Auf dem Weg in eine neue Sozialkultur

Überlegungen zur Transformation der Wohlfahrtsgesellschaft

 

1. Auf der Suche nach dem Ölzweig

Wann haben Sie zuletzt aus tiefster Überzeugung heraus geliebt, was Sie tun? Kompromisslos, begeistert, enthusiastisch? Wann haben Sie das letzte Mal dieses Funkeln in den Augen eines Kollegen gesehen? Das fragen Anja Förster und Peter Kreuz in ihrem Buch: „ Hört auf zu arbeiten![1], eine Anstiftung zu tun, was wirklich zählt“. Dabei geht es: nicht um die vielbeschworene Work-Life-Balance, sondern eine ausgeglichene Energiebilanz; eine Arbeit, die Freude und Sinn macht, die in sich lohnt und unserer Berufung entspricht. Vielleicht ist Ihnen ja auch aufgefallen, dass die Frage nach der eigenen Berufung wieder wichtig geworden ist. In einer Welt, in der wir die Jobs und Positionen, die Wohnorte, Familien und Freundeskreise oft mehrfach im Leben wechseln, fragen sich viele, was der rote Faden ihres Lebens ist, welche unverwechselbaren Stärken sie mitbringen, wofür sie gebraucht werden. Sich diesen Fragen hier in Kaiserswerth zu stellen, hat einen besonderen Reiz- schließlich ist dies der Ort, an dem unzählige Diakonissen ihre Berufung entdecken – an dem aber vielleicht genauso viele an diesem Anspruch scheiterten. Kein Wunder also, dass die Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte – um Säkularisierung und Professionalisierung, um Ökonomisierung und die neoliberale Wende hier besonders spürbar waren.

Denn es ist keine Frage: die großen gesellschaftlichen Trends schlagen sich auch in den sozialen Unternehmen nieder. Und genauso wie Unternehmen in schwankenden Märkten passen auch die Einzelnen ihre Lebensplanung den Umständen an, schreibt Markus Väth in seinem Buch über die Arbeitswelt der Zukunft. Wer nur einen Zeit- oder Werkvertrag bekommt, nicht mehr mit einem festen Einkommen rechnen kann, stellt alles auf den Prüfstand was Menschen bindet: Haus, Wohnort und Familienplanung. Wo Zielerreichung und Abteilungsbudgets dauernd verglichen werden, zählt am Ende Konkurrenz mehr als Kooperation. Wo das zur Verfügung stehende Fachwissen explosionsartig zunimmt, wird Erfahrung wird durch Innovation entwertet und angesichts der wachsenden Mobilität, der realen wie der virtuellen, bedroht die schiere Zahl der Lebens- und Arbeitsbeziehungen die Dauer der Bindungen. Unser Leben droht in einzelne, aneinander gereihte Projekte zu zerfallen: den Job, den Wohnort, den Lebensabschnittspartner. Vielleicht stehen Familie und Freundschaft gerade deshalb so hoch im Kurs, weil wir spüren, wie viel Illusion in unserer Vorstellung von Autonomie und Machbarkeit steckt, wie viel Kälte in der Funktionalisierung, wie wenig Nachhaltigkeit in der bloßen Marktlogik.

Seit vielen Jahren identifizieren wir diakonische Fachlichkeit mit professioneller Qualität und Distanz. Haltung war gefragt, über Motivation und Ethik wurde reflektiert – aber so traditionsbeladene Begriffe wie Berufung oder diakonischer Auftrag waren tabu. Seit aber auf den Professionalisierungsschub der 60er-70er Jahre die Ökonomisierung der 80er und 90er folgte, seit der Taylorismus in Krankenhaus und Pflegeheime eingezogen ist und der Durchlauf der Patienten und Bewohner immer schneller wird, seit für Klienten wie Mitarbeitende die Zahl der Kontakte stetig zunimmt, die Teams sich laufend verändern, die Personalplanung immer am Limit steht, wird spürbar: Professionalität allein schützt nicht vor Ausbrennen und Qualitätsverlust. Es braucht eine neue Verständigung über Werte und politische Rahmenbedingungen. Eine Besinnung auf die Wurzeln der eigenen Arbeit und eine neue Suche nach Wegen in die Zukunft.

Wer einen ärztlichen oder Pflegeberuf wählt, wer Psychologie oder Pädagogik studiert, will leben, wovon er überzeugt ist, will bei sich selbst nicht vernachlässigen, was anderen nachweislich in ihrer Entwicklung hilft: Selbstfürsorge und Achtsamkeit, Respekt und Zusammenarbeit sind wichtige Grundlagen dieser Berufe. Wo sie gefährdet sind, wo die Resonanz auf den eigenen Einsatz fehlt, wächst die Unzufriedenheit. Für eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts, unter dem Titel „Führung macht den Unterschied“, wurden knapp 3000 Fragebögen versandt, etwa ein Drittel kam zurück und konnten ausgewertet werden. Dabei zeigte sich knapp die Hälfte der Befragten mit Entlohnung und Anerkennung ihrer Leistung unzufrieden; 80 Prozent klagten über Zeitdruck – während umgekehrt für 69 Prozent die Zufriedenheit über die vielfältigen Aufgaben und vor allem die sozialen Beziehungen zu den Kollegen ganz oben stand.. Das Wohl der Patientinnen und Patienten, ein gutes Team, ein sinnstiftende Tradition und Selbstverwirklichung – in dieser Reihenfolge – sind nach wie vor hohe Werte. Die Gefahr, dass Vorstände und Geschäftsführungen sich auf dieses spirituelle und gemeinschaftliche Selbstverständnis verlassen, statt gemeinsam um bessere politische und ökonomische Rahmenbedingungen zu kämpfen, ist nicht von der Hand zu weisen. Aus diesem Grunde haben verschiedene Mitarbeitervertretungen in der Diakonie die Mitarbeit an der Studie verweigert. Es scheint, als säßen wir mitten im Umbruch zwischen den Stühlen: Hier die Berufungsfalle mit ihren Gefahren der Selbstausbeutung- sie wurde wohl nirgendwo so gründlich reflektiert wie gerade hier in Kaiserswerth- und dort die Dienstleistungsfalle – mit der Gefahr, die eigenen Werte an eine ökonomische Logik zu verlieren, ohne jedoch angemessen zu verdienen. Wer Wege in die Zukunft sucht, darf die Schattenseiten und unerledigten Aufträge unserer diakonischen Geschichte nicht vergessen- aber das darf nicht daran hindern, die Energien nach vorn zu stellen, die wir ebenfalls einzubringen haben.

„Auf der Suche nach dem Ölzweig! habe ich dieses Kapitel genannt- und ich dachte an die Taube, die Noah aus der Arche fliegen ließ, um zu schauen, ob das Wasser zurückging, ob irgendwo schon trockenes Land sichtbar würde. Diese Taube mit dem Ölzweig war das alte Bild der Diakonisse – es ist das Bild einer Zukunftsagentin.

 

2. Alles auf Anfang

Die neuzeitliche Diakonie beginnt mit einer Vielfalt von Vereinen und Initiativen aus Kirche und Gesellschaft. Mit bürgerschaftlichem Engagement und Sponsoren aus den Unternehmen Die Gründergeneration suchte nach Antworten auf die Herausforderungen der ersten Globalisierungswelle: das wachsende Proletariat der Industriearbeiter in den Städten, Armut und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, überforderte Familien, Vernachlässigung von Kindern und Pflegebedürftigen. Wichern und die Fliedners, Amalie Sieveking und Bodelschwingh, Kolping und Ketteler sahen genau hin, sie suchten nach den Ursachen, reisten in andere Länder, um zu verstehen und neue Initiativen zu entdecken – denn für sie stand außer Zweifel, dass das Elend, das sie sahen, eine Anfrage an ihr Christsein war. ja, dass Gott selbst ihnen in den Kindern, den Kranken und Gefangenen begegnete, so wie es im Gleichnis vom großen Weltgericht erzählt wird. So entstanden die Hospitalkirchen wie in Kaiserswerth, neue Wohnquartiere und Ausbildungsstätten wie in Hamburg-St. Georg, Kleinkinderschulen wie in Düsseldorf, Gefangenenfürsorgevereine wie in Berlin und das Mutterhaus hier in Kaiserswerth.

Als Theodor und Friederike Fliedner die Diakonissenanstalt gründeten, konnten sie nicht wissen, dass aus der kleinen Schwesterngruppe eine weltweite Bewegung werden würde. Ihr Konzept war genial, weil es eine Lösung für drei große Nöte der damaligen Zeit bot: Fliedner entwickelte professionelle Hilfen zur Erziehung und Pflege, er bot unverheirateten jungen Frauen die Chance einer Ausbildung und sinnvollen Betätigung, und er schuf eine Gemeinschaft, die für diese Frauen zur Ersatzfamilie auf Dauer oder jedenfalls auf Zeit werden konnte. Das Mutterhaus war Lebenshilfe für die Kranken, aber auch für die Schwestern, denen es berufliche Perspektiven bot. Es ging um die Erfahrung, gebraucht zu werden, einen Platz zu haben, eben berufen zu sein. Eine Erfahrung, nach der sich heute wieder viele Menschen sehnen- Berufsträger wie Hartz-IV-Empfänger, Frührentner wie Jugendliche ohne Schulabschluss und die vielen, die nicht mehr mithalten können in der beschleunigten Arbeitswelt – die Mütter kleiner Kinder, Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke. All die Abgehängten, die das Gefühl haben, auf sie käme es nicht mehr an. Die schlecht bezahlten Tagelöhner. Die modernen Arbeitssklaven, von der Globalisierung über die Kontinente gekarrt. Ja, tatsächlich gleichen die Herausforderungen der weltweiten Globalisierung denen des 19. Jahrhunderts und manche Probleme, die wir längst überwunden glaubten, kehren in neuen Gewand zurück.

Gewiss, aus den diakonischen Aufbrüchen des letzten Jahrhunderts ist längst ein Sozialstaat geworden. Erziehungs- und Pflegeleistungen werden aus Steuern und Sozialversicherungen finanziert, die Rechte der Einzelnen gegenüber Kranken- Renten- und Unfallversicherung sind weit ausgebaut und die professionellen Standards sind von den Weltanschauungen unabhängig. Ob aber die Struktur dieses Wohlfahrtsstaats krisenfest ist- angesichts der wachsenden Staatsverschuldung, des demographischen Wandels, veränderter Geschlechterrollen und Familienkonstellationen- das steht noch dahin. Viele haben jedenfalls das Gefühl, dass die unterschiedlichen Zweige der Sozialversicherungen zu Verschiebebahnhöfen geworden sind, bei denen es eher darum geht, die Auszahlungen zu begrenzen, während man gleichzeitig grundlegende Veränderungen scheut und betriebsblind alte Pfade ausbaut.

Wohlfahrt und Lebensqualität werden wir nur erhalten können, wenn wir eine neue Kultur der Achtsamkeit (aus ökologischer Verantwortung) mit einer Kultur der Teilhabe (als demokratische Verantwortung) sowie mit einer Kultur der Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen (Zukunftsverantwortung) kombinieren, heißt es im Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für eine nachhaltige Entwicklung bei der Bundesregierung. Von einem neuen Gesellschaftsvertrag ist in diesem Zusammenhang die Rede – als Antwort auf die großen Umbrüche, die wir erleben. Aber viele vertrauen den großen Gesellschaftsentwürfen nicht mehr. Stabilität und Sicherheit scheinen den meisten wichtiger als Perspektiven für eine bedrohte Welt. Manche sprechen schon vom neuen Biedermeier, in dem nur noch das kleine Glück zählt. Vor lauter Individualisierung und Spezialisierung, vor lauter Effizienzdenken und Effizienzsteigerung habe man den roten Faden verloren, sowohl individuell als gesellschaftlich, sagt Stefan Grünewald vom Institut Rheingold., es fehle die Resonanz, die erst Sinn gebe, das gemeinsame Projekt, das Zukunft erschließe, Bindungskräfte gingen verloren- und das wirke beängstigend.

Keine Frage: die soziale Struktur unserer Gesellschaft ist im Umbruch- und viele spüren das, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Dabei geht es um mehr als um die fiskalische Krise der sozialen Sicherungssysteme angesichts einer globalisierten Wirtschaft. Zwar wirken sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse, unterbrochene Erwerbsbiografien und Teilzeitbeschäftigungen auf die Stabilität der Sozialsysteme aus – aber der demographische Wandel und die Veränderung von Familien und Geschlechterrollen reichen tiefer: sie verändern das Design unseres Zusammenlebens grundlegend. Die alte Rollenaufteilung, nach der die erwerbstätigen Männer das Geld für diesen Sozialstaat erarbeiten, während Frauen sich in Familie, Nachbarschaft und Gemeinde unentgeltlich fürs Soziale engagieren, trägt nicht mehr. Und die traditionelle Ordnung des Sozialstaats in Deutschland, nach der vor allem die Verbänden und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, auskömmlich finanziert, dafür zuständig waren, soziales Handeln professionell zu gestalten, ist auch längst Geschichte. Auch das alte Rezept, durch mehr Wirtschaftswachstum zu mehr Verteilung zu kommen, greift kaum noch- auch wenn wir im Blick auf die Arbeitslosigkeit und die Lage der jungen Generation im Süden gerade einen neuen europäischen Sozial- und Wachstumspakt geschlossen haben. Es steht zu befürchten, dass die Staatsschuldenkrise in vielen Ländern Europas die schleichende Sozialstaatskrise verschärfen wird. Und auch hierzulande, im wohl stabilsten Land Europas, gelingt es kaum, die drängendsten Fragen anzufassen, vor denen wir stehen: die Zukunft der Pflege, eine gerechte Entlohnung der Care-Berufe wie der Sorgeleistungen in Familien, eine Mindestsicherung im Alter, die ihren Namen verdient , Tageseinrichtungen und Ganztagsschulen mit durchgängiger pädagogischer Qualität und eine Reform der Kommunalfinanzen, die den wachsenden Aufgaben gerecht wird. Nein, die eben erwähnte WBGU-Kommission hat Recht und wir wissen es: Wir stehen auf der Schwelle zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel der Wohlfahrtsgesellschaft in Richtung auf einen neuen Begriff von Generationengerechtigkeit, Beteiligungsgerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

 

3. Partnerschaft statt Wohltaten

Unser Selbstbewusstsein verbindet sich mit der Erfahrung, etwas beitragen zu können zum Ganzen. Die Philosophin Martha Nussbaum rückt deshalb ihrem Konzept der Gerechtigkeit die Fähigkeiten jedes einzelnen in den Mittelpunkt. Dazu gehört die Fähigkeit, das eigene Denken, eine eigene Lebensperspektive zu entwickeln. Deshalb brauchen alle Menschen Angebote zur Bildung und Ausbildung. Genauso wichtig ist die Fähigkeit, sich selbst zu versorgen, auf die eigene Gesundheit zu achten, sich die eigene Wohnung zum Heim zu machen- in einem Heim ist das schwer. Es gehört zum Menschsein, Bindungen aufzubauen, zu Menschen und zu Dingen- zu lieben, zu trauern, Dankbarkeit und Zorn zu empfinden, sich zugehörig zu fühlen und sich zu engagieren. Das alles brauchen wir, um Selbstachtung zu empfinden.

Hilfesysteme müssen die Fähigkeiten unterstützen, die jeder einzelne mitbringt. Sie dürfen sie nicht schwächen. Sie dürfen nicht entmündigen. Von diesem Impuls lebte Ende der 60-er Jahre die Auflösung der großen Heime der Jugendhilfe zu kleinen Familiengruppen, das trieb die Gemeindepsychiatriebewegung in den 70ern und die Hospizbewegung in den 80ern voran, und es führt seit mehr als 15 Jahren zur Ambulantisierung der Behindertenhilfe und zur Quartiersarbeit in der Altenhilfe. Gleich, ob es um Menschen mit Behinderung oder um Sterbende geht: immer kommt es darauf an, die Selbstbestimmung wie die tragenden Netzwerke zu stärken. Es geht darum, Menschen aus den Einrichtungen zurück zu holen in die Stadtteile und Gemeinden. Dahin, wo sie sich unter allen Generationen bewegen können. Im gesellschaftlichen Ringen um Inklusion zeigt sich der Wunsch nach einer neuen Partnerschaft auf Augenhöhe, nach einer Gerechtigkeit, die keinen ausgrenzt. Aber es scheint, als sei dieses Ziel längst nicht mehr selbstverständlich. Immer öfter ist inzwischen von sozialen „ Wohltaten“ die Rede, so, als ließen sich die einen herab, um andere mitzunehmen.

Im Sozialstaat bundesrepublikanischer Prägung hat jeder, der hilfebedürftig ist, einen Rechtsanspruch auf Hilfe. Dieses hoch professionalisierte Sozialsystem hat wie die soziale Marktwirtschaft, Tarifpartnerschaft und Mitbestimmung in der gesamten Nachkriegszeit und bis weit in die 70er Jahre zur Stabilität unseres Landes beigetragen. Seit einiger Zeit aber zeigt sich: auch, wer einen Rechtsanspruch wahrnimmt, bleibt „Hilfeempfänger“. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass inzwischen von „Kunden“ sozialer Dienste gesprochen wird. Da das Geld nämlich in der Mehrzahl der Fälle von den Kostentrrägern in Sozialversicherungen oderKommunen, nicht aber von den Betroffenen selbst kommt, richtet sich das Augenmerk der Leistungserbringer nicht selten zunächst auf deren Ansprüche und die gesetzten Standards. Dabei ist für die Sozialversicherungen ist die Leistungskraft der Versicherten genauso zentral oder zentraler als die Bedürftigkeit der Leistungsempfänger.

So geht mit unserem gut entwickelten Hilfesystem zugleich eine gesellschaftliche Spaltung einher: es ist die Spaltung zwischen Steuerzahlern und Versicherten auf der einen, Transfer- und Leistungsempfängern auf der anderen. Auf der einen Seite die erwerbstätige Bevölkerung, die für das Bruttoinlandsprodukt, für Steuern und die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme sorgt und ein Interesse an niedrigen Beiträgen hat, auf der anderen Seite diejenigen, die den Sozialetat beanspruchen, weil sie auf Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen sind. Hier die erwerbstätigen Männer, aus deren Erwerbsleistungen die Sozialversicherungen bezahlt werden, dort die Frauen, die unentgeltlich für das soziale Miteinander sorgten, Kinder erzogen und Kranke pflegen. Solange Familien in diesem Sinne als Erwerbs- und Fürsorgegemeinschaft funktionierten ganz offenbar ein Erfolgsmodell.

Aber bereits in der ersten Phase der Industrialisierung zerbrachen Familien unter den neuen Erwartungen der Arbeitswelt und der wachsenden Armut. Damals entstanden die Brüder- und Schwesternschaften als Wahlfamilien und Bildungsorte, als Erfahrungsräume für neue Berufswege von Frauen wie für gesellschaftliche Fürsorge. Hier in der weiblichen Diakonie wurden Ausbildungen in Erziehung und Pflege entwickelt, in den Diakonengemeinschaften neue Berufe im Handwerk, in Armen- und Gefängnisfürsorge. Die Mutter- und Bruderhäuser, die Rettungshäuser und Vereine der Inneren Mission mit ihren starken ehrenamtlichen Vorständen und ihren Brücken in Politik und Wirtschaft bildeten bald schon eine Blaupause für viele andere Wohlfahrtsträger – von der AWO bis noch zum DPWV.

Freilich – auch diese Erfolgsgeschichte hat ihre Schattenseiten. Eine davon ist die Geschlechterhierarchie, die Diakonie und Caritas bis heute prägt und dazu geführt hat, dass Pflege und Erziehung weit unter Wert bezahlt werden. Dazu gehört die zunehmende Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln und Zielvorgaben, die das eigene Profil oft vergessen ließ und damit die Subsidiarität unterhölte. Das hat sich auch nicht verändert, seit der Sozialmarkt die traditionellen Mechanismen des Sozialstaats abgelöst und die alten Erstattungs- und Abstimmungsmuster der Freien Wohlfahrtspflege aufgebrochen hat. Jetzt zählt der Wettbewerb Dienstleistungen werden wie Produkte angeboten, verglichen und verkauft. Und Nutzer, Kassen und Kommunen arbeiten mit dem günstigsten, kompetentesten und effektivsten Anbieter im jeweiligen Sektor zusammen. Personalkosten, Löhne und Qualität sind immer mehr unter Druck geraten.

War es nun ein Schritt nach vorn, Menschen mit Behinderungen , Pflege- oder Eingliederungsansprüchen als Vertragspartner zu verstehen, die gegebenenfalls mit eigenem Budget und mit Beratungsleistungen selbst in der Lage sind, sich die notwendigen Module für Wohnen und Arbeit, für Freizeit und Pflege zusammen zu stellen? Ja und Nein. Ja, weil wenigstens dem Anspruch nach das Gefälle zwischen Helfer und Hilfebedürftigen aufgehoben ist. Weil damit der Sozialpaternalismus, der auch die Diakonie geprägt hat, an sein Ende gekommen ist – jene Fürsorge, die immer schon weiß, was der Hilfebedürftige braucht. Nein, weil damit Individualismus und Wettbewerb in einen Lebensbereich eingedrungen sind, der von anderen Paradigmen geprägt war – von Zuwendung, Gemeinschaft und Engagement. Weil mit der Ökonomisierung nun auch Effektivität und Effizienz, und das heißt ein neues Verständnis von Zeit und Erfolg in die Sozialbranche eingezogen sind. Die zunehmende Spaltung der Mitarbeiterschaften und hochqualifizierte und prekär Beschäftigte und die Spaltung der Hilfeempfänge in solche, in die der investive Sozialstaat investiert und solche, für die es nicht mehr lohnt, sind die logische Konsequenz dieser Situation.

Wie kann es gelingen, die Freiheit und Würde der Einzelnen zu stärken, ohne die Lebenszusammenhänge weiter zu zerstören, von denen wir alle abhängen? Wie kann es gelingen, Verschiedenheit zu akzeptieren, ohne dass am Ende nur Gleichgültigkeit wächst? Wie integrieren wir Menschen mit Behinderungen, Kinder und Jugendliche oder pflegebedürftige Ältere in eine Gesellschaft, in der die Erwerbstätigen bis an die Grenze ihrer Kräfte belastet sind und flexibel sein müssen? Angesichts des demographischen Wandels wächst der Bedarf an sozialen, pädagogischen, gesundheitlichen Dienstleistungen- von den Krippenplätzen bis zur Pflege, von den Ganztagsschulen bis zu den Hauswirtschaftsdiensten. Zugleich aber stoßen Professionalisierung und Ökonomisierung personell wie finanziell an ihre Grenzen. Ohne Veränderungen in den Stadtteilen, ohne ein neues Selbstverständnis von Nachbarschaften und Vereinen, von Schulen und Kirchengemeinden, ohne das Engagement der Zivilgesellschaft wird der notwendige Wandel zu einer inklusiven Gesellschaft nicht möglich sein.

Dabei kann Inklusion nur gelingen, wenn die sozialstaatlichen Ansprüche der Einzelnen gesichert sind. Und das bedeutet: vom bundesweiten Teilhabegesetz bis zur Quartiersbezogenheit der Leistungen für Pflegebedürftige braucht es einen Paradigmenwechsel in der Gesetzgebung. Derzeit allerdings stehen den wachsenden Bedarfen gedeckelte Mittel gegenüber. Fast alle Gemeinwesenprojekte von Tafeln bis zu Amtslotsen, von Mentorinnen und Mentoren bis zur Nachbarschaftshilfe leben vom Engagement einzelner Initiativen. Ganz wie zu Beginn der diakonischen Bewegung sind es Sponsoren, die die Entwicklung voran treiben. Bürgerinnen und Bürger werden zu Anwälten deren, die selbst keine Kraft mehr haben, ihre Stimme zu erheben. Kirche und Diakonie können dabei eine wichtige Rolle übernehmen, wenn sie zusammenarbeiten; sie haben die Chance, Quartiersarbeit und professionelle Fachlichkeit, bürgerschaftliches Engagement und soziale Beruflichkeit, Basisarbeit und politische Reflexion zu verknüpfen.

 

4. Schritte zu einer neuen Sozialkultur

Aber gibt es sie überhaupt, die vielbeschworene „ diakonische Unternehmenskultur“? Und unterscheiden sich unsere Häuser von denen der Lebenshilfe oder des DRK? Manchmal bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich denke dabei an eine Pflegetradition, die ihre spirituellen Wurzeln wie ihre Ohnmachtserfahrungen kennt und reflektiert hat. Ich denke an Offenheit gegenüber anderen religiösen Traditionen und an ökumenische Netzwerke. An eine spezifische Kultur der Gastfreundschaft und das Hochhalten der Dienstgemeinschaft. Was wird aus dieser Kultur, wenn die Gesellschaft sich weiter säkularisiert und pluralisiert, wenn der Zeit- und Kostendruck wächst und immer mehr Häuser fusionieren?

Im letzten Jahr entstand mit Fresenius/Röhn einer der größten Gesundheitskonzerne Europas und es ist keine Frage, dass damit der Druck auf die kleinen Krankenhäuser weiter wachsen wird. So ist es nur konsequent, wenn auch diakonische Träger sich zusammenschließen wie die Diakonischen Dienste Hannover oder wenn sie wie Agaplesion größere Ketten bilden. Und wer genau hinsieht, erkennt, dass traditionelle Gemeinschaftsidentitäten wie die Kaiserswerther oder die Zehlendorfer oder Traditionslinien wie die Mutterhausdiakonie und die Kirchenkreisdiakonie dabei nicht mehr entscheidend und unterscheidend sind. Das muss man nicht beklagen, soweit es darum geht, die Hilfe, die die Bedürftigen erwarten, so professionell wie möglich zu leisten. Allerdings steht zu befürchten, dass nicht die Not der Hilfebedürftigen, sondern das wirtschaftliche Überleben die Branche treibt. Als in den 90er Jahren aus Diakoniewerken Sozialunternehmen und aus Vorstehern Vorstände wurden, schwand der Einfluss der Theologen und Oberinnen, der Kaufleute und der Ärzte wuchs. Inzwischen dominiert die wirtschaftliche Steuerung das gesamte Gesundheitswesen. Die Debatten um unnötige Operationen und Transplantationen, um die hygienische Situation von Krankenhäusern, um DRGs und Pflegestandards zeigt: hier droht etwas aus der Balance zu geraten. Die Wachstumsfixierung unserer Gesellschaft führe dazu, dass wir auch da, wo es um das Wohl des Menschen und den Erhalt der natürlichen Ressourcen geht, vor allem Umsätze und Gewinne im Blick hätten, schreibt Gerhard Scherhorn.[2] Er spricht von einem Wirtschaftswachstum ohne Rücksicht auf Kollateralschäden; denn die Zerstörung der Gemeingüter[3] und öffentlichen Güter habe bedrohlich zugenommen. In den alten Mutterhäusern lässt sich besichtigen, was das bedeutet: wo nur noch einzelne Dienstleistungen und Produkte refinanziert werden, lassen sich die hohen Flure und denkmalgeschützten Gebäude kaum noch erhalten; da braucht es Spender und Sponsoren, um die Parks und Brunnen zu pflegen. Der Wert einer heilsamen Umgebung droht genauso in Vergessenheit zu geraten wie die Bedeutung eines stabilen Teams oder die eines guten, frisch gekochten Essens, das der Jahreszeit entspricht. Regionale Versorgung hat es in Zeiten der Globalisierung auch im Krankenhaus schwer und Ganzheitlichkeit ist trotz all unseres psychosomatischen Wissens zu einer geradezu religiösen Kategorie geworden. Trotz gesunder Städte und Betriebe droht ausgerechnet in der Gesundheitsbranche vor lauter Detailabrechnung das Wissen verloren zu gehen, dass Gesundheit mit sozialen Zusammenhängen zu tun hat.

In dieser Situation lohnt sich zu reformulieren, was den Markenkern von Diakonie ausmacht. Dazu gehören:

  • der Respekt vor dem Einzelnen und seiner voraussetzungslosen Würde, die Wertschätzung unwiederbringlichen Individualität.
  • ein klarer Blick für gesellschaftliche und ethische Herausforderungen und die Bereitschaft, sich in der Organisation wie politisch für Teilhabe und lebensdienliche Rahmenbedingungen einzusetzen.
  • die Solidarität mit den Leidenden und ihren Angehörigen als Ausgangspunkt des Dienstes und die Offenheit für vertrauensvolle Zusammenarbeit zum Schutz der Verletzten und Verletzlichen
  • das Angebot einer ganzheitlichen Bildung ,die religiöse und ethische Fragen einschließt
  • und last, but not least eine spirituelle Präsenz, die über den Tag hinaussieht und den Wert des Einzelnen höher einschätzt als den Fall. Die deshalb auch mit Widersprüche umgehen kann, weil sie Worte und Symbole, Zeichen, Bilder und Ritualen zur Verfügung hat, die tiefer und weiter reichen.

Aus diesen Motiven entstanden die prägenden Linien unserer Sozialkultur: Personalität, Solidarität und Subsidiarität, um die Begrifflichkeiten der katholischen Soziallehre aufzunehmen. Das Wunsch- und Wahlrecht der Hilfeempfänger wie der Leistungsträger, Subsidiarität als Respekt vor der Vielfalt und Solidarität als Kraft gesellschaftlichen Zusammenhalts sind heute bedroht von einer alles standardisierenden Modularisierung und Funktionalisierung. Und auch die personale Verantwortung der Professionellen in ihrer Beruflichkeit hat es schwer angesichts der realen Macht von Qualitätskontrollen der Kostenträger.

Dabei ist die personale Zuwendung eine entscheidende Voraussetzung sozialer Koproduktion“. Zu der spezifisch diakonischen Kultur, aus der wir kommen, gehört deshalb auch die Wertschätzung und Entwicklung von Gemeinschaft- als Gemeinschaft im Team und als „Weggemeinschaft“ auf Zeit sowie Quartiersbezogenheit, Lebenswelt- und Angehörigenorientierung, bei der das Angewiesensein des Einzelnen auf andere genauso ernst genommen wird wie seine Freiheit und Autonomie. Diese Güter sind bedroht- durch kurzfristige Verträge, einen schnellen Umschlag von Personal, die mangelnde Refinanzierung von Quartiersarbeit, den Fachkräftemangel, der Erwerbstätigkeit aller fordert.

Ich fürchte, Kirche und Diakonie, die an der Wiege dieser Kultur standen, sind längst nicht mehr wachsam genug, wenn gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen Leben gefährden: so wie Armut und Ausgrenzung und mangelnde Teilhabe – auf dem Arbeitsmarkt und in den Familien. Es ist der Sozialverband Deutschland, der gegen die Zustände in den Pflegeheimen klagt, während diakonische Träger in der Regel um Kompromiss und Kooperation bemüht sind und damit dann eben doch den alten Pfaden folgen- wie die gesamte Gesellschaft.

„ Moderne Politik kennzeichnet sich durch den Ethosverzicht zugunsten taktischer Klugheit und höchst flexibler Grundsätze, schrieb der Philosoph Richard David Precht vor einiger Zeit im „ Spiegel“:[4] Dass Politik aber nicht dauerhaft erfolgreich sein kann, wenn sie auf Ethos und darauf gegründeten Ziele verzichtet, wissen wir alle. Es wäre naiv, darauf zu setzen, dass die rein fiskalischen und kaufmännischen Strategien der Kassen uns die Zukunft der Wohlfahrtsentwickung zeigen. Es wird vielmehr höchste Zeit, das Kirche und Diakonie mit ihren Erfahrungen an dieser Debatte beteiligen. Mit denen, die wir gern ins Schaufenster stellen wie mit den tabuisierten. Denn Johannes Degen hat Recht, wenn er schreibt: „Das herkömmliche Hilfeethos der Diakonie ist ans Ende gekommen. Die herkömmliche Für-Kultur muss abgelöst werden durch eine Mit-Kultur.“

 

4. Blick zurück nach vorn: Mut und Wahrhaftigkeit

Die großen Aufbrüche der neuzeitlichen Diakonie, auf die wir uns mit unsren Werten beziehen, wurden in den dann folgenden restaurativen Jahrzehnten verschüttet: In dem Maße, wie aus Bewegungen Institutionen, aus Vereinen Anstalten wurden, ging der Anstoß zur Hilfe nicht mehr von der Not des Hilfebedürftigen aus, sondern von den Hilfsorganisationen- heute sagen manche von der Hilfeindustrie. Damit wurden die Hilfesuchenden zum Objekt der Hilfe: zu Patienten, Zöglingen, Insassen, Klienten. Sie waren Adressaten, nicht Teil der Dienstgemeinschaft. Auf diesem Hintergrund konnte auch die Dienstgemeinschaft selbst funktionalisiert werden.

 

Die Fürsorgetradition von Kirchen und Wohlfahrtspflege in Deutschland hatte eben auch eine furchtbare Schattenseite. Zwar wurde der Sozialstaat über die Jahrzehnte immer weiter ausgebaut – mit staatlichen Hilfen für Versehrte, Hinterbliebene, Arbeitslose, Kranke und Rentner. Zugleich aber wuchs auf dem Hintergrund der nötigen Umverteilung auch der Wunsch nach staatlicher Kontrolle. Im Dritten Reich gewannen dann diejenigen die Oberhand, die schon lange fragten, ob es denn lohne, ja, ob es der gesunden Volksgemeinschaft nicht schade, wenn staatliche Mittel an Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen, an so genannte Randgruppen und Asoziale gegeben würden. Als dann Vereine und Verbände gleichgeschaltet wurden, haben die Schwesternschaften ihre Mitarbeiterinnen geschützt- sie wurden Teil der diakonischen Gemeinschaften. Zugleich aber haben auch Mutterhäuser versagt, als es darum ging, Patienten und Bewohner mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen oder auch getaufte jüdische Mitschwestern als Teil ihrer Gemeinschaft zu verteidigen.

Neben dem Gefälle, das mit dem Fürsorgegedanken einhergeht, spielte dabei auch die Abhängigkeit von staatlichen Mitteln eine Rolle- sie machte ja die bürokratisch gestützte Gleichschaltung überhaupt erst möglich. Die Idee des Subsidiaritätsprinzips, dass nämlich jeder Verband, jede Organisation aus der je eigenen inneren Motivation heraus hilft – aus christlicher oder aus jüdischer, aus sozialistischer oder humanitärer Tradition- ist im totalitären Staat untergepflügt worden. Damit wurde die Identität der Häuser in ihrem Kern und nachhaltig ausgehöhlt. Schwestern, die Demut und Gehorsam gelernt hatten, statt Eigenständigkeit und Widerstandskraft zu entwickeln, führten unter Tränen Sterilisationen durch und sahen zu, wie ihre Zöglinge und Mitschwestern abtransportiert wurden.

Wer sich heute auf diakonische Traditionen beruft, darf diese kritische Erinnerung nicht ausblenden. Die Seele des Sozialen ist verletzt. Der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft lebt von dem Gedanken, dass Gemeinschaft mehr ist als eine Gemeinschaft der Starken und der Gleichen, der Gesunden und Fitten – eine inklusive Gemeinschaft auf Augenhöhe. Ich will nicht vergessen, dass es Augenblicke gibt, in denen aus dem Glauben Widerstand geboten ist – wenn ein behindertes Kind zum Risiko wird, wenn die Zeit zum Abschied nehmen nicht reicht, wenn Menschen aus dem Krankenhaus entlassen werden, ohne häusliche Hilfe zu haben. Natürlich sind da nicht nur Christen gefragt- aber christliche Häuser müssen besonders achtsam sein müssen, in Kontinuität und Diskontinuität zu ihrer Geschichte.

Denn unter den Bedingungen des Sozial- und Gesundheitsmarkts ist unsere Sozialkultur neu herausgefordert: Dabei ist der Umgang mit Zeit ein wesentlicher Faktor für Beziehung und Spiritualität – und zugleich die wichtigste Kategorie für Rationalisierung. Seit Anfang der 90er Jahre wird versucht, vor allem im Gesundheitssystem ökonomische Reserven zu heben und Luft aus den Zeitbudgets zu pressen. Mit der Einführung von Budgets, Modulen und Fallbauschalen werden die Arbeitsabläufe auf die Einzelleistung hin organisiert und entsprechend rationalisiert. Mit dem Wegfall des Kostendeckungsprinzips und des bedingten Vorrangs der Freien Wohlfahrtspflege werden ökonomischen Reserven verzehrt, die bis dahin dem „Gemeinsamen“, der Beziehungsorientierung und der geistlichen Prägung zu Gute kamen. Selbst Weihnachtsfeiern und Fortbildungstage werden jetzt unter ökonomischer Perspektive als wettbewerbsverzerrend und als geldwerter Vorteil wahrgenommen.

Kein Wunder, dass in der Reaktion die ökonomische Steuerung die geistliche Leitung verdrängt hat und inzwischen auch die professionelle Steuerung in Medizin und Pflege unter die Fittiche nehmen. Die Selbstbehauptungskräfte der Cure- und Care-Berufe sind schwach. Das immer noch bestehende Gender-Gap, der lange Schatten der weiblichen Pflege-Diakonie, wirkt sich zusätzlich aus. Soziale Frauenberufe werden nach wie vor schlecht bezahlt; die ökonomische Anreize sind gering, die fachlichen werden durch wachsenden Arbeitsdruck geschwächt.

Zugleich wächst mit den persönlichen Budgets wie mit den Zugriffsmöglichkeiten aufs Netz und den offenen Grenzen in Europa die Autonomie der „Verbraucher“, ihre Eigenverantwortung und Selbststeuerung, während ihre Angewiesenheit und Hilfebedürftigkeit in den Hintergrund tritt. Dienstleistungen treten an die Stelle von Einrichtungen. Der Zuwachs der Nutzer an Autonomie fordert die alten, patriarchal und hierarchisch geprägten Fürsorgestrukturen heraus. Stationäre Anbieterstrukturen und Komplexeinrichtungen mit der gewohnte Vernetzung zwischen Geschäftsbereichen („ Von der Wiege bis zur Bahre“) erodieren.

Dabei können die gestiegenen Erwartungen an Eigenverantwortung von Teilen der Gesellschaft gar nicht erfüllt werden- Anwaltschaft und tragende Netze sind notwendig, wo die gesellschaftliche Ungleichheit wächst. Sie wächst allerdings auch zwischen den diakonischen Unternehmen und innerhalb der einzelnen Unternehmen; ausgebaute private Dienstleistungen stehen neben abnehmenden „ Kassenleistungen“; Unternehmensdiakonie steht neben„ anwaltschaflticher Diakonie“ und erneut zwischen Unternehmen und Kirche im Quartier. Diese Spaltung stellt die traditionelle Vorstellung von Dienstgemeinschaft in Frage. Kaum noch vorstellbar, dass in der Tradition der Mutterhausdiakonie Hauswirtschaft und Zimmerpflege, Gastlichkeit und Pflege der Gärten zum geistlich begründeten Kerngeschäft gehörten. Je mehr sich aber solche Dienste als durchkalkulierte Dienstleistungssektor formieren, desto mehr ist darauf zu achten, dass Eigenständigkeit, Verantwortung und Interessenvertretung der Mitarbeitenden nicht aus dem Blick geraten- und auch nicht die Zusammenarbeit miteinander und mit den informellen Netzen.

 

5. Erweckung – nicht nur von gestern

Keith Campbell, Sozialpsychologe an der Universität von Georgia, hat sich mit dem Phänomen des „ Ich – Schocks“ beschäftigt, mit tiefgreifenden Erschütterungen, die unser Lebensgefühl verändern können. Es geht um jene Augenblicke, in denen der Schutzfilter, der uns normalerweise von der Wirklichkeit trennt, weggerissen wird. Das kann eine schwere Krankheit sein, eine berufliche Katastrophe, ein Todesfall oder eine unerwartete, harte Entscheidung – wir reagieren zunächst wie betäubt. Unser Kopf ist leer und das Vertraute erscheint plötzlich fremd. Wenn wir spüren, dass wir nicht so sicher sind, dass die Welt nicht so stabil ist, wie wir glaubten, platzen Illusionen. Vielleicht kennen Sie solche Erfahrungen: Wenn im Schicksal eines einzelnen Jugendlichen plötzlich erkennbar wird, wie verfahren die Situation für eine ganze Generation ist. Wenn Eltern sich gegen ein Kind mit Trisomie 21 entscheiden, obwohl andere damit glücklich leben. Wenn jemand, für den wir uns verantwortlich fühlen, sich das Leben genommen hat. Plötzlich zerreißt ein Schleier und wir nehmen unsere Umgebung ganz anders wahr: brutaler, direkter, bunter. Campbell vergleicht diese Situation mit einem Meditationszustand, einem spirituellen Erweckungserlebnis. Es ist, als öffne sich ein anderer Horizont- wir hören auf, uns um uns selbst zu drehen, lassen uns ein, lassen uns vielleicht auch verstören.[5]. Wir werden weitsichtig und mutig – und sammeln Kraft für einen neuen Aufbruch. In manchem gleicht er vielleicht ´dem, der zu Beginn unserer Sozialstaatsentwicklung stattfand. Dass wir uns davor nicht fürchten, sondern ihn mitgestalten und dabei die Seele des Sozialen schützen, das wünsche ich uns.

 

Weitere Informationen finden Sie auch: Link zum neuen Buchprojekt

 

[1] Anja Förster, Peter Kreuz, Hört auf zu arbeiten, Hamburg 2013

[2] Ebd.

[3] Vgl. Silke Helferich und Heinrich Böll-Stiftung 2009.

[4] Heft 37/2013, S. 139

[5] Vgl. Die lebensverändernde Kraft von Krisen, Kathleen Mc Gowan, Psychologie heute-

Kompakt – ziemlich stark. S. 18 ff.