„Die stille Altersrevolution: Zum Wandel von Lebens- und Arbeitswelt.“

Zum Auftakt des Europäischen Jahres des aktiven Alterns 2012.

„In diesem Jahr fehlte mir die Zeit zum Geschichtenschreiben“, schrieb mir vergangenes Jahr ein Freund, der sonst zu Weihnachten ein Märchen herausgab. Das letzte Jahr war für ihn eine Zeit der Veränderung und des Wandels. Mit 60 Jahren hat er seine verantwortliche Position verlassen – er wollte noch einmal etwas Neues beginnen. Jetzt engagiert er sich für die Zusammenarbeit der Ostseeanrainerstaaten und beteiligt sich beim Aufbau des Hanse-Parlaments in St. Petersburg. „ Es ist ein wunderbares Erlebnis“, schreibt er, wie lebendig die historischen Wurzeln sind und mit welchem unerschütterlichen Vertrauen Menschen aus den unterschiedlichen Kulturkreisen der zehn Ostseeländer an der Verwirklichung dieses Traums mitarbeiten.“ Sein Brief sprüht vor Unternehmenslust; er ist ein echter „Silver-Ager“[2]. Man spürt, dass er endlich seine Träume verwirklichen, Visionen erden kann. Die Zeit seiner Weihnachtsgeschichten ist vorbei. Aber in den alljährlichen  Märchen findet sich vielleicht der Schlüssel zu diesem Lebenstraum.

Viele träumen davon, die dritte Lebensphase anders und sinnvoller zu nutzen. Ich kenne eine Ärztin, die mit Mitte 50 nach Afrika ging. Sie wollte dort ausbauen, was sie früher in Ferieneinsätzen bei Ärzte ohne Grenzen erlebt hatte. In Ostafrika half sie, ein Krankenhaus nach westlichen Standards aufzubauen, was Labor und Operationstechnik angeht. Zugleich arbeitete sie viel mit den Frauen der Basisgesundheitsdienste zusammen. Meine Freundin blieb verschont von Diagnose- relevanten -Berechnungsmodulen und Rationalisierung im Gesundheitswesen. Sie lernte ein ganz anderes Verständnis von Krankheit und Heilung kennen. In charismatischen Gemeinden erlebte sie die Kraft der Gebete .Auf ihrer homepage fand ich einen ermutigenden Satz: „Alter ist eine einmalige und neue Form der Freiheit, die verstanden und gelebt werden will.“

Gesunde 70-jährige sind heute kaum weniger leistungsfähig als gesunde 55-jährige. Und hinzu kommt: 73 Prozent der Befragten ab 60 Jahren fühlen sich jünger, als sie es vom chronologischen Alter her sind- und zwar im Durchschnitt 5,5 Jahre.[3] Schaukelstuhl und Kreuzworträtsel sind da längst keine verlockende Ruhestandsoption mehr. Kein Wunder, dass viele auch das Wort Ruhestand nicht besonders mögen. Es klingt nach Altenteil und Müdigkeit. Wahrscheinlich reden deshalb manche vom „Unruhestand.“ Ein alter Pfarrer grüßt sogar in jedem seiner Briefe mit einem „ Gesegnete Unruhe“. Und in einem Interview mit Jörg Zink las ich vor kurzem, er könne sich auch unter der himmlischen Ruhe nichts vorstellen- denn die Begegnung mit Gott würde uns sicher hellwach machen. Und auch hier auf Erden gilt:„ Wir wollen nicht gespaßt werden, wir wollen beteiligt werden und uns einmischen können“, so Henning Scherf in einem Interview.

Heute verbinden die meisten Menschen jenseits der 50 das dritte Lebensalter mit der Hoffnung auf einen neuen Aufbruch. „ Im Alter neu werden können“, hat deshalb der Rat der EKD die neue Altersdenkschrift genannt. [4]Die Altersbilder haben sich in den letzten Jahrzehnten rasant geändert; man könnte sagen: Das Alter veraltet! Denn bis in die 60er Jahre hat man den Ruhestand ja tatsächlich als den großen Feierabend begriffen, er war Erholung von einem aktiven Arbeitsleben. In den 70ern dann, der großen Zeit des Wohlfahrtsstaats, wurde die Rente dann zur Belohnung für ein aktives Leben – zurzeit von Freizeit und Reisen. Heute aber ist die nachberufliche Phase eine Zeit ganz neuer Gestaltungsmöglichkeiten. Und viele verbinden damit auch die Chance, sich auf andere Weise – eben in Freiheit- in Arbeitswelt und Gesellschaft einzubringen. Sie suchen Möglichkeiten, ihren Alltag weiterhin sinnvoll zu strukturieren, sie möchten auch weiterhin ihre Kompetenz und Kreativität einbringen, sie wollen gebraucht werden. „ Älter werden wir später“, heißt das Buch der Schauspielerin Iris Berben, das zu ihrem 50. Geburtstag erschien. Und das stimmt:  Statistisch gesehen haben wir nach Erreichen des 60. Lebensjahrs eine hohe Wahrscheinlichkeit noch 25 Jahre zu leben- und ein Vierteljahrhundert Dauerurlaub, das tut keinem gut. Und Alt sein, das beginnt nach unseren Befragungen für die meisten erst mit 80 Jahren, wenn die Phase der so genannten „Hochaltrigkeit“; das 4. Lebensalter beginnt. Wer sich nicht mehr selbst versorgen kann, der gilt in diesem Sinne als alt. Die meisten, die jünger sind, schieben das noch einmal beiseite, wenn das 3. Lebensalter beginnt. Das europäische Jahr des aktiven Alterns und der Solidarität  zwischen den Generationen, das gerade begonnen hat, kann daran anknüpfen.

 

Einige Daten zur Bevölkerungsentwicklung

Wie in den meisten Industrieländern ist auch bei uns die Lebenserwartung im letzten Jahrhundert um mehr als 30 Jahre gestiegen. Noch nie in der Geschichte der Menschheit sind Menschen im Durchschnitt bei so guter Gesundheit so alt geworden, wie dies heute in den wohlhabenden Ländern  möglich ist. Im Schnitt zehn gesunde Lebensjahre haben wir dazu gewonnen. Und der Trend hält an. Heute beträgt das Durchschnittsalter in Deutschland. 42 Jahre, im Jahr 2050 dürfte es bei 50 Jahren liegen. Fast 40 Prozent  werden dann 60 und älter sein, und die Zahl der über 80-jährigen wird sich verdreifacht haben- von knapp vier auf zehn Millionen. Zugleich allerdings nimmt der Anteil der unter 20-jährigen ab. Er betrug 1998 noch 21,6% und sinkt bis 2050 auf Werte zwischen 15. und 18 Prozent. Grund dafür ist die niedrige Geburtenrate, die in Deutschland bei 1,4 Kindern pro Frau liegt. Manche sprechen inzwischen von einer Reproduktionskrise oder von einer Bevölkerungsimplosion. Die Bevölkerung wird bis 2050 auf 70 Millionen schrumpfen, ohne Zuwanderung erheblich mehr. Die deutsche Bevölkerung wird älter und schrumpft

Deutschland als Hochlohnland mit hohem Wissenskapital und einer ältere werdenden Bevölkerung tritt in Konkurrenz mit Ländern, die zur Zeit noch sehr junge Bevölkerungen haben und stark in ihr Humanvermögen investieren – von der arabischen Welt bis nach Ostasien. Der Soziologe Franz Xaver Kaufmann hat in diesem Zusammenhang von einer erheblichen Investitionslücke ins Humankapital gesprochen. Kein Wunder, dass Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Startchancen der jungen Generation und Bildungsgerechtigkeit aber auch die Fragen der Generationengerechtigkeit von der Rente bis 67 bis zur Pflegeversicherung  zu Schlüsselthemen geworden sind.

Trotzdem darf das Thema alternde Gesellschaft nicht vor allem unter dem Gesichtspunkt der Belastung gesehen werden. Andreas Kruse, der Vorsitzende der Kommission für den Altenbericht der Bundesregierung, erinnert immer wieder daran,  dass ältere Menschen mit ihren ideellen, mit ihren zeitlichen, vielfach auch mit ihren materiellen Ressourcen einen großen Beitrag zur Unterstützung der jüngeren Generationen leisten. Die Bereitschaft, etwas für Kinder und Enkel zu tun, ist ungebrochen. .Jährlich 3, 5 Milliarden Arbeitsstunden investieren die 60 – 85 –jährigen für die Hilfe in der Familie und die Betreuung der Enkel. Und 30 Prozent der Eltern lassen ihren erwachsenen Kindern regelmäßig Geld zukommen- demgegenüber bekommen nur 3 Prozent der Alten Geld von den Kindern.[5]

Wenn öffentlich immer nur  über Rentenformeln, Rentenalter und die Zukunft der Sicherungssysteme gesprochen wird – also über das, was Ältere „kosten“ –  nicht aber über das , was Älter geben können, dann verschärfen wir gesellschaftliche Konflikte, dann reden wir den Krieg der Generationen erst herbei.

 

Arbeit in einer älter werdenden Bevölkerung

Regelmäßig wird uns vorgerechnet, dass immer weniger aktive Arbeitnehmer müssen immer mehr Rentner „finanzieren“, wird uns regelmäßig vorgerechnet. Deswegen gibt es nicht nur in Deutschland heftige Debatten über das Renteneintrittsalter. Von Horst Seehofer bis zu den Gewerkschaften und der SPD haben zu Beginn des Jahres wieder verschiedene Akteure Protest gegen die Rente mit 67 eingelegt mit dem Argument, dass kaum jemand diese Altersgrenze faktisch erreicht, sodass es sich  im Ergebnis um eine Rentenkürzung handele. Das stimmt, zugleich aber frage ich mich, ob die Vorstellungen von Arbeit und vom Alter, die dahinter stehen, nicht überholt sind. Wer wahrnimmt, wie viele Ältere es auch genießen, weiterhin in Aufgaben eingebunden zu sein, muss sich fragen, wie unsere Arbeitswelt besser auf die unterschiedlichen Lebensabschnitte reagieren kann, statt Menschen weiterhin in starre Konzepte von Zeitstrukturen und Lebensaltern zu zwingen.

Die höchste Lebensdauer, das zeigen Versicherungsstatistiken, haben Beamte, Ministerialräte und Universitätsprofessoren- und bei den Frauen evangelische Pfarrerswitwen. Es gibt nur eine Gruppe, die sie alle übertrifft: Nonnen und Diakonissen. Die sind nämlich ein statistisches Wunder – sie fallen komplett aus den  Sterbetafeln heraus, sie werden eben einfach zu alt. Woran das liegt, weiß keiner so genau  Ich bin überzeugt, es hat etwas mit dem Lebensstil der Schwestern zu tun. Die täglichen Morgen- und Abendandachten, das Generationen- übergreifende Wohnen und der gemeinsame Mittagstisch, die Sonntagsruhe- das alles gibt dem Alltag einen ganz spezifischen Rhythmus. Aber so wichtig diese Ruhepausen im Lauf des Arbeitslebens waren, so wichtig umgekehrt das Engagement im so genannten  Feierabend der Schwestern: Ich kenne keine Feierabend-Schwester, die nicht, so lange es geht, Aufgaben für die Gemeinschaft übernommen hätte. Gemeinschaft über die Generationen, Verantwortung für das Gemeinwesen, Zeit zum Innehalten und Engagement, das ist vielleicht das Geheimnis für ein waches und verantwortliches Leben.[6]

Arbeit ist  Selbstverwirklichung und kann Anerkennung bringen, sie verbindet uns mit anderen Menschen. Viele fürchten sich vor dem Verlust an sozialen Netzen und Ansehen, die mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verbunden ist. Die Philosophin Hanna Arendt hat unsere westlichen Gesellschaften als  „Arbeitsgesellschaften“ bezeichnet. Ihr Buch „ Vita activa“, das von diesem Gedanken ausgeht, ist 1960 erschienen. Heute scheint es so, als gewänne Arbeit, vor allem Erwerbsarbeit, noch immer mehr an Bedeutung. Arbeitsfähig zu bleiben, die eigene Arbeitskraft gut verkaufen können, ist ein wesentliches Ziel- von den Hartz-Gesetzen bis zur europäischen Arbeitsmarktpolitik. „Emploayability“ heißt darum das neue Zauberwort in der aktiven Arbeitsmarktpolitik.

Dabei wächst für die meisten Menschen nicht nur der Druck, Arbeit anzunehmen sondern auch der Druck in der Arbeit. Höhere Stückzahlen werden erwartet, mehr Kundenbesuche, wachsende Fallzahlen, mehr gefahrene Kilometer, kürzere Liegezeiten, mehr Umsätze. Das gilt für die Industrie wie für die Sozialwirtschaft. Und auch die Dauer der Tages- und Wochenarbeitszeit steigt wieder. Wir erleben eine Ausweitung der Betriebs- und Ladenöffnungszeiten bis hin zum Rund-um-die-Uhr-Betrieb in Fabriken, in Büros oder Call-Centern und natürlich auch in Krankenhäusern und Altenheimen. Und die Debatte um den arbeitsfreien Sonntag ist wohl längst nicht ausgestanden. Die elektronische Vernetzung verkürzt die Reaktionszeiten und „ just in time“ wird zur Erwartungshaltung nicht nur in der Logistik. Der moderne Arbeitnehmer soll flexibel, mobil und jederzeit verfügbar sein.

Zeitkompatibilität und Zeitsouveränität der Beschäftigen sind wesentliche Themen geworden. Zusammenfassend kann man sagen, dass dabei vier Zeitdimensionen[7] eine Rolle spielen:

  • Die Extensität der Arbeit, also die Dauer der Tages- und Wochenarbeitszeit
  • Die Intensität der Arbeit durch Beschleunigung der Prozesse, aber auch durch Projektarbeit und Zielvereinbarungen
  • Die Synchronizität der Arbeit  durch die Möglichkeiten der elektronischen Vernetzung
  • Und schließlich die Flexibilität der Arbeit

Und keine Frage: globaler Wettbewerb und technologischer Fortschritt  treiben die Flexibilisierung weiter voran. Das alles macht es älteren Arbeitnehmern nicht leicht, die Leistung zu erbringen, die von ihnen erwartet wird. Die Mobilität zum Beispiel nimmt mit dem Alter deutlich ab. Tatsächlich gingen bis in die 90er Jahre viele mit 55 aus dem Job. Deswegen wurde versucht, diese Lücke mit dem Instrument der Altersteilzeit politisch zu schließen. Inzwischen allerdings hat sich der Trend gedreht. Das mag auch damit zusammen hängen, das jetzt bereits die erste Nachkriegsgeneration in die Rente geht; sie ist um ein Drittel kleiner. Und ich habe Hoffnung, dass wir lernen, die modernen diskontinuierlichen Arbeitsbiographien als Chance zu nutzen, um möglichst lange gerne zu arbeiten. Noch nie waren Menschen so kompetent und selbständig wie heute, noch nie gab es auch so viele Möglichkeiten, sich selbst zu vernetzen und gut zu organisieren. Damit kann ein Zuwachs an Gestaltungsfähigkeit und auch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie einher gehen. Ich hoffe auf eine Arbeitsgesellschaft, die Raum bietet für Erwerbsarbeit, aber auch für die so genannte Care-und Sorge-Arbeit, die nicht mehr nur an die Frauen delegiert werden kann – schon deshalb nicht, weil der europäische Arbeitsmarkt mit seinen Employability-Konzepten davon ausgeht, ,dass jeder und jede für die eigene soziale Sicherung sorgt.

„Unser Leben währet siebzig Jahre und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig, und was daran köstlich scheint, das ist Mühe und Arbeit gewesen“; heißt es in der Bibel. Im Vergleich zu der Zeit, als dieser Psalm entstand, hat sich unsere Wirklichkeit sehr geändert: Die Lebenserwartung einer gut ausgebildeten Frau beträgt inzwischen durchschnittlich 85 Jahre. Rechnet man Ausbildung und Studium bis zum 25zigsten Lebensjahr und den Eintritt ins Rentenalter mit 63 Jahren, so bleiben insgesamt 47 Jahre erwerbsfrei. Allerdings nicht arbeitsfrei. Sie hat Kinder erzogen und ihre Hausaufgaben begleitet, sie hat den Haushalt geführt und Angehörige gepflegt, ihre Eltern, vielleicht zuletzt auch ihren Mann. Erwerbsarbeit war dabei nur eine mehr oder weniger große Episode. Dies  galt lange Zeit vor allem für Frauen- es gilt aber heute auch für Männer. Ausbildungszeiten, Praktika, Arbeitslosigkeit, Erziehungszeiten und Pflegezeiten – unsere Arbeitsbiographien werden diskontinuierlicher. Das statistische Bundesamt geht heute schon davon aus, dass die Zahl der informellen Arbeitsstunden die der Erwerbsarbeitsstunden übersteigt.

Wenn wir Wirtschaftlichkeit und Wohlstand in der Balance halten wollen, muss unsere Arbeitswelt vielfältiger werden, die Belegschaften älter, weiblicher und bunter. Und im Ergebnis brauchen wir eine Veränderung der Arbeitsstrukturen. Nötig sind eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit mit Erziehung und Pflege, eine neue Rhythmisierung der Erwerbsbiographien,  dazu alternsgerechte Bildungs – und Arbeitszeitangebote, ein besserer Wissenstransfer zwischen den Generationen und ein gutes betriebliches Gesundheitsmanagement. Age-Management ist eine Herausforderung auch für Arbeitgeber und letztlich für die Politik. In einer Studie des Wiesbadener Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung haben immerhin 47 Prozent der Befragten angegeben, sie würden nach Erreichen des Rentenalters gern weiterarbeiten- bei deutlich reduzierter Arbeitszeit.  Es ist zu wenig über das Renteneintrittsalter zu diskutieren- es geht um eine neue Flexibilität in den Erwerbsbiographien.

 

 

Potenziale des Alters

„Viel, allzu viel Leben, das auch hätte gelebt werden können, bleibt vielleicht in den Rumpelkammern verstaubter Erinnerungen liegen, manchmal sind es glühende Kohlen unter der Asche.“, hat der Psychoanalytiker Karl Gustav Jung geschrieben. Denn die Erreichung eines sozialen Ziels, des beruflichen Aufstiegs zum Beispiel, erfolgt eben immer auch auf Kosten der Totalität der Persönlichkeit- wir funktionieren, passen uns an , übernehmen eine Rolle. Wenn wir aus der Erwerbsarbeit ausschieden, können wir endlich den sozialen Panzer ablegen und andere Aspekte der eigenen Person zum Zuge kommen lassen. Älterwerden hält noch einmal neue Entwicklungs- und Veränderungschancen bereit. Was liegen geblieben ist, vergessen oder auch verdrängt wurde – kann nun noch einmal aufgegriffen, angepackt, integriert werden. Jetzt kommt es nicht mehr darauf an, sich mit den Rollen zu identifizieren, die uns andere aufdrücken, jetzt können wir wirklich Person werden, wir selbst werden.

Zur Arbeit des Lebens gehört nicht nur Erwerbsarbeit, sondern eben auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten und mit der eigenen Endlichkeit und schließlich das Engagement für andere. Um diese Aufgabe zu verstehen, brauchen wir einen erweiterten Produktivitätsbegriff, sagt Andreas Kruse. In der Auseinandersetzung mit Verlusten, Scheitern und Endlichkeit, können neue Kräfte der Solidarität und Mitverantwortung wachsen. Es geht darum, das eigene Vermögen, die Erfahrungen der eigenen Generation einzusetzen und weiterzugeben. damit wir selbst und andere Sinn und ein lohnendes Leben finden.

„Wenn Menschen meiner Generation mich fragen, was sie denn  weitergeben sollen, dann sage ich ihnen dies“, hat der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau einmal auf dem Kirchentag gesagt:

„Sagt euren Kindern, dass wir auf den Schultern unserer Mütter und Väter stehen,

sagt ihnen, dass ohne Kenntnis unserer Geschichte und unserer Tradition eine menschliche Zukunft nicht gebaut werden kann,

sagt ihnen, dass wir ohne innere Heimat keine Reisen unternehmen können

und sagt ihnen zu guter Letzt, dass die stete Bereitschaft zum Aufbruch die einzige Form ist, die unsere Existenz zwischen dem Leben hier und dem Leben dort wirklich ernst nimmt“.

Die stete Bereitschaft zum Aufbruch. Es gibt eine Menge Aufbrüche im 3. Lebensalter. Die neuen Älteren, die jungen Alten, übernehmen Verantwortung. Sie suchen Selbstbestätigung und Kontakte jenseits des Berufs. Sie sind kaum noch daran beteiligt, wirtschaftliches Kapital aufzubauen, aber sie mehren das soziale Kapital. Als Freiwillige in Sozial- und Diakoniestationen leisten sie Nachbarschaftshilfe, bei „Rent a Grant“ arbeiten sie als Leihomas, in Mehrgenerationenhäusern geben sie den Kindern ein Stück Kontinuität in wechselnden Alltagsmustern. Der Chefredakteur von „Psychologie heute“; Heiko Ernst, spricht in diesem Zusammenhang von Generativität. Dabei geht es nicht nur um die eigenen Kinder. sondern um die Zukunft der nächsten Generationen. Um die Zukunft unserer Städte und  Dörfer. „Generativität“;  sagt Heiko Ernst, „ ist unser Zukunftssinn. Wir richten das Denken über die eigene Existenz hinaus… Generativität ist die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, für andere da zu sein, sein Wissen und seine Erfahrungen in die Gesellschaft einzubringen und etwas weiter zu geben. .Generativität gibt Antwort auf zwei Fragen: Wie geht es mit mir weiter? Und: wie geht es mit meinem Umfeld weiter? „ Generativität, meint Ernst, könnte die Schlüsseltugend für das 21. Jahrhundert werden. Nach uns die Sintflut sei gerade kein Lebensmotto für eine älter werdende Gesellschaft.

Gerade die Älteren tragen entscheidend dazu bei, dass die Wohnquartiere wirklich lebendig und lebenswert bleiben Und da gibt es einiges zu tun. Die familiären Netze dünnen sich aus: Jedes dritte Paar zwischen 20 und 40 lebt in einer Pendelbeziehung. Die mobile Berufswelt hat ihren Preis. Waren es vor 10 Jahren noch 74 Prozent der Bevölkerung, die sagten, sie könnten sich in Notlagen auf Familie und Freunde verlassen, so sind es heute nur noch 64 Prozent. Ältere Menschen aber sind stärker ortsgebunden. Die Generation der 55- 69-jährigen engagiert sich gerade sozialen Ehrenamt und im lokalen Bürgerengagement besonders stark. In Vereinen und Verbänden, wo junge Leute immer schwerer Anschluss finden, aber zunehmend auch in Bürgerinitiativen und Genossenschaften. Übrigens spielt dabei die Kirche eine große Rolle:  Freiwillige über 65 engagieren sich stärker als in anderen Bereichen in Kirche und Religion – genau sind es 22% gegenüber 13% aus allen Bereichen. Die Rolle der „ Ältesten“ hat in der Kirche eine lange Tradition. Früher wurden Kirchenvorsteher so genannt. Heute kehrt die Rolle wieder in den vielen Mentorenaufgaben, die in unserer Gesellschaft immer wichtiger werden. Ausbildungsmentoren, Lesepaten, ehrenamtliche Betreuer- Kulturpaten und Stadtteilmütter.. Die Liste ist lang, es gibt unglaublich viele spannende Projekte…

Zum Beispiel die Organisation der Pflegebegleiter, die für hauswirtschaftliche und nachbarschaftliche Dienste sorgen. Oder die Jobpaten, die schwer vermittelbaren Jugendlichen durch die Ausbildung bis in ein festes Arbeitsverhältnis begleiten. Oder die Kindertafel „ Brotzeit für Kinder“: Ehrenamtlich Engagierte verändern unsere Quartiere genauso, wie es mehr und mehr auch Unternehmen mit CSR-Programmen und Corporate Volunteering und Senior Expert Service Programmen können, die den Übergang von der Erwerbstätigkeit in das bürgerschaftliche Engagement gestalten helfen. Engagiert und gleitend in den Ruhestand ist die Devise. Es geht eben nicht mehr um eine Schwelle, sondern um einen Prozess, um einen Brückenschlag in die Tätigkeitsgesellschaft.

 

 

Ein differenziertes Bild ist nötig

Soviel Freiheit, soviel Aufbruch, „ Im Alter neu werden können“ – ist das nicht Pfeifen im Wald? Älter werden wir später, aber eines Tages werden wir alt, oder? Es darf tatsächlich nicht übersehen werden, dass es auch eine große Gruppe gibt, die auf die Sorge anderer angewiesen sind. Die Gefahr, dass angesichts eines neuen, aktivitäts- und entwicklungsorientierten Bildes vom Alter die ärmeren, kranken und gebrechlichen diskriminiert werden ist durchaus gegeben.

So wichtig es ist, Mut zum aktiven Altern zu machen- wir brauchen eine differenzierte Sicht des Alters zu der Wachstum und Verletzlichkeit, Entwicklung und Vergänglichkeit in gleicher Weise gehören. Viele Menschen bleiben tatsächlich, was ihr biologisches Alter angeht, lange jünger, körperlich leistungsfähiger und sozial aktiv– andere können dieses Ideal nie erreichen. Und die soziale Ungleichheit im Alter nimmt in dem Maße zu, wie die Individualisierung, die Pluralität und die gesellschaftliche Spreizung wachsen. Die 50- 70-jährigen sind heute die relativ wohlhabendste Altersgruppe in Deutschland. 54 Prozent besitzen Wohneigentum oder Vermögensrücklagen. Von den anderen 46 Prozent allerdings lebt die Hälfte von relativ niedrigen Einkommen. Und das hat entscheidend mit der beruflichen Situation zu tun. Viele Menschen in dieser Arbeitsgruppe sind Arbeiter, aber auch gering fügig Beschäftigte und kleine Selbständige oder eben alleinstehende Frauen mit kleiner Rente.

Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland wird mit der Zahl der Hochkantigen weiter wachsen. Auch die Beziehungsbedürftigkeit zu pflegender Menschen wird wachsen. Denn wer in der nachfolgenden Generation keine Angehörigen hat, wird möglicherweise einsam alt. Schon heute leben 41,3 % der 70 bis 85 Jahre alten Menschen in Einpersonenhaushalten.[8] Ihre Möglichkeiten, bei Bedarf auf informelle Netze zurückzugreifen, sind sehr begrenzt. Dadurch wachsen die Anforderungen an die Pflege  in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. Tatsächlich sind Gesundheitsdienstleistungen schon heute der größte Jobmotor, gerade auch für Frauen.

Obwohl bereits jetzt ein Neuntel der Erwerbsbevölkerung in Gesundheits-, Heil- und Pflegeberufen tätig ist, hat Meinhard Miegel vor einigen Jahren vorgerechnet, dass sich der Anteil in den kommenden dreißig Jahren verdoppeln müsse. Angesichts der demographischen Entwicklung wird das allerdings nicht mehr allein durch einheimische Kräfte zu gewährleisten sein. Bis zu einem Drittel Migrantinnen und Migranten arbeiten bereits heute auch in unseren Pflegeeinrichtungen. Und die häusliche Pflege wird in hohem Maße von privaten Haushaltshilfen und Pflegekräften aus Osteuropa gestützt. Wenn es nicht gelingt, das Gesundheits- und vor allem das Pflegesystem neu zu organisieren ,könnte es in den nächsten Jahrzehnten angesichts der Zahl der alten und pflegebedürftigen Menschen zum Kollaps der Einrichtungen kommen. Denn die Zahl der Leistungsempfänger in der Sozialen Pflegeversicherung wird zwischen 2000 und 2040 mindestens von 1,86 Mio. auf 2,98 Mio, also um 61. %. steigen.

Das Pflegesetting der Zukunft kann deshalb nicht nur professionell und institutionell gedacht werden. Es muss aus einer guten Kooperation zwischen Pflegefachkräften, Angehörigen und Freiwilligen bestehen.[9] Deshalb müssen die notwendigen haushaltsnahen Dienstleistungen und Pflegedienste quartiernah vorgehalten und professionelle und lebensweltliche Hilfen müssen verschränkt werden. Die zeitweilige  Freistellung Erwerbstätiger für Pflegeaufgaben in der Familie ist deshalb ein erster, wichtiger Schritt in diese Richtung. Damit ist noch einmal das Thema Wandel der Arbeitswelt angesprochen. Genauso wichtig ist aber die Entwicklung von Wohnungen und Infrastruktur, von Quartieren und Stadtteilen, von  Verkehr und Läden am Ort. Wo nicht mehr regelmäßig Busse fahren, wo der tägliche Bedarf nicht mehr zu bekommen ist, wo man sich nicht mehr selbst versorgen kann, ohne mobil zu sein, bleibt oft nur noch das Heim. In ihrem Buch „vita aktiva“, das ich am Anfang schon zitiert habe, betont Hannah Arendt, (1960)[10] betont, wie wichtig es für jeden Menschen ist, sich mit anderen Menschen auszutauschen und am Leben teilzuhaben. Das gilt auch für pflegebedürftige Menschen. Das wichtigste ist der Zugang zum öffentlichen Raum. Kein Mensch darf aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden.

 

 

Auf zu neuen Ufern

Erinnern Sie sich an die Diakonissen, von denen ich eingangs erzählt habe? Die ältesten von ihnen, die auf Hilfe und Pflege angewiesen waren, lebten in so genannten Feierabendhäusern. Das Konzept glich dem von heutigen Mehrgenerationenhäusern: offene Wohngemeinschaften mit der Möglichkeit, sich selbst zu versorgen und ambulante Pflege zu bekommen. Viele kamen dorthin zu Besuch, holten sich Rat, hören Geschichten. „ Feierabendschwestern“.

„Schönen Feierabend“, ruft mir gelegentlich jemand nach, wenn ich abends das Büro verlasse. Wenn ich das höre denke ich – je nach Gemütsverfassung – an einen Kinobesuch, ein  Glas Wein im Freundeskreis oder eine heiße Badewanne. Zugegeben, meist bleibt das Illusion. ich habe nicht immer Freizeit, wenn ich nach Hause gehe – oft tausche ich nur den einen Schreibtisch mit dem anderen. Aber die Minuten, in denen ich die Arbeit im Büro aus der Hand lege und den Computer herunterfahre, markieren eine Schwelle, und wenn ich mich ausstemple beginnt eine andere Zeit. Feierabend – das klingt nach Freiheit und Selbstbestimmung .Und das kleine Hochgefühl, das damit verbunden ist, koste ich gern ein bisschen aus.

.„ Meine Sehnsucht nach Ausruhen und Rückzug ist noch immer groß“; schrieb  mir dieses Jahr ein Freund. Er hat vor einiger Zeit seine Frau verloren und war auch beruflich etwas angeschlagen. Sich nicht- einmischen, nicht mehr mitmischen wollen. Groß, riesengroß sind aber meine Augen im Blick auf ein unverhofftes Glück; ich bin Großvater geworden, Quasi-Großvater bei der Tochter meiner Lebensgefährtin. Welch ein unerwartetes , wunderbares Geschenk. „ Was wird im Alter mehr“, hat Lothar Stiegler auf seiner Internetplattform seniors4success gefragt. 16oo Antworten gingen ein. 1600 Antworten, die bestätigen, dass die meisten älteren Menschen zufrieden sind. Befragte über 60 bezeichnen sich in der absoluten Mehrheit als sehr zufrieden- sie erreichen mehr als 7,5 von 10 Punkten auf einer entsprechenden Skala. Und ihre Antworten machen  in jeder Hinsicht Mut. Was wird also im Alter mehr? „ Wissen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Gesundheitsbewusstsein. Erfahrung. Weisheit. Unabhängigkeit. Das Zeitbudget.“

Machen wir was draus! Ich wünsche Ihnen ein erfolgreiches und gesegnetes neues Jahr.“

 

Hinweis: Roland Krüger/ Loring Sittler: „Wir brauchen Euch –Wie sich die Generation 50 plus engagieren und verwirklichen kann.“  Murmann 2011

Petra- Angela Ahrens, „Uns geht’s gut – Generation 60 plus: Religiosität und kirchliche Bindung“

Blin Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Die demographische Lage der Nation, Was freiwilliges Engagement für die Religionen leistet“, März 2011

Henning von Vieregge; Der Ruhestand kommt später- „ Wie Manager das Beste aus den silbernen Jahren machen“, Frankfurter Allgemeine Buch, 2012

 

 

[1] Den Titel „ Die stille Altersrevolution habe ich entliehen aus einem Untertitel des Buches „ Wir brauchen Euch!“ Von Roland Krüger und Loring Sittler, Murmann 2011

[2] Vgl. zum Beispiel Henning von Vieregge, der gerade ein Buch zum Thema mit vielen guten Beispielen geschrieben hat: „ Der Ruhestand kommt später! Wie Manager das Beste aus den silbernen Jahren machen.“; FAZ, 2011

[3] So eine Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD

[4] „Im Alter neu werden können“; Gütersloh, 2010

[5] Martin Kohli

[6] Vgl. auch die „ Nonnenstudie von David Snowdon

[7] Hier schließe ich mich Jürgen Rinderspacher, SI, an.

[8] Zahlen aus: Thomas von Winter: Demographischer Wandel und Pflegebedürftigkeit, in Thomas Klie u.a.: Entwicklungslinien im Gesundheits- und Pflegewesen, Frankfurt am Main, 2003

[9] Beispiele dafür hat das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD i2007 n der Dokumentation des Projekts „ Das Ethos fürsorglicher Pflege“ dargestellt

[10] Arendt, H. (1960). Vita activa oder vom tätigen Handeln. Stuttgart: Kohlhammer.