Kindheit in Deutschland – ein Armutszeugnis?

Advent und Weihnachten ist die Zeit der Kinder. Wir erinnern uns an Maria, eine Frau von ganz unten, die sich selbst eine Magd nennt. Sie war nicht verheiratet, als sie mit Jesus schwanger wurde, und sie fürchtete sich vor dem, was kam. Und trotzdem hatte sie die Gewissheit, dass dieses Kind von Gott kam. Und sie nahm es an. Die Adventszeit lebt davon, dass Kinder ihren Platz bekommen und dass Hunrige satt werden. Wir kommen von Sankt Martin her und gehen auf Nikolaus zu, den Festtag des Heiligen, der auch den armen Kindern den Stiefel füllt. Wir freuen uns auf das Kind in der Krippe, das die Weisen anbeteten. Wir warten auf die Sternsinger und die Kinderkönige in Hamburg. Weihnachten ist für immer mit der Würde des Kindes verbunden – und mit der Hoffnung auf eine gerechten Welt. Einer Welt, In der jedes Kind das gleiche Recht auf Gesundheit und Erziehung, auf Spiel und Bildung hat, gleich ob es in einer armen oder wohlhabenden Familie geboren wurde. In der jedes Kind die gleiche Würde hat , gleich ob es jüdisch, christlich oder muslimisch ist.

„Jedes Kind hat ein Recht auf Fehler, auf Achtung, auf Versagen und auf Erziehung“ hat der polnische Arzt Janusz Korczak geschrieben, der einst ein jüdisches Waisenhaus in Warschau leitete und 1942 mit den Kindern ins Vernichtungslager nach Treblinka ging. Freiwillig, weil er seine Kinder in den schlimmsten Stunden nicht verlassen wollte. Er hat nicht nur Bücher über Pädagogik geschrieben, er war auch Kinderbuchautor. Eines seiner schönsten Bücher heißt : „König Hänschen der Erste“.

Das Zitat von Korczak steht als Motto über dem Buch: „Arme Kinder –reiches Land“, das Huberta von Voss kürzlich herausgegeben hat. Was sie da erzählt, nennt sie selbst „ein Armutszeugnis“. Sie erzählt von Kindern , die morgens hungrig zur Schule gehen und beim Klassenausflug zu Hause bleiben müssen, von Misshandlungen und Zwangsräumung im Kinderzimmer. Die Autorin hat Jugendliche besucht, die keinen anderen Weg sehen, als sich die Dröhnung zu geben oder auf der Straße zu leben. Sie berichtet von Kindern, die 100 Kilo wiegen, weil sie nicht haben, was sie wirklich satt macht– von Ohnmacht und Lethargie und von dem Gefühl, wie Treibgut zu sein. Huberta von Voss formuliert am Ende einen Traum: Dass alle Kinder, unabhängig von ihrer sozialen und nationalen Herkunft eine faire Chance bekommen, ihre Talente zu entdecken und zu entwickeln. Auch Maria, die Mutter Jesu – an die wir in diesen Adventstagen denken, hat einen solchen Traum: im Magnificat, dem ersten Adventslied, träumt sie von einer Zukunft, in der die Hungrigen satt werden und Reichtum und Armut ihre Bedeutung verlieren.

 

Kinderreichtum – Kinderarmut

2,6 Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut. Das ist nicht das Problem einer Randgruppe, wie wohl manche noch immer meinen – es geht uns alle an. Kinder, die auf der Straße leben , Kleinkriminelle, die noch gar nicht strafmündig sind, schreien es laut oder stumm heraus: sie haben keinen Halt gefunden in dieser Gesellschaft und keine Vorbilder unter uns. Die vielen Jugendliche, die ohne Schulabschluss keinen Ausbildungsplatz finden, müssen uns wachrütteln: Wie lange wollen wir es uns noch leisten, eine so große Zahl junger Menschen in die Transfersysteme gehen zu lassen, noch ehe sie etwas leisten konnten? Wie passt das zusammen mit der verbreiteten Klage darüber, dass Deutschland zu wenig Kinder hat, um auf Dauer die Wirtschaftskraft und damit das Wohlstandsniveau zu sichern? In den letzten Jahren hat das Familienministerium Programme aufgelegt, um diesen so genannten demographischen Wandel zu stoppen: das Kinderförderungsgesetz mit dem Ausbau der Tagesreinrichtungen, das Elterngeld für berufstätige Väter und Mütter. Und tatsächlich hat ein Wandel eingesetzt: die Einführung des Elterngelds hat Frauen geholfen, auf eine Berufskarriere zu setzen und sich trotzdem für ein Kind zu entscheiden. Die Frauenerwerbsquote liegt in Deutschland inzwischen bei 64%- Teilzeitbeschäftigungen eingerechnet. Das Elterngeld macht Vätern möglich, nicht nur der Erwerbsvater zu sein, sondern auch ein Erzieher. Die Situation von Alleinerziehenden ist allerdings noch immer schwierig, Bis heute sind ja die Regelzeiten von Tageseinrichtungen und Schulen oft nicht aufeinander abgestimmt, die öffentliche Infrastruktur ist hierzulande nicht so ausgebaut, dass eine Vollzeitbeschäftigung möglich ist. Das Kinderförderungsgesetz, die Programme für Ganztagsschulen sind aber doch ein Anfang. Mehr als wir über lange Zeit wahrhaben wollten, sind Familienpolitik, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik verschränkt. Gute Tageseinrichtungen können auch arbeitslosen Eltern einen beruflichen Wiedereinstieg ermöglichen. Das ist wichtig, denn für Ärmere, sprich vor allem für Arbeitslose, gibt es nach Einführung des Elterngeldes nur noch ein „Restelterngeld“ von 300 Euro, das auch nur für 12 Monate und nicht, wie das frühere Erziehungsgeld, für zwei Jahre. Der Aufbruch ist mit Kürzungen bei den Ärmsten und ihren Kindern verbunden.

Diesen Kindern ist Huberta von Voss nachgegangen. Sie hat die Arche in Berlin besucht und erzählt, wie dort einmal im Monat mit allen Kindern gefeiert wird, die Geburtstag hatten, weil ihre Eltern selbst das vergessen. Sie hat die Anlaufstellen der Tafeln besucht – 600 gibt es inzwischen in Deutschland, vor allem auch die Kindertafeln. Sie erzählt von Kindern, die bis mittags nichts zu essen haben, die ohne Unterwäsche in die Arche kommen und nicht zum Arzt gebracht werden, wenn ihnen der Eiter aus den Ohren läuft. Kinder, bei denen es am Nötigsten fehlt. Vor allem aber an Halt und Wurzeln in ihren Familien und an Träumen, die einen Menschen auf der Suche nach seinem Platz im Leben beflügeln können. 2, 6 Mio. Kinder haben Ende 2006 in Familien gelebt, die von Hartz IV leben mussten, hinzu kommen die Kinder aus Flüchtlings- und Asylfamilien- die Nationale Armutskonferenz spricht insgesamt von 3 Millionen. Ihre Chancen auf einen guten Schulabschluss sind deutlich geringer als die von Kindern aus der Mittel- und Oberschicht. Nur sechs von hundert Arbeiterkindern beginnen ein Hochschulstudium, während neunundvierzig von hundert Gymnasiasten aus einkommensstarken Familien eine Universität besuchen. Warum schaut offenbar niemand auf die Potenziale dieser Kinder? Warum wird nicht forciert eine Strategie verfolgt, die sich in der Schlagzeile zusammenfassen ließe: „Aus Sozialhilfeempfängern müssen Ingenieure werden?“, fragt Prof. Gerhard Wegner vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD.

Umgekehrt gilt nämlich: Wem es nicht gelingt, sich in möglichst früh gut zu qualifizieren, der kann unter heutigen Leistungsanforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft nicht mithalten; der ist vor allem nicht in der Lage, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Rund 64 Prozent alle Sozialhilfeempfänger haben keinen Schulabschluss oder sind Hauptschulabgänger. Auch die Realeinkommen der Geringverdiener sind, so eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, in den letzten 12 Jahren um 14% gesunken. 5,6 Millionen Beschäftigte arbeiten zur Zeit im Niedriglohnsektor. Eine große Zahl von ihnen ist auf zusätzliche Mittel aus dem SGB II angewiesen. Aber auch teilzeitbeschäftigte Mütter oder Väter sind Aufstocker und brauchen die Mittel vom Jobcenter. Erwerbslosigkeit und Kinderrreichtum sind die größten Risikofaktoren für Armut. Je mehr Kinder, je niedriger der Bildungsstand, je instabiler die Familie, desto höher die Gefahr, dass Mütter und Väter auch mit Einkommen an die Armutsgrenze geraten. Bei Familien mit zwei oder mehr Kindern reicht ein Durchschnittseinkommen (2007: 30.000 Euro) trotz Kindergeld nicht, um oberhalb des steuerlichen Existenzminimums leben zu können. Vor allem Alleinerziehende und Familien mit Migrationshintergrund weisen ein erhöhtes Armutsrisiko auf. Und dabei muss man wissen; ein Drittel der Kinder unter 6 Jahren kommt inzwischen aus Familien mit Migrationshintergrund. Rund ein Viertel dieser Familien ist von Armut betroffen. Und wie sich ein niedriger Bildungsstatus in Armut ausdrückt, so schlagen sich umgekehrt prekäre Verhältnisse Bildungsstatus nieder. Kinder türkischer Herkunft zu einem hohen Anteil in Hauptschulen vertreten.

 

Grundsicherung und Grundversorgung

Was muss geschehen, um den Kindern der Ärmsten dabei zu helfen, ihre Möglichkeiten zu entfalten und aufrecht zu gehen? Wir brauchen eine eigenständige, verlässliche Grundsicherung für Kinder. 60% des Sozialhilfe-Regelsatzes für ein Kind (also 211 Euro), 80% für einen Jugendlichen (also 281 Euro ) wie derzeit – das ist zu wenig. Mit 3,42€ pro Tag lässt sich ein Teenager kaum satt bekommen. In diesen Hartz-IV-Sätzen ist bislang kein Ansatz für Bildung enthalten. Der Besuch einer Gesamtschule oder eines Gymnasiums ist aber heute oft mit Zusatzkosten verbunden – nicht nur für Bücher und Mittagessen, auch für Computer und Kinobesuche. Wer gar als Hartz-IV-Empfänger seinem Kind Nachhilfe verschaffen will, wird ganz schnell an finanziellen Grenzen scheitern, es sei denn, er verfügt über zusätzliche Unterstützung von Großeltern oder Verwandten, die diese Aufgabe übernehmen. Seit der Veröffentlichung des Armuts- und Reichtumsbericht in diesem Sommer sind einige wichtige Schritte getan worden – die Initiative zur Erhöhung des Kindergelds, zusätzliche Mittel für ein Schulbedarfspaket zum Schuljahrsanfang führen in die richtige Richtung. Leider ist aber in den meisten Bundesländern noch immer keine Lernmittelfreiheit gegeben. Damit wird der Aufstieg von Kindern aus den unteren Einkommensgruppe strukturell erschwert.

Kinder, die in armen Familien aufwachsen, haben nicht nur weniger Zugang zu Bildung. Sie werden auch schlechter ernährt, sie leben in beengten Verhältnisse, in Wohnvierteln mit schlechter Infrastruktur, wo die Schwimmbäder geschlossen sind und Spritzen in den Parks rum liegen. Sie haben weniger Entfaltungsraum, sie haben weniger soziale Kontakte zu Gleichaltrigen und gehören seltener zu Gruppen wie Sportvereinen und Jugendverbänden. Solche Kinder sind durch Probleme in ihren Familien stärker psychisch belastet, aber schlechter gesundheitlich versorgt. Esstörungen, Bewegungsmangel, Übergewicht kommen häufiger vor. Ihre Eltern sind zumeist selbst so belastet, dass sie ihren Kindern weniger Unterstützung zur Bewältigung des Alltags und weniger Hilfe in Krisensituationen geben können. Nähe und Geborgenheit sind aber wichtige Voraussetzungen, damit Selbstvertrauen wachsen kann. So wird äußere Armut zur inneren Armut. Ein geringeres Selbstbewusstsein, geringere Frustationstoleranz, weniger Hoffnung, das Leben zu meistern, machen aus einer Niederlage ein Versagen. Wer immer wieder vor verschlossenen Türen steht, hört irgendwann auf, gegen die Wand zu laufen.

 

Jeder wird gebraucht.

In Deutschland hat ein Ausbildungsabschluss für den erfolgreichen Start ins Berufsleben und den Verbleib im ersten Arbeitsmarkt große Bedeutung. Je geringer die formale Bildungsqualifikation, desto schlechter die Position auf dem Arbeitsmarkt. Trotzdem verlassen acht bis zehn Prozent aller Schulabgänger die Schule ohne Schulabschluss. Ungefähr fünfzehn Prozent aller Jugendlichen bleiben ohne Ausbildung, bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind es sogar 49 Prozent. Weit über eine Million Jugendliche zwischen 20 und 29 Jahren haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Viele davon arbeiten heute im Niedriglohnbereich.

„Hoffnungslose Fälle können wir uns nicht erlauben“, hat der Präsident des finnischen Zentralamtes für Unterrichtswesen gesagt. Das bestechende an der Bildungsphilosophie des PISA-Siegers Finnland ist diese Überzeugung: „Keiner darf verloren gehen.“ Spätestens der demographische Wandel, die Überalterung oder besser, die Unterjüngung unserer Gesellschaft sollte uns bewusst machen, wie kostbar junge Menschen sind. Jede Schülerin und jeder Schüler muss so gefördert werden, dass sie zumindest einen mittleren Leistungsstandard erreichen. Eine gestufte Integration ist nötig, die sich an den Möglichkeiten der Kinder orientiert. Das gilt auch für lernschwache oder leicht behinderte Kinder, die hierzulande oft auf so genannte Förderschulen geschickt werden. In Finnland hat in den ersten Schuljahren keine Lehrkraft die Möglichkeit, schwächere Schüler an die nächst niedrigere Schule abzugeben.

Unser Bildungssystem ist zwar durchlässig, aber überwiegend nach unten. Auf einhundert Schüler und Schülerinnen, die absteigen, kommen höchstens elf, die aufsteigen. Beim Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen wird die Messlatte für Kinder aus benachteiligten Milieus fast um ein Drittel höher gelegt als für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Bei einer Untersuchung der Berliner-Humboldt-Universität waren Ende der 90er Jahre mehr als 13.000 Hamburger Kinder beim Übergang in die weiterführende Schule beobachtet worden. Das Ergebnis: Je höher die Ausbildung der Eltern, desto besser schnitten die Kinder ab. Lehrer beurteilten die Leistungen von Kindern aus bildungsarmen Elternhäusern schlechter Die Benachteiligung bildungsferner Kinder greift auch dann, wenn vergleichbare Leistungen erbracht werden und verhindert Empfehlungen zum Besuch der weiterführenden Schule. Nach einer anderen Untersuchung erhalten fast die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler nach der vierten Klasse falsche Schulempfehlungen (IGLU, Wilfried Bos). Deutschland ist Weltmeister im Aussortieren. „Die einen häufen Bildung an, die andern fallen raus“, sagt Eckart Klieme, einer der Autoren des Bildungsberichts. Einige sammeln Zeugnisse und Diplome, andere sammeln Niederlagen, schwänzen und verabschieden sich dauerhaft aus dem Klassenzimmer. Das ist eine Bankrotterklärung, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht Denn wer andere verloren gibt, wird selbst zum Verlierer. Wer an den Kindern spart, wird in Zukunft verarmen Jeder braucht das Recht auf einen Hauptschulabschluss. Und Schulen, deren Besuch bereits als so diskriminierend erlebt wird, dass er weitere Zugänge versperrt, müssen sich ändern. Nicht nur über die Hauptschule, auch über die deutschen Sonderschulen- oder Förderschulen muss diskutiert werden. Viel zu oft landen Kinder von Einwanderern nur deshalb auf Sonderschulen, weil sie noch nicht genügend Deutsch sprechen.

Kinder brauchen Ansprechpartner

Die unausgesprochenen Erwartungen an das, was die Kinder eigentlich mitbringen müssten, wenn die Schule beginnt – an Sprache und Kultur, an Spielen und Vorlesezeit, sollten endlich benannt werden. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich selbst helfen zu können, um Hilfe bitten zu können und sich selbst als wirksam erleben zu können. Wo Kinder Defizite mitbringen, da brauchen sie nämlich schon im Kindergarten Einzelförderung und kleine Gruppen. Jedes Kind eine Evaluation seiner persönlichen Lernfortschritte- beginnend mit dem vorschulischen Lernen. Dazu ist eine Bildungspartnerschaft nicht nur zwischen Eltern, Erziehern und Lehrern, sondern auch über die verschiedenen Schulstufen hinweg nötig. Nur in einem verlässlichen Netz ist auch sozial schwächeren Kindern zu helfen.

Kinder Ansprechpartner und Vorbilder, die ihnen etwas zutrauen und anvertrauen. Sie brauchen Orte, wo sie lernen, Verantwortung zu übernehmen, sich zu engagieren und sich für andere einzusetzen. Nicht zuletzt durch die Medien erleben Kinder und Jugendliche eine Vielfalt von Werteoptionen. Alles schein möglich, aber allgemeine Regeln fehlen. Problematisch wird das, wenn Eltern und Erzieher nicht mehr in der Lage sind, Regeln zu setzen, an denen man sich reiben kann. Familien, Vereine, Kirchengemeinden und Schulen müssen zu mehr Partnerschaftlichkeit finden und Kindern, die es schwerer haben, gemeinsam helfen, ihren Weg zu finden. Die Lebensgeschichten von Migrantenkindern, die sich gegen manche Widerstände schulisch und beruflich durchsetzen konnten, zeigen, dass Lehrer und Lehrerinnen, Nachbarn und andere Mentoren dabei eine wichtige Rolle spielen. Durchgängig werden diese Kinder nur eine Chance haben, wenn die Versäulung in unserem Bildungssystem überwunden wird und eine Ganztagsschule mit Mittagstisch und Nachmittagsangeboten eingeführt wird.

Ein besseres Bildungssystem ist ein Schritt in diese Richtung. Allein wird es die Armutsproblematik natürlich nicht lösen können. Die wirtschaftliche Zukunft bleibt abhängig von Arbeitsmärkten und damit von realistischen Beschäftigungsmöglichkeiten. Wenn schon im Schulalltag deutlich ist, dass Kinder nur wenige Chancen haben, überhaupt eine Lehrstelle zu erhalten und dann noch weniger einen angemessenen Arbeitsplatz, dann lässt die Leistungsmotivation schnell nach. Nach einer UNICEF-Untersuchung rechnen mehr als 30 Prozent der Industriestaaten in den entwickelten Ländern damit, dass sie nur einem gering bezahlten Job nachgehen werden. Das ist nicht so unrealistisch – wenn wir die Armuts- und Bildungslücke nicht schließen, wird unsere Gesellschaft schon bald 20 Prozent Menschen haben, die einfach abgehängt sind. Wo Arbeitsplätze fehlen oder wo sie so schlecht bezahlt, dass es sich eigentlich nicht lohnt, sich für sie anzustrengen, kann ein Bildungssystem allein nichts reparieren. Was Lehrer und Erzieher aber können, ist Menschen ihre Würde zurückgeben. Eine Seele geht zugrunde, wenn sie kein Ziel hat, hat der französische Philosoph Pascal einmal geschrieben. Wer Kinder einlädt zum Spielen, zum Lernen, zum Träumen, wer ihnen biblische Geschichten erzählt, mit ihnen Nikolaus und Sankt Martin feiert, der gibt ihnen ein Ziel und macht ihr Leben heller, wie düster die Wirklichkeit auch immer aussehen mag.

 

Heinrich und Jessica: Hamburgs wahres und geheimes Volksleben

Im Jahr 1832 erschien ein Buch unter dem Titel „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“. Der Autor war Johann Hinrich Wichern, der Erfinder des Adventskranzes. Hamburgs geheimes Volksleben – das war die Armut, von der damals keiner wissen wollte. Wichern schrieb über Unterernährung, Wohnungsnot und mangelnde Hygiene, über Bildungsmangel, Kindesvernachlässigung und Gewalt. Er erzählte von Heinrich und August, die unterernährt und ohne Wäsche, klappernd vor Frost mit neun Personen auf zwei Zimmern wohnten. Wichern, der bekannte Sozialreformer, wurde selbst als ältestes von sieben Geschwistern in einfachen Verhältnissen geboren; er wusste, wovon er sprach. Seine diakonische Arbeit begann er als Oberlehrer in einer Sonntagsschule in Sankt Georg. Das ist das Milieu, aus dem seine Berichte stammten. Diesen Kindern, die damals während der Woche arbeiten mussten, brachte er neben dem Religionsunterricht auch Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Um seine Schüler zu verstehen, machte er Hausbesuche. Sein Buch erzählt von Arbeitslosigkeit und Alkoholismus bei den Erwachsenen, Hunger und Krankheit bei den Kindern – und es ist erschreckend, zu sehen, dass manche Berichte von Huberta von Voss ganz ähnliche Zustände schildern. Trotz Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, trotz statistischer Daten und Bildzeitungsschlagzeilen.

Heinrich und August von heute heißen Kevin, Jessica und Lea Sophie. Eine wachsende Zahl von Kindern musste in den letzten Jahren wegen des Verdachts auf Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch in die Obhut der Jugendämter genommen werden. Um sie zu schützen, entstehen nun neue gemeinwesenorientierte Frühwarnsysteme. Ärzte, Hebammen und Familienpflegerinnen sollen enger mit Krippen, Tageseinrichtungen oder Beratungsstellen zusammen arbeiten. Auch Kirche und Diakonie engagieren sich und bringen ihre Erfahrungen ein. Die Arche“-Häuser von Bernd Siggelkow sind die Rettungshäuser unserer Zeit, in der Kinder viel von dem finden, das ihren inneren und äußeren Hunger stillt. Ein warmes Mittagessen, aber auch Raum zum Reden, Spielen und Schulaufgaben machen. Schon Wichern wusste: Kinder brauchen beständige, liebevolle Beziehungen. um emotionale Sicherheit zu gewinnen und lernen zu können. Sie brauchen Räume, in denen sie sich sicher und respektiert fühlen können, damit sie ihre eigenen Entdeckungen machen können. Kinder sind auf stabile Gemeinschaften angewiesen, in denen man das Erlebte gemeinsam teilt. Sie brauchen das Vertrauen in die Zukunft, um Herausforderungen anzunehmen und Mut zum Handeln zu finden. Und eine Gemeinschaft, in der sie entdecken können, dass sie nützlich sind.

Das gilt nicht nur für die Kinder in der Arche – es gilt auch für die, die mitten unter uns leben. In gewisser Weise braucht jeder Ort und jeder Stadtteil eine Arche. Ein Familienzentrum, eine Schule, die wie ein Community-Center arbeitet und den Zugang zur Bildung für sozial schwächere Familien erleichtert. Damit Eltern arbeiten können, gerade auch allein erziehende Mütter, müssen Tageseinrichtungen, Schulen und Berufszeiten wirklich miteinander vereinbar sein. Auch Kirchengemeinden können dazu beitragen, wenn ihr Kindergarten zum Familienzentrum wird, wenn die Kinder- und Jugendarbeit und die Familienbildungsstätte Fördermöglichkeiten anbieten- von Sport- und Kunst Nachhilfeunterricht bis zu Paten für sozial schwache Familien. Gerade in sozialen Brennpunkten müssen die Mittel, die durch den demographischen Wandel frei werden, genutzt werden, um Krippen zu schaffen, die Gruppengrößen zu verkleinern und eine besondere Förderung zu ermöglichen. Manche Einrichtungen schaffen heute schon zusätzliche Kleiderkammern und Spielzeugläden. In anderen allerdings wird immer noch Essensgeld zusätzlich zum Kindergartenbeitrag erhoben-. Das erhöht die Zugangsschwelle ,ja, es hat dazu geführt, dass Kinder abgemeldet werden, weil dieser Betrag vom Sozialamt nicht mehr zusätzlich zu erhalten ist sondern in der Gesamtpauschale enthalten sein soll.

 

Was wir brauchen, liegt offen zu Tage

Dass Wichern sein Buch über Hamburgs geheimes und wahres Volksleben publizierte, war damals ein Durchbruch. Auch ihm verdanken wir, dass Armut kein Tabu mehr ist. Kirchen und Wohlfahrtsverbänden haben mit dafür gesorgt, dass es inzwischen regelmäßige Reichtums- und Armutsberichte gibt. Mehrere Kirchen und Diakonische Werke haben in den letzten Jahren Fonds zur Armutsbekämpfung aufgelegt auch die Hannoversche Landeskirche. Mit Projekten wie Kinderkleiderkammern, Initiativen für gesundes Mittagessen, Schultüten oder Lernmittelläden haben sie wesentlich dazu beigetragen, ein präventives Netz zu schaffen, noch bevor Rechtsansprüche durchgesetzt werden konnten. Gemeinden sind aber vor allem Orte der Begegnung zwischen Generationen und Gesellschaftsschichten, mit Schulen und Unternehmen. Mit ihren Tageseinrichtungen und Gemeindehäusern sind sie Kontaktplätze, an denen neue Initiativen entstehen können. Das Ziel ist klar : wir brauchen eine Gesellschaft, in der die Würde jedes Kindes geachtet wird. „Eine gerechte Gesellschaft muss so gestaltet sein, dass möglichst viele Menschen in der Lage sind, ihre Begabungen sowohl zu erkennen und auszubilden, um sie produktiv für sich selbst und andere einzusetzen“, heißt es in der EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“.

Von den politischen Schritten dahin habe ich in diesem Vortrag gesprochen: wir brauchen ein durchlässigeres Schulsystem, das Aufstieg ermöglicht, das Recht auf einen Hauptschulabschluss, mehr Ganztagsschulen und bessere Vereinbarkeit, eine verlässliche Grundsicherung für jedes Kind. Vor allem aber brauchen wir tragende Netze und Gemeinschaften, die Kindern Halt und Regeln geben.„ Keiner darf verloren gehen“, das geht alle Institutionen in einer Kommune an, das geht uns alle an. In wenigen Tagen feiern wir wieder Sankt Martin. In der rheinischen Kleinstadt, in der ich länger gelebt habe, waren alle Fenster erleuchtet, wo der Martinszug herkam. Jeder stellt sein Licht aus und jeder sorgte mit dafür, dass jedes Kind eine Tüte bekam. Und was das beste war: alle hatten dabei das Gefühl von Heimat.