbrücken
  • die Kontakte zu Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Initiativen zu verbessern und deren Bedürfnisse besser wahrnehmen und
  • schließlich die Vernetzung mit außerkirchlichen Initiativen im Gemeinwesen bewusst zu suchen.

Gemeinwesenorientierung bedeutet für die Diakonie die Überwindung der Zielgruppenorientierung und Versäulung und die Kooperation mit anderen Trägern, während die Kirchengemeinden die Parochie, in der sie arbeiten, als Sozialraum neu entdecken müssen. Viele Gemeinden fühlen sich so unter Druck, dass sie vergessen haben, welches Sozialkapital sie einbringen können – an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen und Räumen. Angesichts des Verlusts an Mitgliedern und Finanzen igeln sich manche Gemeinde ein- sie verlieren ihre offene Ausstrahlung, büßen Professionalität ein, lassen Außenstehende und Interessierte nicht mehr an Entscheidungen partizipieren. Wo aber Kirche und Diakonie zusammenarbeiten, kann Diakonie das wunderbar kompensieren: sie hat größere Freiheitsspielräume, professionelle Dienstleistungen, oft mehr Unternehmensgeist. Eine Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD hat gezeigt: das Gelingen von Gemeinwesendiakonieprojekten hängt davon ab, beides zusammen zu bringen – Lebensweltorientierung und Professionalität, Sozialraum und Dienstleistung.

 

3. Die Gegenwart als Traumbild der Zukunft? Vom Mut, neue Wege zu gehen

120 Standorte haben sich im ökumenischen Projekt „ Kirche findet Stadt“ zusammen geschlossen.. Wer sie besucht, spürt Energie und Begeisterung und entdeckt Projekte mit Leuchtturmcharakter für unsere Kirche. Sie geben Orientierung, zeigen Wege in die Zukunft, aber sie werfen natürlich auch ein paar Schlaglichter auf die Hindernisse, mit denen wir kämpfen- zum Beispiel in der Quartierspflege oder in Mehrgenerationenhäusern.

  • Die Versäulung der sozialen Sicherungssysteme führt zu Doppelausgaben und Drehtüreffekten. Der wachsende Wettbewerb hat alte Netze und Bündnisse zerschlagen. Die Bildung von sozialen Großkonzernen erschwert es den Trägern, mit Kirchengemeinden und Ehrenamtlichen zusammen zu arbeiten, weil beide einer völlig unterschiedlichen Handlungslogik folgen. Dabei brauchen wir starke Bündnisse vor Ort, die Betroffenen und Angehörigen Wege zeigen.
  • Für die ausgebluteten Kommunen ist es kaum mehr möglich, die fragmentierten Leistungen aufeinander abzustimmen, für Kooperationen und Nachhaltigkeit zu sorgen. Viele sehen keine anderen Auswege, als den Kostenwettbewerb noch weiter zu treiben. Dabei brauchen wir starke Kommunen, um professionelle Träger und zivilgesellschaftliche Alternativen zu vernetzen. Wir brauchen ein gutes und nachhaltiges Quartiersmanagement. Tatsächlich leiden auch und gerade die starken Modellstandorte von „Kirche findet Stadt“ unter Projektfinanzierung und Zeitverträgen. Ein fester Haushaltstitel für diese zentrale Infrastrukturaufgabe könnte die älter werdenden Städte zukunftsfest machen.
  • Und auch Kirche und Diakonie müssen sich neu entdecken: Als starke Partner in der Stadt , als zentrale Plattformen für das ehrenamtliche Engagement, als Träger von Pflegediensten und Altenwohnungen müssen sie ihren eigenen Beitrag zum demographischen Wandel leisten- Haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende qualifizieren, die allgemeine Sozialarbeit wieder ausbauen, sich in der Entwicklung von Bürgerkommunen einbringen und Budgets für neue Initiativen schaffen. Ältere Menschen, aktive Großeltern, Ehrenamtliche über 60, aber auch Pflegebedürftige und pflegende Angehörige sind eine zentrale Zielgruppe der Kirche – sie gehören so selbstverständlich dazu, dass wir bislang zu wenig über Strategien und Konzepte nachdenken. Das muss sich ändern.

Utopien werden schnell als illusionär diskreditiert- die bloße Fortschreibung der Gegenwart dagegen erscheint uns realistisch. Dahinter steckt nichts anderes als ein Mangel an Phantasie. Ich denke an die Banken, die noch immer gute Finanzierungen für stationäre Altenhilfeeinrichtungen bieten- obwohl wir wissen, dass sich die Masse der Menschen angesichts künftiger Altersarmut solche Heimplätze nicht mehr leisten können, dass die Einnahmen von Pflegeversicherung und Kommunen dem auf Dauer nicht standhalten, und dass vor allem die professionellen Pflegekräfte fehlen. Das Pflegesetting der Zukunft kann nicht nur professionell und institutionell gedacht werden. Aber umgekehrt ist eine ambulante Quartiersarbeit, die im Wesentlichen von überlasteten Profis, Assistenzdiensten und Ehrenamtlichen getragen, auch keine Lösung. Weder im einen noch im anderen Fall geschieht Hilfe auf Augenhöhe. Wir brauchen eine bessere Verschränkung von professionellen und lebensweltlichen Hilfen, eine integrative Gesundheitsversorgung, vor allem aber auch eine Veränderung der Erwerbswelt und der Struktur unseres Sozialsystems. Es geht darum, eine wirkliche Vereinbarkeit von Beruf und Care-Aufgaben, von Erwerbsarbeit und Engagement zu gewährleisten. Väter und Mütter, Töchter und Ehepartner, Nachbarn und Freunde brauchen Zeit, für Erziehung, Pflege und Hilfeleistungen- Zeit, die aber nicht auf Kosten ihrer eigenen sozialen Absicherung gehen darf. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als eine Neuausrichtung der sozialen Sicherungssysteme.

Das allerdings sei eine Kulturrevolution, hat kürzlich jemand zu mir gesagt. Ob eine Utopie Wirklichkeit wird, das hängt letztlich davon ab, wir bereit sind, dafür einzustehen und ob wir Verbündete finden. Oft sind es die Träumer, die mit ihrem Einsatz Erneuerung möglich machen- so wie Martin Luther King, der 1967, ein Jahr vor seiner Ermordung, in der Riverside Church in New York sagte: „Ich muss meiner Überzeugung treu bleiben, mit allen Menschen zu den Kindern des lebendigen Gottes zu gehören. Und weil ich glaube, dass dem Vater besonders die Leidenden, Hilfslosen und Verachteten unter seinen Kindern am Herzen liegen, bin ich hier, um für sie zu sprechen.“ Das ist der Auftrag der Kirche – bis heute.

 

[1] Stichweh 2005, 179: „eine Leitunterscheidung der Gesellschaftstheorie“; Mayrhofer 2009, 84 spricht in Bezugnahme auf Luhmann von der „Funktion eines Supercodes des Gesellschaftsystems“ und Luhmann von einer „Primärdifferenzierung der Gesellschaft“ (ebd. zitiert). Antonis 2008 spricht von „Metacode“ und Luhmann 1997, 632 von Meta-Differenz.
[2] So Kronauer 2010b, 24 in seinem Beitrag: „Inklusion – Exklusion: Eine historische und begriffliche Annäherung an die soziale Frage der Gegenwart“. Bude 2008, 65 spricht davon, dass das Paradigma der Ausbeutung durch das der Ausgrenzung ersetzt wurde.
[3] Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Handeln, Stuttgart 1960.