Morgenandachten und Rundfunkbeiträge


Zeitenwenden im Deutschlandtempo

Wer kommt da noch mit?

Sonntag, 18.02.2024, 8.35 – 8.50 Uhr, Deutschlandfunk DL

Ein paar hundert Krankenliegen vor dem Kanzleramt. Auf jeder ein großes Foto – und davor ein paar Schuhe. Die Turnschuhe hier vorn gehören den Jogger, der so viel Freude daran hatte, morgens zuerst einmal loszulaufen, den Wind zu spüren, tief durchzuatmen. Heute kann er nicht einmal mehr spazieren gehen. Die Highheels da gehören einer Businessfrau, die ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut hat. Jetzt ist sie kaum noch privat unterwegs – und wenn, dann in Mokassins. Und in den rosa Tanzschuhen hat die junge Frau mit den dunklen Locken einen Wettbewerb gewonnen. Heute sitzt sie im Rollstuhl. Ob sie je wieder tanzen wird, das steht in den Sternen.

Nichts geht mehr für diese Menschen. Post Covid hat sie ausgebremst. Ihr altes, bewegtes Leben ist uneinholbar vorbei. Darum haben ihre Familien und Freunde im vorigen Jahr die Liegen aufgestellt. Sie wollten der Politik zeigen, dass viel mehr Einsatz nötig ist für die Finanzierung von Medizin und Forschung.

Die nutzlos gewordenen Schuhe erinnern aber auch an die vielen anderen, die nicht mehr mitkommen. Die Älteren, die sich nicht mehr zurecht finden in der digitalen Welt. Wie die Frau, deren Partner die Banküberweisungen am PC gemacht hat. Der sich um die Fahrkarten gekümmert hat und per WhatsApp mit den alten Kollegen Kontakt hielt. Jetzt, nach seinem Schlaganfall, fühlt sie sich hilflos und einsam – der Computer auf seinem Schreibtisch kommt aus einer anderen Welt.

Die Schülerinnen und Schüler fallen mir ein, die es gewohnt sind zu chatten, zu zocken, zu zoomen. Nach all dem Homeschooling während Corona haben sie das Gefühl, nicht wirklich fertig zu sein mit der Schule. Sie haben vielleicht ein gutes Zeugnis, aber irgendwas fehlt und es ist nicht nur die Klassenfahrt und der Abiball. Viele sind noch immer traumatisiert, haben Essstörungen, brauchen Unterstützung – aber es mangelt an Therapieplätzen.

Und der Paketbote, der dauernd Überstunden macht und doch zu wenig hat, um auszukommen. Seit die Energiekosten gestiegen sind, seit die Lebensmittel immer teurer wurden, geht auch bei ihm nichts mehr. Wenn er in die Stadt fährt, fallen ihm die leergeräumten Einkaufszentren auf, die Tankstellen, die längt schon kleine Einkaufszentren sind – was wird aus denen, wenn es keine Verbrenner mehr gibt? In der Nacht träumt er von Drohnen, die die Pakete bringen. Es ist ein Alptraum.

Es gibt zurzeit  viel Grund für Verunsicherung und Zukunftsangst. Darüber müssen wir miteinander reden! Aussprechen, was bedrückt, hilft. Diese Erfahrung finde ich in der Bibel. Und in vielen ermutigenden Initiativen.

Das Jahr begann mit Stillstand. Trecker vor dem Reichstag, an Autobahnauffahrten, Brücken und Durchgangsstraßen. Aber still war es dabei nicht. Hinter dem Hupen der Traktoren spürte jeder die aufgestaute Energie. Wut, Angst und Ohnmacht. Nicht nur bei den Bauern, auch bei den Spediteuren, die sich angeschlossen hatten, den Gastronomen, den Fliesenlegern… So viel Angst, etwas zu verlieren. Angst, dass sich alles ändert. Angst, dass sich doch nichts ändert – trotz der Versprechen. Das Schlimmste, sagen sie, ist die Unsicherheit. Das Gefühl, keinen Einfluss zu haben, die eigene Zukunft nicht planen zu können. Da geht es dem Mittelstand wie den prekär Beschäftigten. Die Regierung spricht vom Deutschlandtempo, aber die Züge fallen aus.

Der Bau des ersten Flüssiggas-Terminals war ein großer Erfolg – ohne hätten wir im letzten Winter im Kalten gesessen. So wurde er zum Vorbild für das Deutschlandtempo, von dem der Kanzler spricht. Jetzt soll es gelingen, auch die anderen Veränderungsprozesse zeitnah zu gestalten – den ökologischen Umbau der Wirtschaft, Bürokratieabbau und Digitalisierung, Bundeswehr-, Bildungs- und Bahnreform.  Acht „Baustellen der Nation“ stellen die Journalisten Philip Banse und Ulf Buermeyer in ihrem neuen Buch vor. Sie beschreiben, „was wir jetzt in Deutschland ändern müssen“. Bis Ende des Jahrzehnts, bis 2035, 2045. Immer neue Zielzahlen. Meist bleibt ja die viel beschworene Zeitenwende diffus – aber hier wird sie konkret. Das verstärkt den Druck, Hektik breitet sich aus. Ankündigungen überschlagen sich, Streichungen werden diskutiert. Am Ende wird gestrichen, was noch gar nicht beschlossen ist.

Politik müsse die Menschen mitnehmen, heißt es. Als werde die Politik nicht auch von Menschen gemacht. Menschen, die sich schlau machen und erklären müssen, Menschen, die sich irren.  Aber das Vertrauen in die Entscheider ist auf dem Tiefpunkt. Die sogenannten Eliten werden gebasht, ja verachtet.  Und während man sich im Netz in Großbuchstaben beschimpft, breitet sich Sprachlosigkeit aus. Braucht man denn einen Trecker, um endlich wahrgenommen zu werden?

Hinter den Hupkonzerten verschwinden die stillen Krisen. Angesichts des Stillstands von Bahnen und Bussen vergisst man leicht die Not derer, die kaum noch mobil sind. In Krankenhäusern werden ganze Abteilungen geschlossen, weil Pflegekräfte fehlen. Mehr als jede zweite Rentnerin  muss mit weniger als 1250 Euro auskommen. Kinder lernen in Containern, weil die Renovierung der Schulen nicht vorankommt. Pisa, Migration, der demographische Wandel – die aktuellen Krisen haben lange vernachlässigte Probleme offengelegt. Die großen Sozialreformen der letzten Jahrzehnte – Pflegeversicherung, Arbeitsmarktreform, Kita-Ausbau, Gesundheitsreform – sind längst überholungsbedürftig. Und für die neuen wie die Kindergrundsicherung fehlt der Mut. Wer die nötigen Investitionen zusammenrechnet, kommt auf mehrere hundert Milliarden für Bildung, Wohnungsbau, Pflege… Zur Zeitenwende gehört eine Sozialwende. Es reicht nicht, den alten Pfaden zu folgen. Es kann nicht alles bleiben, wie es ist – auch der Sozialstaat nicht. Mit Ausbessern ist es nicht getan. Und mit Aufschieben schon gar nicht. Die alten Sicherheiten sind zerbrochen – das gilt es anzuerkennen. Wir brauchen Mut, uns neu aufzustellen. Es wird Zeit, dass wir miteinander reden. Statt uns in Großbuchstaben anzuschreien wie auf X oder Telegramm.

Denn es hat Konsequenzen, wenn wir uns gegenseitig nicht wahrnehmen und nicht zuhören. Sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Armut, Krankheit, Abstiegsängste – das alles wird bedrohlicher. Und die Gewalt nimmt zu. Gegen Polizei und Notfallsanitäter, an Schulen und auf dem Sportplatz, gegen Synagogen und Moscheen. Oft stehen dahinter gesellschaftliche Mechanismen, die bestimmte Gruppen ausschließen – Migranten vor allem oder Bürgergeldempfängerinnen. Das fängt klein an: Wir sehen die anderen nicht, wir sehen sie nicht, wie sie wirklich sind. Wir halten ihre Sorgen nicht für legitim. Kein Wunder, wenn manche sich mit Gewalt Respekt verschaffen. Aber das führt nur zu weiterer Polarisierung. Und vertieft die Hoffnungslosigkeit.

Ich erinnere mich an die beiden, die von Jerusalem nach Emmaus unterwegs waren. Es waren Freunde Jesu, erzählt die Bibel. Jesus war vor ein paar Tagen gekreuzigt worden. Seitdem hatten sie das Gefühl, ihnen wäre der Boden unter den Füßen weggezogen. Sie waren wie erstarrt, hatten Angst vor dem Hass der anderen, Angst vor dem, was kommen würde. Und so hatten sie sich entschieden, zurück nach Emmaus zu gehen – in das Dorf, aus dem sie kamen. Zurück in die sichere Vergangenheit. Und sie waren nicht die einzigen. In diesen Tagen drohte die Jesusbewegung zu zerfallen. Jeder ging seinen eigenen Weg.

So wie diese beiden. Auf ihrem Weg nach Emmaus stößt ein Fremder zu ihnen. Er schließt sich ihnen an. Sie erzählen ihm von ihrem Verlust und er hört zu – obwohl sie ihn nicht wirklich wahrnehmen; sie sind gefangen in ihrer Verzweiflung. „Ihre Augen waren gehalten“, heißt es in der Bibel. Sie erkennen lange  nicht, wer da mit ihnen geht. Bis die Sonne untergeht und sie zusammen einkehren. Am Tisch erst, beim Abendessen, als er das Brot bricht und teilt, da gehen ihnen die Augen auf – als öffnete sich die Tür in eine andere Gegenwart. Plötzlich wissen sie,  der Gekreuzigte lebt. Er ist bei ihnen-  mit ihnen unterwegs in ein neues, ein anderes Leben. Diese Erfahrung hat alles verändert – sie hat die Richtung verändert. Sie laufen den ganzen Weg zurück nach Jerusalem, zurück zu den anderen. Diese Erfahrung hat ihnen Kraft gegeben, noch einmal neu anzufangen – gegen den Hass und die Angst. Auch, wenn sie nicht wussten, was kommt.

Letzten Mittwoch hat die Fastenzeit begonnen. Es sind noch sieben Wochen bis Ostern und viele haben sich gedanklich auf den Weg gemacht. „Sieben Woche ohne Alleingänge“ sollen es sein, sagt die evangelische Kirche. Sieben Wochen mit offenen Augen und Ohren. „Komm rüber“ heißt das Motto der Fastenaktion, die heute mit einem Gottesdienst in Osnabrück eröffnet wird.  Sie lädt ein, uns zu öffnen – für die Hoffnung und füreinander.

So wie in Stuttgart. Da haben Ehrenamtliche und Gäste aus der Vesperkirche ihre Wohnungstüren füreinander geöffnet und ihre Lieblingsrezepte füreinander gekocht. Himmel und Erde. Gulaschsuppe. Schlesischer Mohn. Sie haben sich die Geschichten erzählt, die dazu gehören, sich besser kennengelernt und neue Freundschaften geschlossen.

„Kleine Inseln der Kohärenz haben die Kraft, ein ganzes System in eine höhere Ordnung zu heben“, schreibt der Organisationsentwickler Otto Scharmer. Da entsteht eine neue Energie, die uns zusammenschließt und weiterbringt. Ja, es gibt sie, die Projekte und Initiativen, in denen das Neue im Keim schon sichtbar wird. Es fängt damit an, dass wir wahrnehmen, was ist und mit welchen Menschen wir leben – und wer an den Rand gedrängt oder vergessen wird. Und dass wir ins Gespräch kommen. So wie im Netzwerk „Freiberg für alle“, das die Kundgebung „Gesicht zeigen“ gegen Rechtsextremismus mit vorbereitet hat.

„Wenn du schnell sein willst, geh alleine“, heißt es in einem Sprichwort. „Aber wenn du weit kommen willst, geh mit anderen zusammen.“ Zukunft gewinnen wir nur miteinander. Wenn wir die Einsamkeit durchbrechen, rausgehen und einander zuhören. Auf den vielen Demos gegen Rechtsextremismus konnte man das spüren. Da war eine Kraft, die nach vorn trug und den Stillstand überwand. „Die Demos laden unsere Akkus auf“, sagt eine Aktivistin, „mich beflügelt das richtig.“

Wie bei den Männern von Emmaus: Die Begegnung mit Jesus verwandelt ihre Trauer in Mut. Sie gehen zurück nach Jerusalem. Und später gemeinsam mit den anderen auf die Straße. Die Menschen, die ihnen gestern noch so wichtig waren – die Randsiedler, die Kranken und die Kinder – die würden sie auch morgen brauchen. Jetzt ging die Arbeit erst richtig los. So wie bei uns – nach den Demos.


Gerechtigkeit

Samstag, 16.09.2023 – 06:35, Morgenandacht / „Gedanken zur Woche“ (evangelisch), Deutschlandfunk DL

„Frau – Leben – Freiheit.“ Monatelang konnte man das Motto auf T-Shirts lesen in Berlin, Paris und Teheran. Nächste Woche ist es ein Jahr her, dass Jina Marsha Amini aus ungeklärter Ursache in einer Teheraner Klinik starb. Zuvor hatte sie die Sittenpolizei festgenommen, weil sie angeblich das Kopftuch nicht richtig trug. Jina Marsha Amini, ihr Name ist unvergessen, nicht nur im Iran. Weil Frauen und Mädchen auf die Straßen gingen und ihr Kopftuch auszogen und diesen Namen riefen. Seit ein kurzem hat die Sittenpolizei wieder neue Befugnisse. War alles umsonst?
Jina war doppelt benachteiligt. Sie war Frau und Kurdin – den iranischen Namen Marsha trug sie nur, weil der kurdische nicht registriert wurde. Im Iran, aber auch in Syrien und in der Türkei werden Kurdinnen und Kurden diskriminiert. Für sie fallen Strafen besonderes heftig aus – aber auch ihr Widerstand. Kurdinnen und Kurden kämpfen um einen eigenen Staat. So wie die Sinti und Roma. Die Rohingya oder die Palästinenser. Und bis 1948 auch die Juden. Was es bedeutet, staatenlos zu sein, das habe ich bei meiner palästinensischen Freundin gelernt. Ohne Papiere bist du immer unter Verdacht. Beim Reisen, bei einem Auslandsstudium, bei der Eheschließung.
Wer Privilegien hat, kann sich nicht vorstellen, was es heißt, übersehen zu werden. Oder in Verhandlungen keinen Status zu haben. Wie die Inselbewohner im Pazifik, die in Kürze umgesiedelt werden müssen, weil ihr Land vom steigenden Meeresspiegel überschwemmt wird. Mit den Inseln verlieren sie ihre Grundstücke, ihre Geschichte, ihre Erinnerungen, die Begräbnisstätten, die gemeinsame Kultur – alles, was sie zusammenhält. Werden die Völker im Pazifik und werden die kleinen Leute bei uns die Zeche zahlen für die Katastrophe, die aus jahrzehntelangem fossilem Wirtschaften resultiert? Wer sorgt für Gerechtigkeit?
Die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, die sollen satt werden, sagt die Bibel. Was für ein Versprechen! Gerade jetzt, wo der Hunger wieder zunimmt, weil Krieg und Klimawandel alle Hoffnungen für dieses Jahrhundert in Frage stellen. Gerade jetzt, wo auch hier viele ihren Einkaufskorb kaum noch füllen können. Da klingt das Versprechen eher nach billigem Trost, gar nach Vertröstung.
Manchmal habe ich das Gefühl, die ganze Welt ist ein Schrei nach Gerechtigkeit. Ich sehe die Dürren, die sich ausbreiten, die unterernährten Säuglinge, die weinenden Mütter, die Menschen, die sich auf die Flucht machen. Ich sehe die Kinder in der Arche, die dort ihr Mittagessen bekommen, weil ihre Eltern sie nicht versorgen können. „ I am not angry, I am hungry“, steht auf einem T-Shirt. Ich bin nicht wütend, ich habe Hunger“. Dass die einen schon im Alltag zu kurz kommen, während die anderen sich alles leisten können, ist zutiefst ungerecht. Gott sei Dank können sich die meisten Kinder bei uns darauf verlassen, dass sie bekommen, was sie zum Leben brauchen.
Die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, die sollen satt werden, sagt Jesus. Es ist schwer darauf zu vertrauen, wenn der Magen leer ist. Gegen alle Erfahrung zu glauben, dass den Hungrigen der Tisch gedeckt wird. Aber hier und da kann man das sogar erleben.
Im Kölner Arbeitslosenzentrum KALZ in der Nähe des Hauptbahnhofs gibt es das Lobbyrestaurant für Berber und Banker. Dort zahlt jeder, was er kann – Arbeits und Obdachlose ein oder zwei Euro, andere entsprechend mehr. Aber alle bekommen ein Gericht von gleicher Qualität. Und sitzen miteinander an großen Tischen. Gäste auf Augenhöhe. So kann Gerechtigkeit anfangen. Wenn jeder gibt, was er hat. Und wenn die, die mehr haben, etwas abgeben. Während der Pandemie wurden einige Konzerte so finanziert. Und nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren die sogenannten Pending- Cafes. Davon gibt es 250 in Deutschland. Das Prinzip: zwei Kaffee bezahlen, einen trinken. So hilft man jemandem, der Durst auf Espresso hat. Und hält den eigenen Durst nach Gerechtigkeit wach.


Die letzte Seligpreisung

Freitag, 15.09.2023 – 06:35, Morgenandacht / „Gedanken zur Woche“ (evangelisch), Deutschlandfunk DL

Konfi-Unterricht vor mehr als 50 Jahren. Es geht um die Seligpreisungen, die wir lernen sollen. Von allem, was ich gelernt habe, sind sie mir besonders in Erinnerung: Beeindruckend und verwirrend zugleich. Was da steht, passt so gar nicht zu meinen Alltagserfahrungen: Hungernde Kinder in Afrika, Familien in Armut hierzulande, Klassenkameradinnen, die gemobbt werden… Aber es passt zu Jesus, der keine Angst hat, Leprakranke zu berühren und die Kinder, die damals nichts gelten, auf den Schoss nimmt. Das lässt seine Worte leuchten.
Von allen Seligpreisungen ist mir die letzte besonders in Erinnerung. „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes willen.“
Manche in der Konfi-Gruppe kannten das: Beschimpft werden, ausgeschlossen, gemobbt. Und mein Eindruck war: Der Pastor kannte es auch- gerade diese Seligpreisung schien ihm besonders wichtig. In der Nazi-Zeit war er ein junger Soldat gewesen. Er sprach nicht darüber, aber er wollte uns offenbar etwas mitgeben von seiner Erfahrung. Eine Art Schutzmantel für schreckliche Augenblicke.
Diese Woche habe ich wieder daran gedacht. Am Montag jährte sich der Militärputsch in Chile zum 50. Mail. Am 11. September 1973 putschte General Augusto Pinochet mit Unterstützung des CIA gegen die frei gewählte sozialistische Regierung von Salvador Allende. Jetzt zum Jubiläum kamen Tausende in Santiago de Chile zusammen. Sie legten Blumen vor dem Regierungsgebäude an der Statue von Salvador Allende nieder. Performance-Künstlerinnen färbten das Wasser dutzender Brunnen mit roter Farbe. Die meisten aber sammelten sich im Stadion, das damals zum Gefangenlager wurde Und bei Sonnenuntergang wurden Kerzen angezündet, um an die Toten zu erinnern. Nunca Más – „Nie wieder“ war auf vielen Transparenten zu lesen.
17 Jahre Militärdiktatur folgten auf den Putsch- mit über 40.000 Opfern von Folter und Verfolgung und mehr als 3.000 Toten. Über tausend Menschen sind bis heute verschwunden. Tausende flohen ins Ausland. Das Militär verfolgte Linke, Gewerkschaftsmitglieder, Studierende und auch Kirchenmitglieder. Das Beeindruckende für mich: Nicht nur Basisgemeinden und Befreiungstheologen – nein, Chiles ganze Kirche stand ohne Wenn und Aber auf der Seite der Opfer. Und die Frauen und Männer vom kirchlichen Menschenrechtsbüro um Kardinal Henriques haben Tausenden das Leben gerettet.
Die Villa Grimaldi war seit 1974 Zentrale des Geheimdienstes. Eine zauberhafte Jugendstilvilla mitten in einem blühenden Park. 4000 Menschen wurden hier mit verbundenen Augen gefangen gehalten und gequält. Manche können noch erzählen von der Elektrofolter in den Zellen, dem Eisbad im Swimmingpool, der beängstigenden Informationspolitik des Geheimdienstes.
„Selig seid Ihr, wenn Euch die Menschen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles über Euch – Euer Lohn im Himmel wird groß sein.“ Die letzte der Seligpreisungen Jesu. Bewahrheitet sich diese Zusage? Hat sie geholfen? Ich weiß es nicht – ich kann es nur hoffen. Aber was ich weiß: Die Gewissheit, nicht allein zu sein, hat Mut gemacht, gegen das Unrecht aufzustehen.
Und ich weiß: Diese mutigen Menschen sind bis heute nicht vergessen. In der katholischen Kirche gibt es die Tradition der Seligsprechung. Unter deren Seligen sind leider viel zu wenig Frauen, zu wenig Laien und zu wenig Schwarze. Und die lateinamerikanischen Befreiungstheologen wurden in der Kirche lange zum Schweigen verurteilt. Aber ich glaube, sie stehen in Gott goldenem Buch. Die Gemeinschaft der Glaubenden hat sie ja längst seliggesprochen Denn viele wissen, was sie denen zu verdanken haben, die ohne Wenn und Aber zu ihren Überzeugungen standen und dafür einen hohen Preis bezahlten.
Man merkt es, wenn jemand mit seinem Glauben auf die Probe gestellt wurde. So war es wohl auch bei meinem Pastor im Konfi-Unterricht. Als er uns die letzte Seligpreisung nahebrachte, war da ein Leuchten. Die Stunde damals hat mir Mut gemacht, zu dem zu stehen, was mir wichtig ist – auch gegen Widerstände.


Sanftmut

Donnerstag, 14.09.2023 – 06:35, Morgenandacht / „Gedanken zur Woche“ (evangelisch), Deutschlandfunk DL

Es war zu teuer, um es zu kaufen. Trotzdem bin ich immer wieder in den Laden gegangen, um es mir anzusehen. Noch heute habe ich es genau vor Augen.

Die Skulptur zeigt Franz von Assisi, genauer die Geschichte, wie Franz den Wolf von Gubbio besänftigt. Franz sitzt auf der Erde, den Rücken an einen Wolf gelehnt. Er setzt sich furchtlos der Gefahr aus. Er greift nicht zur Waffe, sondern begegnet dem Raubtier mit Sanftmut. Und der hungrige Wolf, vor dem die ganze Gegend Angst hatte, bleibt auch ruhig. Ich hätte diese Figur gern auf meinen Schreibtisch gesetzt. So leben, in dieser Sanftmut, das habe ich mir oft gewünscht. Ein Bild des Friedens.

Jesus nennt die Sanftmütigen selig. Seit Russland gegen die Ukraine Krieg führt, muss ich oft daran denken. Was heißt das, in den Wolfsschluchten des Krieges, zwischen Schützenpanzern und Kanonen, sanftmütig zu sein? Geht das überhaupt?

Ich denke an die ukrainische Autorin Victoria Amelina, Sie wurde bei dem russischen Raketenangriff auf ein Restaurant in Kramatorsk schwer verletzt und starb kurz darauf. Sie war mit anderen Schriftstellern dort, sie hatten Wein getrunken, über Leben, Liebe und Krieg philosophiert. Es war ein leuchtender Abend. Vika, wie die Freunde sie nannten, hatte Kinderbücher und Romane geschrieben. Zuletzt dokumentierte sie Kriegsverbrechen. Und sie entdeckte die Lyrik, schrieb Gedichte und fand darin ihre ganz eigene Sprache. Sie habe in diesen Monaten die Geburt einer Dichterin gesehen, schreibt die ukrainisch-deutsche Autorin Katja Petrowskaja. Zwischen Schrei und Schweigen sei ihre Lyrik zur Welt gekommen. Und noch wochenlang sei ihr Vikas Madonnengesicht erschienen. Sanftmütig und entschieden zugleich.

Auch der britische Künstler Banksy fällt mir ein. Die Öffentlichkeit kennt sein Gesicht nicht, auch nicht seinen wahren Namen. Aber seine Wandbilder und Graffitis sind unverkennbar. Menschen entdecken sie oft morgens in den Armutsvierteln der Städte, auf Abrisshäusern, in Kriegsruinen. Im letzten November waren sieben neue Werke in der Ukraine zu sehen. Da sieht man, wie ein kleiner Junge Putin mit Karate zu Boden streckt. Und ein Mädchen, das auf den Trümmern einen Handstand macht. Banksy macht die Kleinen groß und die Mächtigen ganz klein.

Wie viele wird er damit ermutigt haben! Man spürt das, wenn auf der Straße über Putin gesprochen wird: Wütend und witzig. Oder wenn das Video eines kleinen Mädchens viral geht, das im Keller in der Dunkelheit singt. Tröstlich und liebevoll. Wenn Ärztinnen und Pflegende in ihrer Freizeit an die Front fahren und oft noch unter Beschuss die Verletzten versorgen und die Toten nach Hause bringen. Voller Zuwendung, wie Eltern sich um ihre Kinder kümmern.

Selig sind die Sanftmütigen, sagt die Bibel. Seit eineinhalb Jahren reden wir vor allem von Waffen, wenn es um Russlands Krieg in der Ukraine geht. Keine Frage, die sind nötig, damit das Land sich verteidigen kann. Aber über die Sanftmütigen reden wir zu wenig. Über die. die das Land zusammenhalten. Die Sanftmut wächst zwischen Schreien und Schweigen, zwischen Furcht und Wut. Mitten im Lärm von Hass und Gewalt. Es sind die Sanftmütigen, die anderen Mut machen mit ihrem Leuchten, die das Leben in seiner Verletzlichkeit lieben. Wehrlos, aber nicht lieblos.

Denen wird das Erdreich gehören, hat Jesus gesagt. Manchmal bleibt mir fast die Luft weg, wenn ich das höre und glauben soll bei all den schrecklichen Bildern und Nachrichten aus diesem Krieg. Und doch klammere ich mich daran und finde, dass man es sogar schon sehen kann. Wo die Sanftmütigen waren, leuchten Farben. Bilder erzählen Hoffnungsgeschichten. Auf Banksys Bildern werden Blumen geworfen, nicht Granaten. Freunde sitzen zusammen. Franziskus lehnt sich an den Wolf. Und für einen Augenblick leuchtet der Friede schon auf.


Trost

Mittwoch, 13.09.2023 – 06:35, Morgenandacht / „Gedanken zur Woche“ (evangelisch), Deutschlandfunk DL


Eine Frauengruppe in der Ukraine. Junge Witwen, die sich einmal in der Woche in einer Trauergruppe treffen. Fotos anschauen, Geschichten erzählen, ohne Scham weinen und auch wieder lachen. In dem Fernsehbericht war schön zu sehen, wie offen die Frauen einander begegneten. Sie teilten das gleiche Schicksal. Das ganze Leben hatte sich verändert – das private, aber auch das öffentliche. Ich dachte: Diese Gruppe ist wie eine Oase für die Frauen. Hier tut keine so, als wäre nichts passiert.  Alle wissen: Diese Wunde wird nie mehr ganz heilen.
In den Niederlanden gibt es die Villa TrösT. Da kann hinkommen, wer mit seinem Schmerz nicht allein bleiben will. Es gibt eine Werkstatt zum Töpfern, ein Studio zum Malen, ein Café, um einfach zusammen zu sitzen. Die Ehrenamtlichen, die hier arbeiten, kennen den Schmerz. Sie hören einfach zu und geben Raum für Gespräche, für Tränen, für Erinnerungen. Die Gründerin der Villa Tröst, Anne Goossensen, sagt, das sei das Drama in unserer Gesellschaft: Wir gäben einander zu wenig Raum für Trauer. Allzu schnell würden wir von uns selbst und anderen erwarten, dass wir wieder funktionieren. Diese Unfähigkeit zu trauern – vielleicht ist sie der Grund, warum die Gesellschaft so trostbedürftig ist.
Es gibt kein Leben ohne Brüche, aber es gibt ein Glück in den Brüchen des Lebens.  Ein Glück, das durch die Risse hindurchleuchtet. „There‘s a crack in every thing, that‘s how the light gets in“, hat Leonhard Cohen gesungen. „Es gibt einen Riss in allem. So kommt das Licht herein.“  Ich denke an die Seligpreisungen Jesu. Er nennt die Trauernden, die Kranken und die Armen selig.  Menschen, die den Mangel und die Leere kennen und ihre Verletzlichkeit schmerzhaft spüren.
Das deutsche Wort „G- lück“ verweist auf eine Lücke. Manchmal reißt das Leben eine Lücke, durch die ich hindurchsehen kann, durch die etwas Neues auf mich zukommt. Es kann eine Verletzung sein, die alles verändert. Der Tod, eine Trennung, ein Krieg können dazu führen, dass man ganz und gar neu anfangen muss. Und vielleicht sogar ein neues Glück erleben darf, wenn die Lücke sich noch einmal schließt. Selig sind die Leidtragenden, hat Jesus gesagt – sie sollen getröstet werden.
Vielleicht klingt das wie ein leeres Versprechen. Dann liegt vielleicht der einzige Trost darin, mit der Lücke zu leben -als wäre es eine Tür in eine andere Wirklichkeit. So wie Antoine Leris, der in der Terrornacht von Paris seine geliebte Frau verlor. Den gemeinsamen Sohn, der damals 17 Monate alt war, zieht er nun alleine auf. Mit ihm bleibt auch seine Liebe lebendig. „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, nannte Leris sein Buch, das ein Bestseller wurde, programmatisch.
An jenem Abend im November 2015, als mehrere Terroranschläge hintereinander Paris erschütterten, kamen viele nicht mehr nach Hause und irrten durch die Straßen. Soziale Medien riefen dazu auf, anderen einen Schlafplatz anzubieten. # porte ouverte. Das war nicht ohne Risiko. Trotzdem öffneten unzählige Menschen ihre Türen und nahmen Fremde auf. So öffnete sich noch in der Nacht des Terrors ein Fenster zur Zukunft.
Glückseligkeit hat wohl damit zu tun, dass wir Türen öffnen, dass wir nicht so tun, als lebten wir in einer heilen Welt, während anderswo Menschen leiden. Das Glück, von dem die Bibel spricht, hat offene Augen. Das wissen alle, die mit dem eigenen Auto in die Ukraine gefahren sind, um Geflüchtete aus dem Krieg zu holen. Die ihre Wohnung öffneten, um Ausgebombten Heimat zu bieten. Die während der Flutkatastrophe an die Ahr fuhren, um Wohnungen zu reparieren. Sie erlebten das angeschlagene Glück der Menschlichkeit, erfuhren Sinn und Gemeinschaft.
Ob sich im Tod eine Tür zum Leben öffnet? So habe ich das bei einem älteren Mann erlebt, den ich mit seiner Familie durch eine längere Krankheit begleiten durfte. Als wir am letzten Abend gemeinsam um sein Bett standen, schaute er aus dem Fenster, winkte uns und sagte leise „Wir sehen uns wieder, ganz bestimmt“.  Was für ein Trost.

Barmherzigkeit

Dienstag, 12.09.2023 – 06:35, Morgenandacht / „Gedanken zur Woche“ (evangelisch), Deutschlandfunk DL

„Das Absurde, das Erbarmungswürdige, das Rührende, das Furchterregende, das Komische, das Egoistische, das unmaskiert in mein Leben einbricht“. Die preisgekrönte Autorin Helga Schubert pflegt seit Jahren ihren Mann. In ihrem jüngsten Buch „Der heutige Tag“ erzählt sie von seiner Demenz und ihrer Überforderung,– aber auch von Liebe und Barmherzigkeit im täglichen Miteinander.

„Ich gehe ins Badezimmer, fülle seinen Zahnputzbecher mit warmem Wasser, und ein paar Tropfen Zahnputzwasser ,spüle sein Gebiss, gehe damit in sein Zimmer, setze mich auf seine Bettkante, er rückt mühsam etwas zur Seite, damit ich es auf der Matratze weicher habe, ich gebe ihm den Zahnputzbecher, und zum Ausspucken der Mundspülung einen leeren, großen Yoghurtbecher. Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Restbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist. Ich liebe ihn sehr“, schreibt Helga Schubert.

Die Theologin Hildegund Keul meint „Wunden verbinden, „Sie sind ein Ort der Kommunikation.“ Verletzungen erzeugen eine Öffnung, ermöglichen intensiven Austausch, ja Intimität. Ich denke an den barmherzigen Samariter, der den Verwundeten am Wegrand entdeckt und seine Reise unterbricht. Der dem Fremden die Wunden reinigt und desinfiziert, ihn auf sein Reittier setzt, ihn in ein Gasthaus zur Pflege bringt und dafür auch noch zahlt. Hildegund Keul spricht vom Verletzungsparadox: Man setzt sich für das Wohl eines anderen ein und macht sich dabei selbst verletzlicher. Aber die Verletzlichkeit macht die Liebe nur größer. Wie bei Helga Schubert, beim barmherzigen Samariter und bei der Unbekannten, die Jesus noch kurz vor seiner Hinrichtung die Füße salbt – mit kostbarem Parfüm Öl. Lebensverlust erzeugt Lebensgewinn, wenn man bereit ist, sich selbst zu verschwenden.

Aber das fühlt sich nicht immer so an. Helga Schubert schreibt: „Heute lehnte ich mich erschöpft nach wenigem Schlaf an die Wand unserer Haustür“, schreibt Helga Schubert,“ als die Pflegeschwester an den Abfalleimer ging, und sagte: „Wenn ich in dreizehn Jahren – denn so groß ist der Altersunterschied zwischen meinem Mann und mir – auch so schwach bin wie er jetzt , wer wird mir dann helfen, mich waschen, anziehen, mir Frühstück machen, wer wird den Abwasch und die Wäsche waschen, wer wird mir die Medikamente einordnen, wer wird mich trösten und es mir geduldig erklären, wenn ich nicht mehr in der Lage bin, dem Gespräch zu folgen? Dann kann ich hier in dem großen Garten nicht mehr bleiben“. „Wir sind doch da, sagte die Schwester. Und in dem Moment wurde mir klar, dass sie in 13 Jahren erst Mitte 40 sein wird und hier noch im Pflegedienst arbeiten kann und das auch vorhat“.

Doch die Situation der Pflege insgesamt ist erschütternd. Auf Kante genäht. Und ungerecht. Viel wird auf dem Rücken der Angehörigen ausgetragen. Das ganze Pflegesystem steht kurz vor dem Zusammenbruch. Was die Angehörigen für einen Heimplatz zuzahlen, ist oft gar nicht mehr aufzubringen. Und der Zuschlag für pflegende Angehörige hat sich bei der letzten Reform nur um 5 Prozent erhöht- das ist weniger als der Inflationsausgleich.

Es dauert unendlich lang, das zu ändern. Man braucht Verbündete, Experten, Engagierte in den Parteien, Durchsetzungskraft. Aber alte und kranke Menschen haben keine Zeit, auf Gerechtigkeit zu warten. Bleibt die Barmherzigkeit. Die kann ich allein üben. Jederzeit. Es geht nur darum, mich zu öffnen. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren“ hat Jesus gesagt. Doch die Pflegewirklichkeit sieht anders aus: Wir erleben eine gedankenlose Unbarmherzigkeit und eine unverhüllte Zweckrationalität, schrieb mir ein Freund. Da steht mehr auf dem Spiel als den meisten bewusst ist: Denn mit der Barmherzigkeit verschwindet auch das Glück. Und die Seligkeit. Nicht nur die der anderen, auch die eigene. Dabei braucht es nicht viel, um barmherzig zu sein. Es geht nur um eins: den anderen zu sehen wie mich selbst.


Gott schauen

Montag, 11.09.2023 – 06:35, Morgenandacht / „Gedanken zur Woche“ (evangelisch), Deutschlandfunk DL

Das fein geschliffene Glas auf der Fensterbank leuchtet in der Sonne und spiegelt das Licht. Wenn man es richtig anschlägt, klingt es hell und vibriert lange nach. Wie kostbar das Glas ist – ich habe immer mal wieder Angst, es könnte zu Boden fallen. Ich glaube, jede kennt das von den Gläsern und Schalen, bei denen Mutter immer darauf hingewiesen hat, wie zerbrechlich das kostbare Stück war. Eines Tages stößt Du dann doch mit dem Ellenbogen dagegen, rutschst beim Staubwischen mit der Hand aus … So sehe ich im heilen Glas schon die kommenden Scherben. Dem Glas wohne das „zwangsläufige Zerbrechen“ inne, schreibt der Dichter Ajam Kham. „Wenn wir verstehen, dass dieses Glas bereits so gut wie zerbrochen ist, wird mir jede Minute, die ich damit verbringe, kostbar. In jeder Minute, die ich damit verbringe, bin ich glücklich“. Wie wäre es, wenn ich so auch meine Mitmenschen anschauen – oder wenn ich mich selbst so sehen würde. Zerbrechlich – schön. Endlich lebendig.

Ich denke an Axel, den Sohn von Vaters bestem Freund. Mit Anfang 20, als wir beide studierten, hatte er nur noch wenige Jahre zu leben- und er wusste das. Er hatte Muskelschwund, an dem auch schon sein Vater gestorben war. Aber Axel zog sich nicht zurück in Grübeleien, er ließ sich nicht klein kriegen von der Angst vor der Zukunft. Ganz im Gegenteil: Axel studierte mit Leidenschaft; er liebte das Theater und beteiligte sich an einer Filmproduktion. Und er nutzte die Zeit, um mit seinem Zivi im Rollstuhl durch die Welt zu reisen- von Griechenland bis nach Fernost. Oft habe ich ihn um seine Lebensfreude beneidet – denn mir selbst ging es damals nicht gut; ich war mir unsicher über Studium und Zukunft. Von Axel habe ich gelernt, den Tag zu genießen, und mich an der Schönheit zu freuen. Dabei war mir klar, dass seine radikale Liebe zum Leben wohl mit dem Bewusstsein der Grenze zu tun hatte, mit der er lernen musste umzugehen. Umso mehr kann ich sagen: Von Axel habe ich gelernt, mich frei zu machen von falschen Ängsten und Sorgen.

Das ist die Haltung, die Jesus in der Bergpredigt vermitteln will – den Tag ernst nehmen, sich an den Lilien auf dem Felde freuen, statt in der Angst vor der Zukunft die Gegenwart zu verraten. Auch von Kindern können wir lernen, so zu leben. Die erste Seligpreisung in der Bergpredigt bringt es auf den Punkt. Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Gelingendes Leben, wie Jesus es versteht, hat damit zu tun, dass ich mein Herz für den Himmel offenhalte. Für Gott, für die Seligkeit. Und dass Jesus darüber hinaus auch die Leidenden, die Hungernden und Dürstenden seligpreist, verstehe ich so: Sie machen Erfahrungen, die jenseits unserer Leistungsmentalität liegen: satt werden, getröstet werden, Gott schauen. Kurz: sie können sich als beschenkt erleben.

Als Menschen mit Behinderung wissen wir, „was es bedeutet, dass sich das Leben unerwartet von Grund auf verändern kann“. Das schreibt eine Arbeitsgruppe von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen, die der Weltrat der Kirchen eingesetzt hat. „Vor allem geht es darum zu vertrauen“ sagen die Betroffenen. Wir sind Gott in jener leeren Dunkelheit begegnet, in der uns bewusst wurde, dass wir ‘die Kontrolle‘ über uns verloren haben, und wir haben gelernt, auf Gottes Gegenwart und Fürsorge zu vertrauen.“

Wahrscheinlich müssen das alle irgendwann lernen. Manche von Geburt an, andere bei einem Unfall, wieder andere bei einer Krebserkrankung, einem Herzinfarkt: Das Leben ist zerbrechlich wie Glas. Aber es ist auch so schön und so kostbar wie ein klares Glas, das im Licht strahlt und in der Sonne glitzert. Mit dem Blick aufs Licht, will ich mein Leben aufstellen- das habe ich von Axel gelernt.


Coenen-Marx, Cornelia | 03. September 2023, 08:35 Uhr


Gemeinsam stark

Freitag, 23.06.2023, 6.35 – 6.40 Uhr, Morgenandacht / „Gedanken zur Woche“ (evangelisch), Deutschlandfunk DLF

„Auch wenn ich keine Siegerin werde, das ist mir egal. Hauptsache, ich habe Spaß und bin dabei“, sagt Janet. Sie ist als Leichtathletin gerade achte geworden. Von acht Sportlerinnen ihrer Leistungsklasse, im Standweitsprung. Standweitsprung – das ist Weitsprung ohne Anlauf. Manche springen da 1,80 m. Und manche 30 cm. Aber das ist egal. Dabeisein ist alles. Darum geht es doch bei Olympia.

Diese Woche weht die olympische Flagge am Brandenburger Tor. Denn seit  Montag sind Special Olympics. Das ist die weltweit größte Sportbewegung für Menschen mit geistiger Behinderung und Mehrfachbehinderung. Mehr als 7000 Athletinnen und Athleten aus der ganzen Welt sind nach Berlin gekommen. Sie machen bei 26 Sportarten mit. Und mehr noch:  40.000 Athlet*innen gehören allein zu Special Olympics Deutschland. Das Ziel dieser weltweiten Inklusionsbewegung ist, Menschen mit geistiger Behinderung zu mehr Selbstbewusstsein, Anerkennung und Teilhabe zu verhelfen.

Vieles ist wie immer: das olympische Feuer, die Flaggen, der Eid. Aber manches ist auch besonders – und wie ich finde, besser. So wird zum Beispiel jede und jeder, der mitgemacht hat, im Rahmen der Siegerehrung geehrt. Alle bekommen eine Medaille. Auch wenn er oder sie nicht auf einen der ersten drei Plätze kommt  – so wie Janet. Und wer in diesem Wettbewerb eine besondere Leistungssteigerung gezeigt hat, wird hervorgehoben – das hätten sich doch manche im Sportunterricht gewünscht. Auch der Eid ist besonders, den die Sportlerinnen und Sportler schwören. „Ich will gewinnen, doch wenn ich nicht gewinnen kann, so will ich mutig mein Bestes geben!“ Ganz konsequent wird auch von Wettbewerb gesprochen – und nicht von Wettkampf. Alle wissen – letztlich sind wir nur gemeinsam stark.

„Zusammen unschlagbar“ heißt das Motto der Special Olympics in Berlin. Dazu tragen auch die Unified Teams bei – bei denen Sportler mit Behinderung mit anderen zusammen antreten. Zum Beispiel Leute aus einer geschützten Werkstatt mit anderen aus einem Sportverein. Erfolgreiche Zusammenarbeit gelingt am besten, wenn die Sportlerinnen und Sportler sich auch als Menschen kennenlernen und respektieren. Und wenn sie Spaß miteinander haben.

Ja, Olympia, die Fußballweltmeisterschaft, die großen Spiele – vielen ging es so wie mir – ich hatte schon keine Lust mehr, zuzuschauen. Viel zu oft ging es vor allem um Geld und Macht, Kommerz und Politik. Das hat niemandem mehr Spaß gemacht. Aber hier, bei den Special Olympics, da sehe ich so viele strahlende Gesichter, höre Jauchzen und Klatschen. Für ein paar Tage wohnt hier das Glück – ja, die Seligkeit.

Selig sind die arm sind im Geist, hat Jesus mal gesagt- es ist nicht so ganz klar, wen er damit meinte. Leute mit geistigen Einschränkungen, mit Lernschwierigkeiten? Oder Menschen, die nicht spüren, was wirklich zählt? Den Armen im Geist jedenfalls verspricht Jesus das Himmelreich! Und denen, die reinen Herzen sind, dass sie Gott schauen. Dem Himmel ganz nah sollen auch die sein, die sich nach Gerechtigkeit sehnen. In diesen Tagen habe ich das Gefühl: ich kann das sehen. Beim Blick auf die Bilder aus Berlin. Ich sehe das Glück der Sportlerinnen und Sportler,  dabei zu sein und dazu zu gehören. Sehe die Begeisterung der Freiwilligen, den Teamgeist in den Unified Teams. Und den Stolz der Eltern.

Es ist Gott sei Dank lange her, da hieß Aktion Mensch noch Aktion Sorgenkind. Sorgenkinder – so nannte man damals Menschen mit Behinderung. Längst hat sich gezeigt: Das sind die, von denen wir anderen lernen können, worauf es wirklich ankommt. Davon erzählt Wiebke Kröger, die 2016 zu den „Unified Baskets“ stieß, einem inklusiven Team in Essen. Neben ihrem Studium der Heilpädagogik betreute die 28-Jährige eine Wohngruppe und erfuhr so von einem inklusiven Basketballturnier. Sie fragte, ob sie zum Training kommen könnte, und blieb dabei. Trotz Ehrgeiz „gibt es bei uns nicht diesen krassen Konkurrenzkampf“. Im Unified-Team können alle mitspielen: „Wir freuen uns über jeden Korb, der fällt“. Das wäre doch auch was für den Alltag. Nicht nur beim Sport.


https://rundfunk.evangelisch.de/kirche-im-radio/am-sonntagmorgen/wer-sein-kind-liebt-der-zuechtigt-es-12814?fbclid=IwAR0Vf_89nsRNRJ_yzoxIYYlSlbjXYIyOBzcJyA2Fxdh0Wrd_w_PVx5xw6y8

Wer sein Kind liebt, der züchtigt es?

Gewalt in der Geschichte diakonischer Hilfe

Deutschlandfunk 07.08.2022 – 08:35 Uhr

Die Missionsschulen und Magdalenenheime sind geschlossen, an die Stelle der Fürsorgeheime sind Familien- und Wohngruppen getreten. Geblieben sind die Gräber, die verstörenden Akten – und die Erinnerungen. Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx fragt: „Wie konnte es passieren, dass man Jesus zur Leitfigur für tausendfachen Machtmissbrauch gemacht hat, zur „Rute“, mit der andere gedemütigt wurden?“

Eine Pilgerreise der Buße, so nannte Papst Franziskus seine jüngste Reise nach Kanada. Mehr als 150.000 indigene Kinder zwischen 4 und 16 Jahren wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den 140 katholischen Internaten dort erzogen.

Sprecher 1:

Sie durften dort nur Englisch und Französisch sprechen, sollten ihre Muttersprache, ihre Spiele, ihre Geschichte vergessen und sich an die christliche Zivilisation anpassen. Von einem kulturellen Genozid ist inzwischen die Rede. Die Kinder wurden ihren Familien entrissen, Geschwister durften keinen Kontakt untereinander haben. Regelverstöße, erzählen die Überlebenden, wurden mit Schlägen und Stockhieben bestraft, die Kinder wurden eingesperrt und misshandelt. Viele, die versuchten zu fliehen, starben auf der Flucht oder durch Suizid. Was lange schon erzählt wurde, war nicht mehr zu leugnen, als letztes Jahr Hunderte anonymer Kindergräber in der Nähe der Internate gefunden wurden.

Noch sind nicht alle Gräber geöffnet, noch sind Akten unter Verschluss. Erst 1997 schloss das letzte dieser Internate. Aber so viel ist klar:  4000-6000 Kinder sind an Unterernährung, Vernachlässigung und Krankheiten gestorben. 30.000 wurden sexuell missbraucht. Es kam zu Abtreibungen, Säuglinge wurden ihren Müttern entrissen und getötet.

„Mit uns konnte man es ja machen“, sagt eine der Zeitzeuginnen. „Wir waren minderwertig. Menschen zweiter Klasse.“ Dass Katholiken zu einer Politik der Assimilation und Entrechtung beigetragen haben, das verletze ihn, sagte der Papst. Er bat die indigenen Völker um Vergebung für die Auslöschung ihrer Kultur durch den europäischen Kolonialismus. Und besonders für den Anteil, den die katholische Kirche daran hatte. Für das Böse, das so viele Christen indigenen Menschen angetan haben.

Mich erinnert das an die Geschichte der Magdalenenheime in Irland. Einrichtungen, in denen sogenannte „gefallene“ Mädchen aufgenommen wurden. Maria Magdalena, eine der Jüngerinnen Jesu, wurde lange mit der Frau identifiziert, die Jesus kurz vor seinem Tod die Füße salbt. Man(n) hat sie als Urbild der geläuterten Sünderin stilisiert.

In den Magdalenenheimen sollten Frauen auf den Weg der Besserung geführt werden – viele hatten sich prostituiert, um Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit zu entgehen. Auch Mütter mit unehelichen Kindern wurden aufgenommen, Schwangere, aber auch psychisch kranke Frauen. Manche suchten sogar selbst den Weg dorthin. Aber es ging hier nicht um Schutz und Zuflucht und schon gar nicht um ein besseres Leben – es ging um Macht, um Strafen für zugewiesene Schuld.

Sprecher 2:

Wenn eine Frau in eines der Heime kam, verlor sie ihre Identität, ihren Namen, ihre Rechte. Überlebende haben berichtet, wie eine Nonne ihnen an der Tür ihre Kleidung und alle privaten Dinge abnahm. Stattdessen erhielten sie eine Uniform und einen neuen Namen – oft mit religiöser Bedeutung. Die Vergangenheit sollte ausgelöscht werden – auch untereinander waren Gespräche darüber untersagt. Sie arbeiteten in der Küche und im Haushalt, vor allem aber in der Wäscherei – ohne Rücksicht auf Krankheiten oder Schwangerschaften. Kinder, die im Heim geboren wurden, wurden ihren Müttern spätestens mit dem ersten Geburtstag weggenommen, im Kinderheim erzogen oder zur Adoption freigegeben.

Schätzungsweise 60.000 Babys kamen über die Jahrzehnte in den irischen Magdalenenheimen zur Welt. Das Schicksal der meisten dieser Kinder ist nach wie vor unbekannt. Viele starben früh aufgrund von Mangelernährung, Vernachlässigung und Krankheiten. 2017 entdeckte man ein Massengrab auf dem Gelände eines Mutter-Kind-Heimes in der Grafschaft Galway. Dort fand man die Überreste von knapp 800 Babys und Kindern in ausgedienten Klärgruben und unterirdischen Kammern.

Erschreckend, wie sich die Geschichten gleichen. Wir sehen eine Orgie der Gewalt: psychische Gewalt, sexuelle Gewalt, strukturelle Gewalt.  Die Menschen, die in den Heimen und Internaten erzogen und betreut wurden, galten als minderwertig.  Mit ihnen konnte man es machen – wegen ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts oder der Gesellschaftsschicht, aus der sie kamen. Es ging um Anpassung an die christliche Mehrheitsgesellschaft – um jeden Preis. Es handelte sich auch nicht nur um die Übergriffe einzelner Priester oder Ordensleute, sondern um Strukturen von Macht und Menschenverachtung. Ganze Gruppen von Menschen werden ausgegrenzt. Weil sie anders waren. Weil sie zu anderen gemacht wurden. Es gibt inzwischen einen Begriff dafür: „Othering“ – Ver-Anderung.

Magdalenen-Heime gab es auch in Deutschland. Zum Beispiel in der Kaiserswerther Diakonie, wo ich selbst einige Jahre Vorständin war.

Sprecher 3:

Seit der Aufnahme der ersten strafentlassenen jungen Frauen 1833 galten Fürsorgearbeit und Heimerziehung als zentrales Arbeitsfeld. „Durch die Heimerziehung“, heißt es in der Hausordnung von 1940, „sollen die Mädchen einem arbeitsamen Leben zugeführt werden.“ Auch hier bekamen alle die gleiche Uniform, auch hier sollten sie über ihre Vergangenheit schweigen.

Wie schwer es den Schwestern fiel, mit ihren „Zöglingen“ klar zu kommen, ist in einem der Sonntagsbriefe zu lesen, die Schwestern ihren Mitschwestern schrieben: „Ich weiß nun, dass die Liebe nur dann bessert, wenn sie mir der nötigen Festigkeit gepaart ist und auch das Strafamt zu führen weiß. Macht es denn die Liebe Gottes etwa anders mit uns?“ Da hatte ihre Vorsteherin ihr gerade den Kopf gewaschen, weil sie enttäuscht war, dass zwei Jungs sie bestohlen hatten – zwei, denen sie Vertrauen entgegengebracht hatte, von denen sie eigentlich Dankbarkeit erwartete.

„Wer seinen Sohn liebt, den züchtigt er“, lese ich in der Bibel. Und in einem Kirchenlied heißt es sogar: „… des Vaters liebe Rut ist uns alle Wege gut.“ Die Strophe wird kaum noch gesungen, Gott sei Dank. Wer will sich Gott denn noch so vorstellen – als strafenden Vater, der uns mit Gewalt auf den rechten Weg bringt.

Sprecher 4:

In Kaiserswerth wurde der Versuch, wegzulaufen, drastisch bestraft. „Wenn die Mädchen weggelaufen waren“, erzählte Schwester Agnes, eine der alten Diakonissen, „dann kriegten sie Zimmerstrafe. Später war ja dann die Beruhigungszelle da.“ In diesem Arrestraum mit einer Eisentüre befand sich nur ein Stuhl, und nur abends wurde eine Liege dazugestellt. „Der erste Tag der Härte war Strafe durch Isolation. Dass sie darüber nachdenken. Der zweite Tag, da war Essensentzug, da bekamen die trockenes Brot und Muckefuck. Am dritten Tag dann wieder normale Mahlzeiten und Arbeit.“

Nicht nur im Kolonialismus, auch im Faschismus haben die Kirchen mitgemacht. Die Mädchen und Frauen in den Kaiserswerther Heimen wurden zwangssterilisiert. Und als Schwersterziehbare wurden sie nur noch „bewahrt“. So nannte man die bestrafende Sonderfürsorge für besonders widerspenstige junge Frauen. Die mussten dann im Krieg gut bewacht mit den Zwangsarbeitern auf den Feldern arbeiten. Als mir das erzählt wurde, wunderte es mich nicht: Zwangsarbeiterinnen waren sie ja schon immer – und immer schon die anderen, die fremden.

Vor etwa 20 Jahren, als ich in der Kaiserswerther Diakonie arbeitete, kamen gerade die Briefe von Mädchen und jungen Frauen, die eine Arbeitsbescheinigung forderten. Und kurz darauf entstanden offene Foren von ehemaligen Heimkindern aus der Nachkriegs-Diakonie, Anlaufstellen wurden geschaffen, Briefe mit Forderungen nach Entschädigung gingen ein.

Sprecher 5:

„Ihr habt uns als Kinder wie menschlichen Abfall in eure Fürsorgehölle entsorgt und uns zum Wirtschaftsobjekt gemacht und damit sicher weit  mehr verdient als 1 DM pro Monat und Kind“, hat jemand ins Forum der Bergischen Diakonie geschrieben. „Ihr habt systematisch unsere Menschenrechte verletzt, psychische und physische Körperverletzung sowie sexuellen Missbrauch an uns begangen! Ihr habt uns als Heimzöglinge auf die unterste Stufe der sozialen Leiter geworfen und uns die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung versagt!“

Es geht nicht nur um einzelne Christinnen und Christen. Es geht um das Selbstverständnis der Diakonie. Wie konnte es soweit kommen? – Auf meiner Spurensuche gehe ich an die Anfänge zurück – an die 200 Jahre. In den 30-er Jahren des 19. Jahrhunderts begann die Internatsarbeit in Kanada, kurz darauf die Arbeit der Fürsorgerinnen in Kaiserswerth und die der Magdalenen-Asyle in Irland – und in diese Zeit fiel auch die Gründung des Rauhen Hauses in Hamburg. Johann Hinrich Wichern, dem Gründer des Rauhen Hauses, ging es um die Freiheit der Jungen,  mit denen er arbeitete – aber er tat sich schwer mit Gemeinheit und Pöbelhaftigkeit, wie er sagte.

Sprecher 6:

Da prallten zwei Welten aufeinander: Einerseits der Vorsteher, seine Familie, die Diakone mit ihren bürgerlichen Wertehimmel – andererseits die Jungen und Mädchen aus Hamburgs Unterschichten. Wichern sprach von Verwahrlosung und Verwilderung.

Aber das Rauhe Haus sollte kein Zuchthaus und kein Gefängnis sein, kein Arbeitshaus und keine Armenschule. Wichern ging es um freie Liebestätigkeit. Die Brechung des widerständigen Willens durch äußere Zwangsmittel, durch Wegsperren, Strafen, militärische Disziplin – das war nicht seine Sache. Aber auch er setzte auf klare Regeln, Strukturen und Kontrollen. Liebe ohne „Zucht“ war für ihn nicht denkbar – so wenig wie Zucht ohne Liebe.

Wie er sich die Liebe vorstellte, zeigte sich im Aufnahmeritual. Wenn das neu aufgenommene Kind gebadet und eingekleidet war, sprach ihm der Vorsteher unter vier Augen das Vergebungswort zu: „Mein Kind, dir ist alles vergeben. Sieh um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen bist. Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel – nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier, du magst wollen oder nicht; du magst sie zerreißen, wenn du kannst; diese heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld.“ 

Im Rauhen Haus wurde keiner eingesperrt. Aber wie passt es zur Freiheit, dass die Liebe als Kette beschrieben wird? Was großzügig sein soll, kommt hier doch von oben herab.

Nein, ich muss noch weiter zurück – zu dem, mit dem wirklich alles anfing. Zu Jesus. Um seinetwillen bin ich noch immer in meiner Kirche unterwegs. Er sei von ganz oben gekommen, schreibt Paulus einmal, und sei sich doch nicht zu schade gewesen, ganz menschlich zu sein.  Ja, er hat sich ausdrücklich mit den Kleinsten und Verachteten identifiziert. Ich bin sicher, auch mit den Kindern aus den Internaten in Kanada und in Hamburg, mit den Mädchen aus den Magdalenenheimen – schließlich wurde er am Ende selbst als Fremder aus der Stadt getrieben, als Verbrecher gekreuzigt. Wie konnte es passieren, dass man Jesus zur Leitfigur für tausendfachen Machtmissbrauch gemacht hat, zur „Rute“, mit der andere gedemütigt wurden? Ich schäme mich für meine Kirche, meine Diakonie.

Die Missionsschulen und Magdalenenheime sind geschlossen, an die Stelle der Fürsorgeheime sind Familien- und Wohngruppen getreten. Geblieben sind die Gräber, die verstörenden Akten – und die Erinnerungen. Wer dabei war, kann ein Leben lang nicht vergessen, was geschehen ist. Das gilt nicht nur für die Opfer. Ich denke dabei an die Rosenschwester in Kaiserswerth – so nannte man die alte Diakonisse, die immer die hellblaue Sommertracht trug. Sie hatte in einem der Mädchenheime gearbeitet und war zutiefst verstört. Wenn sie nicht in therapeutischer Behandlung war, nähte sie kleine Puppen, schön wie die von Käthe Kruse. Und sie verschenkte Rosen an jeden, der ihr begegnete. Vielleicht war das ihre Art um Vergebung zu bitten, habe ich manch-
mal gedacht. Oder einfach zurück zu finden zur bedingungslosen Liebe?

Es gilt das gesprochene Wort.


Deutschlandfunk DLF, Samstag, 9. Juli 2022, 6.35 Uhr

Forever Young?

Es sind die Augen. Die Augen wirken nicht lebendig, das trübt den Eindruck. Es liegt immer an den Augen, ob digitale Abbilder lebensecht erscheinen. Damit schlägt sich ganz Hollywood herum, seit bald 20 Jahren. Und nun auch ABBA.

Ende Mai gab es nach 40 Jahren endlich ein Wiedersehen mit der schwedischen Kultband. Nach fünf Jahren Produktionszeit feierte „Abba Voyage“ Weltpremiere. Und schon in der ersten Woche rückte das Album auf Platz 1 der Charts. In der Konzertshow standen allerdings nicht die leibhaftigen Bandmitglieder auf der Bühne, sondern ihre „Abba-tare“ – voll animierte, digital verjüngte Versionen im Siebzigerjahre-Look. Das Publikum war außer sich vor Begeisterung, man tanzte und klatschte mit. Die Musik ist zeitlos – forever young. Frida singt „Fernando“, sie sieht aus wie Frida, aber sie ist nicht Frida. Wer genau hinschaut, merkt: Ihren Augen fehlt der Glanz.

Bemerkenswert ist auch Bennys virtuelle Bühnenrede. Da spricht der Antreiber im „Voyage“-Projekt über das digitale Ich: „Sein oder Nichtsein, das hat jetzt keine Bedeutung mehr“, meint er. Wir könnten unser Leben ins Digitale verlängern – ich fürchte, das ist eine Illusion. Frida ist inzwischen 74, aber ihr digitales Ich ist noch immer 29. Gefangen in einem alten, jungen Körper.

Aus alten Fotos, Videos und Tonaufnahmen lassen sich inzwischen auch Verstorbene ins Leben zurückrufen- ins digitale Leben. Wir können uns virtuell mit ihnen treffen, uns austauschen und beraten. Was würden unsere Eltern zu dieser oder jener Entscheidung sagen? Was würde mein Bruder dazu meinen? Aber wissen wir das nicht längst? Hinter den Ratschlägen stehen doch nur die Erfahrungen von gestern. Das digitale Gespräch mit unseren Verstorbenen ist am Ende ein Gespräch mit unserer Vergangenheit – ohne Entwicklung in der Gegenwart. Soll mein Leben stehenbleiben bei denen, die schon gegangen sind? Ich mag nicht in einem Museum leben. Trotz aller Trauer will ich doch weitergehen – in der Hoffnung, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben bei Gott. Ich möchte nicht von der Jugend der 70er träumen, sondern mit den Jungen von heute ins Gespräch kommen. Ihre Musik entdecken, verstehen, welche Sorgen sie haben. Ich will mit anderen diskutieren, wie wir die aktuellen Herausforderungen bewältigen. Ich hoffe, ich bleibe neugierig auf das, was noch kommt. Gute Zeiten und schlechte Zeiten. Ich will darauf vertrauen, dass wir Menschen die Kraft haben, damit umzugehen. Dass wir uns verändern können, weil wir keine Avatare sind. Weil wir mehr sind als das, was wir aus uns selbst gemacht haben. Was war und was kommt, alle meine Zeiten stehen in Gottes Händen, heißt es in einem Psalmgebet. ( Ps. 31).

„Alter ist nichts für Feiglinge“, hat der Schauspieler Joachim Fuchsberger gesagt. Ob Frida ihre Tournee live durchhalten würde, wissen wir nicht. Die Rolling Stones müssen jedenfalls viel trainieren, um ihre Konzerte noch durchzuhalten. Ihren faltigen Gesichtern sieht man an, wieviel Jahre Erfahrung sie mitbringen. Keith Richards ist nicht forever young, aber er ist ganz da, ganz lebendig. Und alles andere als feige. Der Tag wird kommen, wo er nicht mehr auf der Bühne steht – ein Avatar wird ihn kaum ersetzen können. Und auch für mich kommt der Tag, an dem ich mich stellen muss. Meiner Verletzlichkeit, meiner Endlichkeit, meinen Grenzen. Immerhin: Frida, Benny, Agnetha und Björn waren bei der Premiere auch leibhaftig da. Sie haben ihre Abba-tare selbst vorgestellt. Erstaunt, neugierig und ein bisschen skeptisch schauten sie in diesem Moment zurück auf die, die sie mal waren. Ein vergangenes Ich, eine vergangene Zeit.

So auf das Leben zu sehen, das Vergangene loszulassen, das ist eine Kunst. Die Psychologin Verena Kast sagt, wir müssten lernen, abschiedlich zu leben. Uns nicht zu klammern an das, was wir waren oder was wir hatten, auch nicht an unsere Verstorbenen. Das Vergangene hinter uns lassen und aufbrechen zu neuen Ufern. Uns in die Augen schauen, so lange es eben geht. Genau darum geht es auch beim Altern. Auch, wenn wir erst 40 sind – oder 29.


Deutschlandfunk DLF, Freitag, 8. Juli 2022, 6.35 Uhr

Dem Rad in die Speichen fallen!

Hätte ich nur kurz noch einmal nachgesehen, dann wäre das nicht passiert. Da steht sie, eine junge Frau, und klagt sich selbst an. Ein demenzkranker Mann ist gestorben, weil er unter der Bettdecke keine Luft mehr bekommen hat. Wäre sie bloß noch einmal ins Zimmer gegangen. Aber an diesem Abend leuchteten überall auf dem Flur die roten Lämpchen. Die junge Frau ist Auszubildende im Krankenhaus. Eigentlich sollte sie nicht die Verantwortung tragen für das, was auf Station passiert. Aber sie waren eben knapp an Personal – wieder einmal.

Sie steht in einer großen Kölner Kirche – vorn am Lesepult . Der richtige Platz, um von den Menschen zu reden, die in den Kliniken und Pflegeinrichtungen allein gelassen werden. Da kann man nur noch schreien, klagen oder um Erbarmen bitten. Vorn im Chor sehe ich den Gekreuzigten in seiner Not. Und im Kirchenschiff dicht an dicht Kolleginnen und Kollegen der jungen Frau. Sie alle haben das Gefühl, dass niemand sie hört.

Seit neun Wochen streiken sie nun, die Pflegenden an den sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen. Sie streiken für ihren Tarifabschluss, vor allem aber um bessere Arbeitsstrukturen. Diese Woche wurde wieder verhandelt. Der Gewerkschaft geht es nicht nur um höheren Lohn; sie will eine Mindestbesetzung je Schicht und Station. Damit es nicht zu lebensgefährlichen Situationen kommt.

Eine Einigung ist schwierig. Aber ein längerer Streik sei den Patientinnen und Patienten nicht zuzumuten, meinen die Arbeitgeber. Ich verstehe das. Auch deshalb sieht das kirchliche Arbeitsrecht einen Streik gar nicht vor. Doch Personalmangel und Defizite in der Betreuung gibt es auch in den kirchlichen Häusern. Darüber muss offen gesprochen werden. Seit vielen Jahren wird der Pflegenotstand beklagt, bessere Bezahlung gefordert und attraktivere Arbeitsverhältnisse. Pflege ist systemrelevant – während der Pandemie war das jedem klar. Seitdem ist nicht viel passiert – außer der Corona-Prämie. Es ist höchste Zeit, dem Rad in die Speichen zu fallen, statt die Karre immer weiter in den Dreck fahren zu lassen. Längst haben

viele Pflegende den Beruf verlassen, weil sie keine Hoffnung mehr hatten. Zu wenig Personal, Coronavirus und Urlaub – ganze Stationen müssen jetzt geschlossen werden.

Dabei sind wir mitten im demographischen Wandel und immer mehr auf Pflege angewiesen. Die Babyboomer gehen in Rente – auch in der Pflege. Der Arbeitskräftemangel ist unübersehbar geworden – im Handwerk, am Flughafen, im Supermarkt – und auch bei Erzieherinnen und Pflegern. Und eine Lösung ist nicht in Sicht. Mehr Robotik, mehr Digitalisierung, bessere Bildung, mehr Migration? Und mehr Selbermachen? Das alles wird inzwischen diskutiert. Die Ahnung wird immer mehr zur Gewissheit: wir müssen alle lernen, mit Mangel umzugehen – nicht nur bei Strom, Gas und Benzin. Mit dem Überfluss scheint es vorbei zu sein. Ich fürchte, das gilt auch für das Gesundheitssystem. Für die Leistungen der Kassen, für Medikamente, OPs. Wir werden unsere Ansprüche herunterschrauben und uns daran gewöhnen.

Nur an einen Mangel an Empathie will ich mich nicht gewöhnen. Schon gar nicht gegenüber Kranken und Sterbenden. Es ist gut, dass die Pflegenden das auch nicht wollen. Niemand darf das von ihnen verlangen. Doch immer mehr sprechen vom „moral hazard“ – der Gefahr, dass Pflegende und Ärztinnen ihren Arbeitsalltag mit ihrem Gewissen nicht mehr vereinbaren können. Weil ihre Arbeit der Berufsethik nicht mehr entspricht. Und es gehört zur Berufsethik der Pflege, keinen Menschen allein zu lassen. Nicht gleichgültig bleiben, nicht weiter hetzen müssen – sondern stehen bleiben, wo Not ist. Wie der barmherzige Samariter. Mehr noch: Die Werke der Barmherzigkeit sind eine entscheidende Grundlage für das Miteinander in unserer Gesellschaft. Wenn diese Grundlage bricht, geht mehr zu Grunde, als mit Geld wieder gut zu machen ist. Deshalb bin ich froh, dass diese Gewerkschaftsversammlung in einer Kirche stattfand.

Wir sind gefragt. Mit unserem Engagement und mit unserer Fürbitte. Und auch als gutes Beispiel in unseren diakonischen Einrichtungen. Diskutieren Sie mit, auf Facebook unter „Evangelisch im Deutschlandradio“.


Deutschlandfunk DLF, Donnerstag, 7. Juli 2022, 6.35 Uhr

Die letzte Generation

Blockade an der Berliner Autobahn. Junge Leute haben den Verkehr lahmgelegt. In roten Warnwesten sitzen sie auf der Straße. Manche haben sich mit den Händen auf dem Asphalt festgeklebt. Ich bekomme schon Panik bei der Vorstellung. Autofahrer fürchten, zu spät zur Arbeit zu kommen – oder zu einem Arzttermin. Sie hupen, werden handgreiflich, einer tritt – bis endlich der Notarzt kommt und die Hände von der Fahrbahn löst, hat die Polizei viel zu tun. Warum macht man sowas?

Es ist der „Aufstand der letzten Generation“. Das Netzwerk ist überzeugt, dass wir die letzten sind, die verhindern können, dass die Erde unbewohnbar wird. Sie haben errechnet, dass wir die beschlossenen Klimaziele längst nicht mehr rechtzeitig erreichen. Aber „darauf zu vertrauen, dass Publikationen, Vorträge, Talkshow-Auftritte, Klimakonferenzen, Petitionen die Wende bringen – das ist sträflicher Leichtsinn“, sagt mir ein Geologe. All die dramatischen Kurven, die Klimakarten mit den roten Hitzezonen erreichten die Menschen nicht. Nur ziviler Ungehorsam könne zum Umdenken führen. Klar, das sei strafbar, auch schmerzhaft – aber es lohne. Das zeigten die Suffragetten, Martin Luther King, Mahatma Gandhi.

Hat denn niemand Angst, dass die Situation eskaliert? Wir stehen ohnehin vor einer Eskalation, sagt der Geologe. Wenn die Sommerhitze, die Überschwemmungen und die Dürre weiter zunehmen, kommen ganz neue Probleme auf uns zu. Die Wüsten wachsen, der Hunger nimmt zu. Die Migrationskrisen der letzten Jahre werden nichts sein gegen die, die noch kommen.  Der Wohnraum, die Nahrungsmittel würden nicht reichen.

Plötzlich habe ich apokalyptische Bilder vor Augen. Prallende Sonne über verödeten Städten. Schiffe im Suez, die ihre Ladung nicht mehr loswerden. Die nächste Flutkatastrophe, die ganze Dörfer unter sich begräbt. Migrantenboote, die im Mittelmeer untergehen. Und junge Leute, die sich mit ihren Computerterminals in verlassene Bergdörfer zurückgezogen haben, um den Kapitalismus zu stoppen, wie die Autorin Sibille Berg erzählt. Auch in ihrem Roman geht es um das letzte Aufbäumen der Menschheit. Wir leben in einer apokalyptischen Epoche – jede Menge Filme und Bücher erzählen vom kommenden Untergang.

Eines der ersten schrieb Johannes, der auf der Insel Patmos im Exil lebte. Seine Bilder sind unvergessen. Das Buch mit den sieben Siegeln, die Posaunen des Gerichts und die apokalyptischen Reiter.  Aber Johannes erzählt auch von der Stadt mit den zwölf Toren, die Menschen von überall her aufnimmt – aus Ost und West, von Nord und Süd. Die Stadtmauer leuchtet in allen Farben des Regenbogens. Und in der Mitte steht kein Palast und kein nationales Parlament, auch kein Tempel und keine Kirche – in der Mitte sitzt das verwundete Lamm auf dem Thron. Der Gefolterte, der Gekreuzigte. Von ihm geht alle Hoffnung aus.

Einmal werden die Wüsten wieder zu Gärten. Schwer zu glauben – ich weiß. Darum stecken manche lieber den Kopf in den Sand und machen einfach weiter wie gehabt. Manche hoffen, dass neue Techniken uns retten, andere träumen sich zurück in die vorindustrielle Welt. Und einige versuchen eben immer verzweifelter, die Politik zum entschiedenen Handeln zu bewegen – wie die letzte Generation.

Wo scheinbar alles auf den Abgrund zuläuft, erzählt Johannes vom Reich Gottes. Das ist keine virtuelle Welt wie das Metaversum. Hier werden die blutigen Kleider gewaschen, die Tränen getrocknet. Wenn alles chaotisch wird, stelle ich mir vor, was Johannes sieht:  Das verletzte Tier, die geschundene Erde – und die Hütte Gottes bei den Menschen. Die menschliche Stadt. Und dann weiß ich: Wer Vertrauen hat, kann tun, was nötig ist. Wie die jungen Leute, die den Plastikmüll aus den Meeren sammeln. Die Wissenschaftlerinnen, die Samenbanken für Pflanzen und Getreide anlegen. Die Mutigen, die mit Notarztteams in die Ukraine gehen. Und die Freiwilligen von der Seenotrettung, die Geflüchtete aus dem Mittelmeer retten. Das sind die Aktivisten, die mir Hoffnung machen – sie lassen mich an die neue Erde glauben.


Deutschlandfunk DLF, Mittwoch, 6. Juli 2022, 6.35 Uhr

Neue Kleider – Menschenwürde

Gleich neben dem Café im Kirchenladen gibt es eine Kleiderkammer. Vor Jahren, als ich dort arbeitete, war das ein richtig schöner Second-Hand-Laden, fast schon ein Vintage-Shop. Was es da für wenig Geld zu kaufen gab, war ganz moderne, hochwertige Kleidung. Gespendet meist von einem Bürgerclub aus der Nachbarstadt. Wie groß die Chance war, dort etwas Schickes zu finden – man sah es an den Gesichtern, wenn die Kunden ins Café zurückkamen. Aufrecht, mit geradem Rücken. Auch den Ehrenamtlichen, die dort arbeiteten, machte es Spaß. Ich erinnere mich an eine arbeitslose Schuhverkäuferin, die einfach wusste, was zu wem passte. Sie hatte einen Blick für die Menschen, zog die richtigen Blazer oder Shirts aus dem Regal und zauberte damit dieses Lächeln auf die Gesichter.

Von dieser Frau habe ich über die Jahre gelernt, was es wirklich bedeutet, einen Menschen zu kleiden. Es geht um Schönheit und Würde. Darum, dass ein Mensch sich selbst annehmen kann. Äußerlich, aber eben auch innerlich. Mich hat das an die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn erinnert. Der hatte große Träume gehabt, war dann aber tief gesunken – am Ende lebte er auf der Straße. Schließlich hat er nur noch eine einzige Hoffnung; er geht nach Hause zurück – zu dem Vater, dessen Erbe er durchgebracht hat. Ich sehe ihn vor mir in seiner zerrissenen Kleidung, den Rücken gebeugt. Aber der Vater erkennt ihn sofort, er läuft ihm entgegen und umarmt ihm. Und dann lässt er ihn neu einkleiden – ein teurer Anzug, neue Schuhe. Ich stelle mir vor, wie der Gebeugte, der verlorene Mensch sich aufrichtet, zu sich selber findet, sehe das Lächeln auf seinem Gesicht. Für die Bibel symbolisiert die Kleidung den Menschen, der sie trägt. Zieht den neuen Menschen an, schreibt Paulus einmal, als es darum geht, als Christ, als Christin zu leben. Wir können einander dabei unterstützen. Es fängt damit an, dass wir die anderen mit neuen Augen sehen.

In Kassel auf der Documenta-Kunstausstellung findet sich – mitten im Grünen gleich an der Orangerie – eine riesige Wand aus alten Stoffballen. Müll, den das Nest-Collectiv aus Kenia nach Europa gebracht hat – unter dem Motto „Return to Sender“. Es ist nur ein winziger Bruchteil der Massen von Kleidern, Hosen, Jacken, die wir hier Tag für Tag aussortieren und in Container werfen. Nicht als Abfall, sondern einfach, weil sie nicht mehr passen, nicht mehr modisch sind. Wenn ich das selbst nicht mehr tragen kann oder will, sollen wenigstens andere etwas davon haben. Eigentlich ein guter Gedanke. Doch längst ist ein riesiger industrieller Kreislauf entstanden: Allein in Deutschland werden jährlich 100 Millionen überflüssige Kleidungstücke produziert – fünfmal im Jahr für eine neue Saison. Auf schnellen Verbrauch hin kalkuliert und meist schnell verschlissen. 40 Prozent der Container-Kleidung ist nicht mehr tragbar, wenn sie in den armen Ländern ankommt. Der Rest zerstört Bekleidungsindustrie und Handwerksbetriebe dort. Mit den gebrauchten Jeans für einen Dollar kann dort niemand konkurrieren. Also trägt man im globalen Süden die abgelegten Kleider des Nordens. Fast Fashion, schon am Anfang der Lieferkette zu niedrigen Löhnen in Ostasien produziert, beherrscht den weltweiten Markt. Das Nest-Collectiv, das die Stoffballen zur documenta nach Kassel gebracht hat, führt allen die ganze Wahrheit vor Augen.

Denn es gibt auch eine Gegenbewegung und das Kollektiv ist Teil davon. Aktivistinnen, Designerinnen, Schneiderinnen in Kenia und hier haben selbst angefangen, alte Kleider zu recyclen – in Schneiderwerkstätten, für die Wochenmärkte, inzwischen auch mit neuen Modelabels. Aus alt und neu entstehen phantasievolle Patchworkkleider. Ganz individuelle Kleidungsstücke – wer sie trägt, erzählt etwas über die eigene Herkunft und die eigenen Träume. Solche Schneiderwerkstätten gibt es inzwischen auch bei uns. Auch so können wir einander helfen, zu uns selbst zu finden – man braucht nur Sensibilität, handwerkliches Geschick, einen kritischen Blick auf unsere Zeit – und einen Glauben, der in dem anderen mehr sieht, als jetzt vor Augen ist.


Deutschlandfunk DLF, Dienstag, 5. Juli 2022, 6.35 Uhr

Lumbung – genug für Alle

In Kassel auf der Documenta 15 steht eine nachgebaute Reisscheune. Über dem Flechtwerk des Dachs ist der blaue Himmel zu sehen. In solchen Scheunen lagert man die überschüssige Ernte, damit auch noch am Ende des Winters alle zu essen haben.  Sorge für das Gemeinwohl – Lumbung ist der indonesische Begriff dafür. Er gehört zu den Schlüsselworten der Kasseler Kunstausstellung. Die Documenta-Macher und Macherinnen sprechen von der „alternativen Ökonomie der Kollektivität“. Wo die Ressourcen gerecht verteilt werden heißt das, werden auch tragfähige Netzwerke für die Menschen geknüpft.

Was es bedeutet, wenn der Wohlstand ungleich verteilt ist, das spüren wir gerade: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird tiefer. Die Sorge wächst, dass am Ende eben nicht mehr alle auskommen.   Besonders deutlich wird das an den Tafeln. Bei 960 Tafeln in Deutschland retten die Engagierten überschüssige, noch immer einwandfreie Lebensmittel und verteilen sie an Menschen, die in Not sind. Pro Jahr sind es rund 265.000 Tonnen Lebensmittel, die an über 1,6 Millionen Menschen weitergegeben werden. Ehrenamtlich, mit viel Herz und Spaß. Aber die Überschüsse der Supermärkte sind nicht mehr so groß wie gewohnt. Die Energiepreise steigen, es wird teurer, Waren zu transportieren – viele müssen längst sparen und so bleibt weniger übrig für die Tafeln. Dabei steigt die Zahl der Bedürftigen: Rentnerinnen, Familien mit kleinen Kindern, Hartz-4-Empfänger und Geflüchtete aus der Ukraine. Sie stehen schon frühmorgens in der Warteschlange. Die Ehrenamtlichen an den Tafeln warnen: Sie können schon jetzt nicht mehr so viel geben, wie wirklich gebraucht wird.

Wer schon mal im Nahen Osten war, weiß, wie schnell es da dunkel wird. Es dauert oft nur eine halbe Stunde, bis über dem sonnigen Nachmittag die Nacht hereinfällt. So muss es auch an dem Abend gewesen sein, als Jesus mit ein paar Tausend Leuten in der Wüste war. Er hatte sie mit seinen Vorträgen begeistert; die Zeit war vergangen wie im Flug. Jetzt wurde es Abend an diesem unwirtlichen Ort. Die Leute brauchten Essen, Trinken, Schlafplätze. Es war höchste Zeit.  Während sie noch diskutierten, was zu tun war, sagt Jesus plötzlich wie selbstverständlich: „Gebt Ihr Ihnen zu essen“. Fangt einfach an. Tut, was ihr könnt.  Bringt mir, was Ihr habt – dann werden wir sehen.

Das ist das Prinzip Lumbung. Erstaunlich – am Ende reichen die Vorräte für alle. Von dem Überfluss der einen werden die anderen satt. Viele, die bei den Tafeln mitmachen, haben es genauso gemacht.

Jetzt aber reicht es nicht mehr – weder für die Armen hier noch in den Hungerregionen der Welt. Zeit, den Riss anzuschauen, der unsere Gesellschaft zerreißt, der unsere Welt zerreißt. Es kann nicht angehen, dass gerade jetzt in der Krise einige wenige immer reicher werden, während ein Fünftel der Gesellschaft vom eigenen Job nicht mehr leben kann. Es kann doch nicht sein, dass Russland den Weizen aus der Ukraine wegkarrt, während in Afrika ganze Regionen hungern. Es darf doch nicht sein, dass täglich 17.000 Tonnen Raps- und Sonnenblumenöl in Europas Auto-Motoren verbrannt werden (1).

Niemand müsste an Hunger sterben. Niemand müsste wegen der Mangelernährung krank werden. Es ist genug für alle da. Tatsächlich haben aber nicht nur die Armen Angst, zu kurz zu kommen – auch die, denen es im Weltmaßstab gut geht, fürchten um Wachstum und Wohlstand.

Dazu hat Jesus auch eine Scheunengeschichte erzählt. Die Geschichte vom reichen Kornbauern, dem seine Scheunen zu klein geworden waren. Er träumte davon, Vorrat zu lagern für viele Jahre – nicht nur für den nächsten Winter. Er träumte den Traum von „Wachstum bringt Wohlstand“. So ließ er die alte Scheune abreißen und investierte in eine größere. „Aber Gott sprach zu ihm: ‚Du Narr‘!“, heißt es in der Bibel. „Wenn du diese Nacht stirbst – wem gehört dann, was du angehäuft hast?“ Ein Virus genügt oder ein Kriegsausbruch – und plötzlich ist spürbar, wie zerstörerisch unsere Egomanie ist. Die Zukunft gewinnen wir nur gemeinsam. Und mit Lumbung.

Weitere Informationen zum Thema:

Literaturangaben:

https://www.spiegel.de/auto/biodiesel-und-nahrungsmittelkrise-19-millionen-flaschen-sonnenblumenoel-landen-in-autotanks-taeglich-a-2e83f5f8-0471-4db6-a072-5e9481bd3253


Deutschlandfunk DLF, Montag, 4. Juli 2022, 6.35 Uhr

Brunnen der Erschöpfung

„Es war die Hölle, unter Raketenbeschuss aus meiner Heimatstadt zu fliehen.» Das sagt der ukrainische Künstler Pavlo Makov über seine Flucht aus Charkiw. Die zweitgrösste Stadt der Ukraine war eine Kunstmetropole. Und Pavlo Makov war einer der bekanntesten Künstler dort. Mit seinen Radierungen, Drucken und Zeichnungen, mit Skizzen und Skulpturen hat er der Stadt ein Gesicht gegeben. Nun vertritt er sein Land auf der Biennale in Venedig.

Er war schon lange eingeladen, seine Skulptur zu präsentieren – „Brunnen der Erschöpfung“ heißt sie. Aber als die ersten russischen Bomben in Charkiw einschlugen war nicht klar, ob nach dem Künstler auch seine Kunst aus dem Kriegsgebiet herauskommt. Die 78 Trichter der Wasserinstallation vom „Brunnen der Erschöpfung“ lagen bei Kriegsausbruch noch in der Ukraine, erzählt Maria Lanko, die Kuratorin des ukrainischen Pavillons: „Wir haben begonnen, unser Lager zu räumen, als der Krieg nahte“. Die Trichter konnten sie in drei Kisten unterbringen. Die passten in ein Auto. Maria Lanko war selbst so mutig, sich ans Steuer zu setzen. So brachte sie das Kunstwerk durch den Beschuss über die Grenze nach Polen und von dort nach Venedig.

Der Brunnen der Erschöpfung ist eine Metapher für den Zustand der Ukraine. Durch die 78 Trichter der Installation fließt Wasser die Wand hinunter – oben noch reichlich, unten immer weniger, bis es am Schluss nur noch tröpfelt. Es ist aber auch eine Metapher für den Zustand unserer Welt – erschöpft von Social Media, Fake News und der Pandemie. Das Kunstwerk symbolisiere auch die Erschöpfung demokratischer Gesellschaften, meint Pavlo Makov. Die Gesellschaften seien nicht darauf vorbereitet, sich zu schützen. Bis zum Kriegsbeginn sei die Skulptur eine Warnung gewesen. Jetzt aber sei es ein Statement. Kunst „ist keine Medizin gegen die Krankheiten der Gesellschaft“, sagt Makov. „Aber eine Diagnose und ein Gegengift“.

Was hilft bei Erschöpfung, Überforderung und Leere? Ich denke an einen Brunnentrog in den Bergen: Wie gut es tut, das eiskalte Wasser mit den Händen ins Gesicht zu schöpfen. Oder die überlaufenden Brunnenschalen auf dem sommerlichen Marktplatz – die spielenden Kinder, die darin plantschen. Mir fällt auch ein Brunnenprojekt im Sudan ein – das Glück in den Augen der Mädchen, die das Wasser nun nicht mehr kilometerweit schleppen müssen. Und dann die Bibel: Sie erzählt von dem Dorfbrunnen, an dem Isaak und Rebekka sich zum ersten Mal treffen. Und von dem Brunnen, den Isaaks Vater Jakob gebaut haben soll – bei Nablus im heutigen Palästina.

An diesem Brunnen soll Jesus einer samaritanischen Frau begegnet sein; sie kam mit ihrem Krug, um Wasser zu schöpfen. Jesus hatte kein Gefäß, mit dem er schöpfen konnte, und der Brunnen war tief. Als er die Frau um Wasser bittet, weicht sie einen Schritt zurück – es gibt keine Gemeinschaft zwischen Juden und Samaritanern. Aber Jesus lässt sich nicht beirren, im Gegenteil: „Wenn du wüsstest, wer hier vor dir steht und dich um Wasser bittet – Du würdest ihn bitten. Er könnte dir lebendiges Wasser geben“.

Lebendiges Wasser. Ein Gegenmittel gegen die Leere unseres Lebens, denke ich. „Keine Medizin gegen die Krankheiten der Gesellschaft“, aber eine Diagnose und ein Gegengift.

Was Jesus da am Brunnen sagt, scheint zunächst rätselhaft, aber dann kommen die beiden auf das Leben der Frau zu sprechen. Ihre Sehnsucht, geliebt zu werden, ihre Erfahrung von Vergeblichkeit und Verlassenwerden. Viele Beziehungen – aber keine, die hielt. Sie muss sich fühlen wie der leere Krug, den sie trägt. „Wer aus diesem Brunnen trinkt, den wird immer wieder dürsten“, sagt Jesus. Und ich denke: Wir beuten die Energien der Erde aus, bis die Quellen leer sind. Wir zerstören unser Leben, weil das Streben nach immer mehr uns keine Ruhe lässt. Mit unserer Gier treiben wir die Klimakatastrophe voran, bis das Wasser ausgeht. Wie beim Brunnen der Erschöpfung.

Das „lebendige Wasser“, von dem Jesus spricht, „das wird eine Quelle in dir selbst.“ Was für ein wunderbares Bild. Ein Gegenmittel gegen die Erschöpfung, gegen die Leere unseres Lebens. „Keine Medizin gegen die Krankheiten der Gesellschaft“, aber eine Diagnose und ein Gegengift.

Weitere Informationen zum Thema:

https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/br/biennale-venedig-2022-ukraine-100.html


Deutschlandfunk DLF, Freitag, 12. November 2021, 6.35 Uhr

Dem Schmerz Raum geben

Gedanken zur Woche am 12.11.2021

Jesus muss wirklich wütend gewesen sein. Wahrscheinlich hat er Schlimmes gesehen: Wie Kindern Gewalt angetan wird. Wie die Kleinen verachtet werden, die Schwachen mit Füßen getreten werden.

Da steht er im Kreis seiner Jünger, in ihrer Mitte ein Kind. Jesus hat es dahin gestellt, weil seine Anhänger sich gerade gestritten haben: Wer denn der Größte wäre, der Beliebteste bei Gott. Und Jesus zeigt auf das Kind: So muss man sein, um wirklich groß zu sein. So voll Vertrauen, voller Hoffnung auf das Leben. Aber wer dieses Vertrauen missbraucht, sagt Jesus jetzt – und er sagt es laut und heftig – wer ein solches Kind verführt und ihm Gewalt antut: Der tut mir selbst Gewalt an; der hat hier keinen Platz.

In dieser Woche hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland öffentlich mit dem Schutz vor sexualisierter Gewalt beschäftigt –  auf der Synode in Bremen. Das Thema ist nicht neu – wahrhaftig nicht. Und es ist überall virulent, wo Abhängigkeiten herrschen und Menschen eng miteinander zu tun haben. In Familien und Vereinen, in Theatern und Redaktionen. Und auch in den Kirchen.  

Das macht mir besonders zu schaffen und es schmerzt.

Lange hat es so ausgesehen, als ginge es beim Thema Missbrauch vor allem um die katholische Kirche. Bei uns Protestanten gibt es ja keine Priester und kein Zölibat, keine Klöster und keinen Beichtstuhl. Bei uns, denkt man, ist alles weniger hierarchisch und mehr auf Augenhöhe, solidarisch und oft freundschaftlich. Aber auch das kann gefährlich sein und zum Einfallstor der Verführung werden. Davon haben die Betroffenen bei der EKD-Synode anschaulich berichtet. Das hat wehgetan und viele beschämt.

Der springende Punkt, meinte Prof. Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut, der springende Punkt ist, dass wir begreifen: Wir reden nicht nur über die Vergangenheit der Kirche. Wir reden auch nicht über die anderen. Wir reden über uns selbst und unsere Gegenwart. Und wir sind nicht die Guten, wir sind nicht die Besseren – auch wenn wir das so gern wären.

Seit 2010 in Ahrensburg ein sogenannter Missbrauchsskandal aufgedeckt worden war – damals trat die Bischöfin Maria Jepsen zurück – wurden in den Landeskirchen Kommissionen eingerichtet und Beauftragte bestellt. An die tausend Fälle sexualisierter Gewalt wurden ermittelt und im Blick auf Entschädigungen bearbeitet.  Aber ein Gesamtüberblick über Taten und Täterprofile fehlt bis heute. Nun will die Evangelische Kirche eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben, um die Strukturen des Missbrauchs in Gemeinden und Diakonie erforschen zu lassen.  

Für viele Betroffene kommt das zu spät. Kein Wunder, dass sie bitter enttäuscht sind. Zumal der Betroffenenbeirat, den die EKD eingerichtet hatte, im Sommer nach verschiedenen Konflikten ausgesetzt worden war. Offenbar fehlte das Vertrauen. Mehr noch: Das klare Bekenntnis zur Betroffenenbeteiligung, wie Detlev Zander sagt, der selbst als Kind sexuelle Gewalt erlitten hat- in einem Heim der Brüdergemeinde. Unter diesen Umständen könnten sie niemandem zu einem kirchlichen Verfahren raten, sagen zwei andere. Letztlich fehle dem Beirat ein verantwortliches Gegenüber, das dem Schmerz und der Wahrheit standhielte. Und dass den Betroffenen Mitspracherechte fehlen, wo es doch um ihre Sache geht, das mussten auch Bischöfe eingestehen. Viele waren erschüttert. Es gab sehr persönliche Entschuldigungen.

Und mir ist klar geworden, wieviel sich ändern muss. Im kirchlichen Recht, bei den Verfahren, bei der Unterstützung der Betroffenen. Es geht um Geld, um Stellen, vor allem aber um unsere Kultur.

Als Gemeindepfarrerin habe ich selbst erlebt, wie sehr sexuelle Gewalt noch immer ein Tabu ist. Aber Kinder und Jugendliche machen solche schlimmen Erfahrungen mitten unter uns. Und wer Macht hat, steht in der Gefahr, sie zu missbrauchen – auch in der Kirche. Um das zu begreifen und die notwendigen Schritte zu tun, brauchen wir die Stimme der Betroffenen. Es wird Zeit, sie überall in die Mitte zu stellen.

Wenn Sie mit mir darüber sprechen möchten: auf Facebook unter „Evangelisch im Deutschlandradio“. // …


Deutschlandfunk DLF, Samstag, 30.10.2021, 6.35 Uhr

Im Spiegel der Zeiten

Ich fand es am Büchertisch eines Museums – als wir endlich wieder Museen besuchen konnten. Ausgehungert nach Kunst und neuen Perspektiven.  Das kleine Buch trug den Titel „Bilder in der Pandemie“. Unwillkürlich griff ich zu: Welche Bilder machen sich Künstler und Künstlerinnen von dieser Zeit? Beim Blättern entdecke ich: Das Bändchen versammelt keine neuen Bilder. Es geht vielmehr um neue Blicke auf alte, bekannte Bilder. Es zeigt, wie Corona unseren Blick auf die Welt verändert hat. Viel war ja in letzter Zeit von Corona als Brennglas die Rede, in dem man deutlicher sieht, wo die Brüche und Probleme liegen. Aber es geht um mehr:  Wir deuten die Welt anders, sehen anders hin.

Zum Beispiel auf den Judaskuss von Giotto – ein Gemälde vom Beginn des 14. Jahrhunderts. Mit Farben und Linienführung lenkt der Maler den Blick in die Mitte des Bildes wie auf eine überbelichtete Stelle – dahin, wo die Umarmung des Judas in einen Übergriff umschlägt. „Das Fresco zeigt den Augenblick vor dem toxischen Kuss. Wir werden zu Zeugen dieses Angriffs auf Jesu unterhöhlte Abwehrkraft“, lese ich,  und „wir sehen die Folgen dieser verheerenden Infektion“.

Ein paar Seiten weiter eine Installation: zwei blaue Gummihandschuhe auf stählernen Attrappe. Sie rotieren, aber sie berühren sich nicht. Eine Anspielung auf Michelangelos Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle. Der weißhaarige Gottvater in seinem Himmel, der junge Adam auf der Erde – seine Hand reicht nicht hinüber. Social Distancing wie in der Pandemie. „Die Hand kann den anderen nicht erreichen, nur von innen können wir uns dem anderen nähern“, schreibt der Philosoph Slavoj Zizek. Nur ein tiefer Blick in die Augen, meint er, könne eine intime Annäherung offenbaren. Und so lenkt er meine Augen auf den Blickwechsel zwischen Adam und Gott.

Faszinierend, wie eine neue Zeit alte Bilder neu deutet. So geht es ja nicht nur mit der Kunst. Auch unsere Geschichte interpretieren wir immer neu – wir erleben das gerade am Beispiel des Kolonialismus. Dabei entsteht dann die Frage, ob und wie weit wir die Vergangenheit mit heutigen Maßstäben messen dürfen – oder ob gerade dieser Blick etwa zu Tage fördert, was vorher den Blicken verborgen war.  Die Männer, deren Namen wir gerade von Straßenschildern verbannen – handelten sie nicht nach den Maßstäben und Erwartungen ihrer Zeit? Ein entlastender – aber auch ein erschreckender Gedanke. Sind wir Gefangene unserer Zeit? Leben wir mit gehaltenem Blick, mit verstopften Ohren?

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild“, hat Paulus an die Gemeinde in Korinth geschrieben. Und er wusste, wovon er sprach. Wie viele andere in seiner Zeit hatte er die Minderheit der Christinnen und Christen verfolgt, weil sie sich nicht unterordnen wollten. Er sei mit Blindheit geschlagen gewesen, heißt es in der Apostelgeschichte. Das wurde Paulus aber erst klar, als er Christus selbst begegnete – als er seine Stimme hörte, warf es ihn um. Drei Tage lag er in tiefer Dunkelheit. „Wir sehen jetzt wie in einem Spiegel in einem dunklen Glas – dann aber von Angesicht zu Angesicht“, schreibt er nach Korinth. Die unmittelbare Begegnung mit Jesus hat ihm die Augen geöffnet, hat alles verändert.  

Ganz anders als wir, ist Jesus offenbar nicht in seiner Zeit gefangen.  Das fasziniert mich. In einer Zeit, als Kinder nichts galten, stellt er die Kinder in die Mitte. Er nimmt sie auf den Schoß, küsst und segnet sie. In einer Zeit, als Frauen vollkommen abhängig von ihren Vätern, Brüdern, Männern waren, macht er sie zu seinen Schülerinnen und wandert mit ihnen durchs Land. In einer Zeit, als Schuldsklaverei an der Tagesordnung war, erzählt er von dem Herrn, der seinen Knechten die Füße wäscht. Das alles können wir bis heute nachlesen und es hat unsere Maßstäbe verändert, ja, es hat die Zeiten verändert. So ist er nicht jenseits der Zeit, aber für Christinnen und Christen ihr Grund und ihr Ziel. Jesu Geist lebt in den Momenten, die uns die Augen öffnen und in den Prozessen, die unsere Welt verändern. Das hilft mir, wenn ich versuche, mir ein Bild von meiner Zeit zu machen. Und dann auch zu handeln. Nicht nur in Zeiten der Pandemie.


Deutschlandfunk DLF, Freitag, 29. Oktober 2021, 6.35 Uhr

Botschafter sein

Das war schon ein beeindruckender Aufmarsch letzten Samstag in Istanbul. Zehn schwarze Limousinen fahren vor, am Spiegel kleine Wimpel. Ich sehe die Landesfarben Deutschlands, Frankreichs, der USA und sieben anderer Länder. Türen klappen, die Botschafter steigen aus.  In einer Eingabe an den türkischen Präsidenten fordern sie Gerechtigkeit für den seit vier Jahren inhaftierten Osman Kavala. Dem türkischen Kulturmanager und Mäzen wird vorgeworfen, er habe die Gezi-Park-Proteste 2013 organisiert und am Putsch-Versuch von 2016 teilgenommen. Eine Verurteilung hat es bis heute nicht gegeben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte forderte deshalb 2019 einstimmig seine Freilassung. Der Europarat schloss sich an.

Der Protest der Botschafter war kaum eine Nachricht wert. Wohl aber die Reaktion darauf: Der türkische Staatschef Erdogan wies das Außenministerium an, die Diplomaten zu unerwünschten Personen zu erklären. Der nächste Schritt wäre die Ausweisung gewesen.

Wie das ist, Persona non grata zu sein, das habe ich einmal erlebt. Damals hatten alle etwas ganz Wichtiges zu besprechen, wenn ich den Raum betrat. Manche schauten minutenlang interessiert in ein Schaufenster, wenn ich vorbeiging. Und Freunde fragten, ob ich mir das denn unbedingt antun müsste – jetzt hier zu sein. Dabei bin ich gar keine Botschafterin. Aber man kann auch als Vertreterin der Kirche oder einer anderen Organisation provozieren oder stören.

Der Apostel Paulus meinte allerdings, dass alle Christen Botschafterinnen und Botschafter wären. Im zweiten Brief nach Korinth schreibt er:

„So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott.“ (2. Kor 5,20)

Im Konflikt um die Botschafter in der Türkei ist mir noch einmal klar geworden, was das heißt. Für Paulus repräsentieren Christinnen und Christen Gottes Reich mitten in der Welt. Sie mischen sich ein: „Mit ihrer Botschaft und mit ihrer Ordnung“ soll die Kirche „an Gottes Reich und an seine Gerechtigkeit erinnern“, heißt es in der Theologischen Erklärung von Barmen aus dem Jahr 1934. Im nationalsozialistischen Deutschland brauchte es Mut, sich dazu zu bekennen. Und heute manchmal auch.

Wer einmal längere Zeit im Ausland gelebt hat weiß, wie erleichternd es sein kann, eine deutsche Botschaft zu betreten. Das ist wie nach Hause kommen – ein Stück Heimat in der Fremde. Da kann man den Mund ohne Furcht aufmachen. Und wenn man in Schwierigkeiten steckt, wird einem geholfen. Ich habe das erlebt, als mein Mann auf einer Nahostreise ohne Grund festgehalten wurde. Und denke: das wäre doch etwas, wenn Christinnen und Christen für andere so ein Halt sein könnten. Und wenn die, die mit Kirche nichts am Hut haben, erkennen, wofür sie einsteht.

Aber: darf ich mich [FT1] einmischen? Ich finde, manchmal ist es einfach nötig, klarzumachen, wo Grenzen überschritten sind. So wie die Botschafter in Istanbul das getan haben. Da ging es nicht um die Kirche, sondern um Europa und die Nato, um Rechtsstaatlichkeit und um Gerechtigkeit für Osman Kavala. Um die Werte, die Menschen zusammenhalten. Die haben allerdings in Europa durchaus mit der Bibel zu tun.

Inzwischen sind die Diplomaten zurückgerudert. Sie wollen sich weiter an das Wiener Übereinkommen halten, das eine Einmischung in innere Angelegenheiten ausschließt.  Erdogan bucht das als Erfolg. Kavala sitzt weiter in Einzelhaft, seit vier Jahren ohne Urteil. Dabei tritt der Kulturmäzen konsequent für Versöhnung ein. Mit seiner Stiftung „Anadolu Kultür“ förderte Kavala Projekte zur Zusammenarbeit zwischen Türken und Kurden, zwischen Türken und Armeniern. (Er unterstützt auch den Austausch von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zwischen der Türkei und Europa). Kavala handelt ganz im Sinne europäischer Werte – er steht dafür ein, dass auch die Türkei die Vielfalt schätzt und den Zusammenhalt fördert.

Die Türkei ist Mitglied im Europarat. Ich hoffe, dass der im November Kavalas Freilassung durchsetzt. Und ich finde: Vielfalt und Gerechtigkeit brauchen viele und mutige Botschafter. Damit der Prozess der Versöhnung weiter geht.

Diskutieren Sie mit, auf Facebook unter „Evangelisch im Deutschlandradio“.

 [FT1]alternativ: Dürfen Christen sich einmischen?


Deutschlandfunk DLF, Donnerstag, 28.10.2021, 6.35 Uhr

Im Rhythmus der Zeit

Melancholie liegt in der Luft. Das bunte Laub ist gefallen, Äste ragen kahl in den Himmel. Allmählich ziehen die Nebel auf, die goldenen Herbstfarben verschwinden, es heißt Abschied nehmen von Licht und Wärme. Früher begann der Winter für die bäuerliche Bevölkerung im Oktober, am Gallustag, dem 16. Oktober. Zwei Wochen später, wenn die Ernte  eingefahren ist, folgt das Totengedenken. Die Grenze zwischen Himmel und Erde sei in diesen Tagen besonders durchlässig, meinten die Kelten. Und feierten All hallows eve. Allerheiligen und Allerseelen erinnern bis heute an die Vergänglichkeit des Lebens.

Das spirituelle Jahr und der Rhythmus der Natur sind seit Jahrhunderten eng miteinander verbunden. Zu meinen kleinen Schätzen gehört ein Buch über den Jahreskreis, das davon erzählt – vom Umgang mit dem Wachsen, Blühen und Früchte tragen, von alten Bräuchen und Bauernregeln und auch von religiösen Traditionen. Schließlich lehnt sich das christliche Kirchenjahr eng an die Jahreszeiten an und fußt oft genug in antiken oder keltischen Festen – von Ostern angefangen bis Weihnachten, von Michaelis bis Mariä Lichtmess.  Mein Buch erzählt auch von den Früchten der jeweiligen Jahreszeit. Die Natur hält die passenden Heilmittel bereit gegen Schwäche und Antriebslosigkeit, aber auch gegen die Melancholie dieser Zeit, meint die Autorin, Martina Kaiser. So kann man im Oktober Hagebutten finden – mit ihren Vitaminen ein gutes Mittel gegen Erkältungen.

Was wird aus all dem, wenn sich die Natur mit dem Klimawandel verändert?  Wie werden unsere Weihnachtsbäume aussehen, wenn die Nadelwälder absterben? Werden wir die Lieder vom Schnee noch lange singen?

„Hält der Oktober das Laub, wirbelt zu Weihnachten Staub“, hieß es in einer alten Bauernregel, aber: „Schneits im Oktober gleich, dann wird der Winter weich.“ Nein, in Deutschland gab es nicht immer Schnee im Winter – aber es war keine verrückte Idee, darauf zu warten. Es gab einen Frühling, in dem die Pflanzen nach und nach zu blühen begannen und die Frostnächte seltener wurden – und nicht so ein plötzliches Kippen in den Sommer. „Die Bauernregeln über das Wetter haben nie ganz gestimmt. Aber  heute sind sie außer Kraft gesetzt, weil das Klima aufgehört hat, verlässlich zu sein“, stellt die Philosophin Eva von Redecker fest. Die Sommer sind zu trocken, die Winter zu warm. Der Rahmen unserer Erfahrung ist gesprengt, die alten Kreisläufe kommen ins Schlingern wie der Jetstream, der unser Wetter beeinflusst. Die Orientierung an den Rhythmen der Zeit geht verloren. Das wird unser Weltbild verändern. Was hält uns jetzt, woran halten wir uns?

Vor einigen Jahren war ich kurz vor Weihnachten in Rio Grande du Sul, in Brasilien. Dort gab es überall Weihnachtsbäume zu kaufen – aber auch Elche und Weihnachtsmänner im dicken roten Mantel mit Schnee an der Mütze. Nur ist in Brasilien in dieser Zeit Sommer und es war heiß. Die Art, wie dort Weihnachten gefeiert wird, war importiert. Alte Bräuche  aus Europa. Mit der Geburt Jesu im Nahen Osten hatte das nichts zu tun. Damals habe ich meinen Großvater verstanden. Ich komme nämlich aus einer Tradition, in der die Bräuche des Kirchenjahrs  keine große Rolle spielten. In der Gemeinde meines Großvaters gab es keinen Weihnachtsbaum,  keine schwarzen Tücher am Karfreitag und keine Rückkehr der Glocken in der Osternacht. Er selbst war ein nüchterner Mann mit einem vernünftigen Glauben. Für ihn stand die Bibel im Mittelpunkt.  Sein Leitvers ging über die Zeiten hinaus: „Jesus Christus bleibt derselbe  – gestern und heute und in Ewigkeit“.

Jetzt  denke ich an diesen Jesus, wie er seinen Freunden die Lilien auf dem Feld und die Vögel unter dem Himmel zeigt und vom Vertrauen spricht. Er erzählt von dem Bauern, der seine Erträge immer weiter steigern wollte und immer größere Scheunen baute – nur mit dem eigenen Tod hatte er nicht gerechnet. Wie die Gier den Menschen und die Erde zerstört; das erfahren wir gerade  in großem Maßstab.

Wie sieht die Welt aus, wenn wir sie pflegen, statt zu herrschen? Und teilen, statt zu verwerten? Regenerieren, statt zu erschöpfen und retten, statt zu zerstören? Alles, was wir brauchen, ist ja längst da.  Das kann ich entdecken, wenn ich von Jesus lese. Auch ohne die schönen alten Rituale – einfach pur.


Deutschlandfunk DLF, Mittwoch, 27.10.2021, 6.35 Uhr

Wieviel Zeit bleibt uns noch

Das nächste Jahrzehnt wird über unsere Zukunft entscheiden. Ob es gelingt, die menschengemachte Erderwärmung zu beschränken – auf 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit?  Das wäre das Pariser Klimaziel, das 2015 von 196 Staaten und der EU beschlossen wurde. Um das bis 2050 zu erreichen, müssten die Maßnahmen sofort und konsequent umgesetzt werden. Mit dem, was bis heute beschlossen wurde, sind kaum 2 Grad zu schaffen. Laut UN könnten die CO2-Emissionen sogar bis 2030 um 16 Prozent steigen, statt sich um die Hälfte zu verringern, wie es notwendig wäre.

Fünf Jahre nach Paris beginnt nächsten Montag in Glasgow die nächste Weltklimakonferenz. Und die Aktivistin Vanessa Nakate aus Uganda sagt:  „Für viele von uns reicht es nicht mehr, zu reduzieren und zu vermeiden. Man kann sich nicht an eine Kultur des Verlustes anpassen. Man kann sich nicht an verlorene Traditionen anpassen. Man kann sich nicht an eine verlorene Geschichte anpassen. Man kann sich nicht an Hunger anpassen.“

Es ist ernst. Und dabei geht es auch um globale Gerechtigkeit. Auch in Sibirien, wo der Permafrostboden taut oder in Australien, wo die Waldbrände vor zwei Jahren schon zwei Drittel der jährlichen Emissionen verbraucht haben. Theoretisch ist mir das klar.  Aber erst die Flutkatastrophe diesen Sommer hat mich spüren lassen, was da auf uns zukommt. Das fordert zum Handeln heraus – und es macht mir Angst. Es ist, als ob die Zukunft vor meinen Augen schrumpft. Die Erde hat ein Verfallsdatum und das Ende kommt vielleicht schneller, als wir uns vorstellen können. Das nächste Jahrzehnt wird über unsere Zukunft entscheiden. Wie können wir damit leben?

Frank Schätzing hat einen Thriller daraus gemacht – voller Schreckensszenarien, mit motivierenden Ideen und praktischen Tipps.  Weltrettung, meint Schätzing – das ist keine Überforderung. Sondern ein ganz reales und lohnenswertes Ziel  „Was, wenn wir einfach die Welt retten?“ heißt sein spannende Buch. Ich gebe zu – erst einmal bin ich zurück gezuckt. Wie soll ich die Welt retten- ich bin doch nicht Gott… Und wer dieses Wir sein soll, weiß ich auch nicht recht.  – Aber dann spricht mich etwas an: Es geht ja gar nicht um uns – es geht um die Welt.

Es war ein Abend im März 2003. Ich war gerade aus den USA zurückgekommen; meine Freunde hatten mich gewarnt, jetzt nach Europa zu fliegen. An diesem Abend begann der zweite Irakkrieg. Bagdad wurde bombardiert. Und ich stand zuhause auf dem Balkon. Es dämmerte und die Vögel zwitscherten der untergehenden Sonne entgegen. Ein wunderbarer vielstimmiger Gesang, fremd und seltsam zum Bombenlärm in den Nachrichten. Noch immer ganz aufgewühlt von der hysterischen Stimmung in den USA stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ein Krieg diesem Wunder ein Ende machte.

Die Lage war bedrohlich –aber noch sangen die Vögel in meinem Garten. Ich gehöre zu der Generation, die mit der atomaren Bedrohung aufgewachsen und mit dem Nato-Doppelbeschluss erwachsen geworden ist. Und die beim GAU von Tschnernobyl den Kindern verboten hat, in den Garten zu gehen. Das waren die  Katastrophen, an denen ich gelernt habe, die Dinge radikal zu Ende zu denken. Aber an diesem Abend auf dem Balkon zeigte sich eine Welt, weit über meinen eigenen Horizont hinaus – Schönheit, Trost und Weite hinter der Angst.

Da war mir ganz klar: Was auch immer geschieht, ich will nicht, dass die Vögel aufhören zu singen. Dass die Bäume nicht mehr ausschlagen und die Bienen sterben. Ich wünsche mir, dass diese wunderbare Welt weiter besteht. Es geht nicht um mich, vielleicht nicht mal um uns. Es geht darum, die Schöpfung zu bewahren. Die Welt soll gerettet werden.

„Denn wir wissen ja, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und in Wehen liegt“, schreibt Paulus im Brief an die Gemeinde in Rom. Es ist nicht mehr viel Zeit und die Leiden werden immer sichtbarer. Es geht um das Leben, um die Zukunft. Aber die Angst, die ist ein schlechter Ratgeber. Ich vertraue lieber auf den kommenden Gott – und höre den Vögeln zu. Die singen schon vom neuen Tag. Ich will die Zeit nutzen, die mir noch bleibt, und einfach tun, was ich kann. Jetzt und in den nächsten Jahren. Es ist noch nicht zu spät.


Deutschlandfunk DLF, Dienstag, 26.10.2021, 6.35 Uhr

Keine Zeit zum Sterben?

Manchmal geschieht es, dass gesellschaftliche Prozesse unmittelbar in persönliche Erfahrung umschlagen. So ging es mir in der Corona-Krise mit dem Thema „Altern“.  Mit 62 war ich aus dem alten Job ausgestiegen; seitdem bin ich mit Vorträgen und Workshops unterwegs. Lange Zugreisen, unterschiedliche Menschen und Gruppen, inspirierende Tagungshäuser und neue Projekte – fünf Jahre lang standen die Türen offen. Dann kam der Corona-Shutdow. Ich hatte gelernt zu zoomen, die Arbeit neu sortiert, Kurzarbeit mit meiner Mitarbeiterin vereinbart– als sich mein Alter dazwischendrängte. Ich war fast 67, wie lange würde ich noch arbeiten? Lohnte es sich überhaupt, mich neu zu organisieren? Oder war es  Zeit, mich ganz zurückzuziehen? Fragen, die sich viele gestellt haben – im Beruf und auch im Ehrenamt.

Wer älter als sechzig war, gehörte plötzlich zur Risikogruppe. Dabei ging es nicht nur um Arbeit und Ehrenamt. Großeltern, bis eben noch als Unterstützung gefragt, durften nicht mehr auf ihre Enkel aufpassen. Bring Corona nicht zu Oma. Viele Ältere, die allein leben –  das sind fast die Hälfte – fühlten sich plötzlich einsam. Und in den Pflegeeinrichtungen führte der Schutz zur Isolation

Ich bin noch immer erschrocken, wie sich in dieser Krise die Altersbilder geändert haben. Plötzlich dominierte wieder ein fast vergessenes Bild: Das Alter als Zeit der Verletzlichkeit und Gebrechlichkeit. Die Alten als Risikofälle, Versorgungsfälle, auf die alle anderen Rücksicht nehmen müssen.

Inzwischen bin ich  beruflich wieder unterwegs, ich skype und zoome, aber  deutlicher als früher spüre ich: Meine Zeit ist begrenzt. Manchmal kommt mir der Begriff „Restlaufzeit“ in den Sinn. Tatsächlich verschiebt sich im Altern der Zeithorizont, die Frage wird drängender, wie wir die Jahre nutzen, die noch vor uns liegen. Corona hat diese Erfahrung verschärft. Ein Experiment aus einem Workshop fiel mir wieder ein. Nehmen Sie ein Zentimetermaß, schneiden Sie es oben bei 90 cm ab und unten bei Ihrem jetzigen Lebensalter. Was ich jetzt  noch in der Hand halte, ist  ein kleines Stück. Was geht jetzt noch?

„Da geht noch was“, heißt ein Buch von Christine Westermann – sie hat es sich zu ihrem 65. Geburtstag geschenkt. Darin erzählt sie von ihrer letzten Fernsehreportage beim WDR. Gedreht wurde ein Klosteraufenthalt. Zurück im Büro sah sie, wie die Sendung beworben werden sollte. „Christine Westermann: „Wieviel Leben bleibt mir noch?“, stand da. Geht gar nicht! „Die Leute denken, die hat eine todbringende Krankheit“, dachte Westermann. Oder „die ist stark vergreist und verabschiedet sich mit dieser Doku.“ Und dann schrieb sie an die Redaktion: „Wie viel Leben bleibt mir noch? Das ist keine Sinnfrage. Das ist eine Unsinnsfrage. Es geht nicht um das Wieviel. Das Wohin ist entscheidend.“

Am Sekretär meiner Mutter klebte viele Jahre lang ein kleiner Zettel. Als sie starb, habe ich ihn in mein Tagebuch geklebt. Da stand in der kleinen Handschrift meines Großvaters ein Zitat von Sören Kierkegaard.

„Noch eine kleine Zeit, dann ist`s gewonnen, dann ist der ganze Streit in Nichts zerronnen, dann werd‘ ich laben mich an Lebensbächen und ewig, ewiglich mit Jesus sprechen“.

Ein bisschen kitschig für meine Ohren, aber die Bilder, die ich dabei im Kopf habe, gefallen mir. Eine Holzbank in den Bergen, eine bunte Wiese, daneben ein schäumender Gebirgsbach. Wir trinken frische Schorle, reden, hören zu. Endlich Zeit, sich wirklich kennen zu lernen. Verstehen und verstanden werden – hier bin ich angekommen.

Das Wohin ist entscheidend, Christine Westermann hat Recht. Es hängt viel davon ab, ob ich mich auf eine solche Begegnung freue – oder ob da nur noch Abschied ist, Rückzug und Einsamkeit. „Eine kurze Zeit“ – das kann bedrohlich klingen oder erwartungsvoll. Je nachdem, ob ich eine Katastrophe erwarte oder ein Fest.

Der neue James Bond will es noch einmal krachen lassen – er wünscht sich einen letzten wunderbaren Abend, bevor die Welt untergeht. Zum Sterben hat er keine Zeit. Sören Kierkegard hofft auf etwas Anderes, eine neue Welt, die wir noch nicht kennen. Er kann gelassen bleiben, weil er sich auf Gott verlässt. In dieser Haltung ‚geht noch was‘. Das Beste kommt noch. Ich bin gespannt.


Deutschlandfunk DLF, Montag, 25.10.2021, 6.35 Uhr

Zeitenwende

Ein 50. Geburtstag in der Familie. Schön, sich endlich wiederzusehen – Face to Face und ohne Maske! Wir stoßen an auf das Neue, das kommt – und überlegen, wann wir uns zuletzt gesehen haben. Es war bei der Beerdigung einer Tante – ist das zwei oder drei Jahre her? Klar ist nur: Es war vor Corona.

Vor oder nach Corona – das ist die neue Zeitachse, auf der wir uns verorten. Was vorher war, verschwimmt im Nebel. Die Welt hat sich mit der Pandemie verändert. Und ich  mich auch.

Und das nicht nur wegen des Virus . Im Rückblick auf 16 Jahre Angela Merkel ist mir noch einmal klar geworden, wie viele Krisen wir in dieser Zeit erlebt haben. Flüchtlingsbewegungen, Klimawandel, Dürren und Überflutungen, schließlich das Debakel in Afghanistan – all das stellt meinen Lebensstil grundlegend in Frage. Von einer großen Transformation ist die Rede, einer Zeitenwende.

Vor und nach Corona. Vor und nach dem Krieg. Vor und nach der Wende. Was eine Zeitenwende wirklich bedeutet, lässt sich oft erst rückblickend erkennen. Wir spüren den historischen Einschnitt und sind doch dem alten Denken noch lange verhaftet. Es dauert, bis der Nebel sich lichtet und die Konturen des Neuen erkennbar werden. Klar ist nur: Es ist etwas geschehen, das unser Leben grundlegend verändert.

V.d.Z. schrieb man im Nationalsozialismus. Vor der Zeitrechnung. Meine Mutter zeigte mir das, als ich klein war – das große Z, das sie schrieb, hatte eine Schleife nach unten. „Die Lehrer, die uns das beibrachten, wollten nichts von Jesus wissen“, sagte sie. Tatsächlich teilen wir in den meisten Ländern der Welt den Zeitstrahl noch immer in die Jahre vor Christus und die nach Christus. Dass Gott in Christus zur Welt kam, hat alles verändert, heißt das. Seitdem rechnen wir anders, wir verorten uns anders, wir denken anders… Wirklich? Die Nazis waren nicht die einzigen, die den Bezug zu Christus vermieden – seit der französischen Revolution sagt man in Frankreich avant notre ère. Und in der DDR hieß die Standardformulierung v.u.Z.- vor unserer Zeitrechnung. Vielleicht ist das nur ehrlich? Allerdings geht auch diese Zeitrechnung von der Geburt Christi aus – auch wenn die nicht im Jahr 0 war, sondern wahrscheinlich im Jahr 7. .

Aber auf das Datum kommt es gar nicht an – entscheidend ist, ob die Welt mit Christus ein neues Gesicht bekommen hat. Ob sich seitdem wirklich alles verändert hat. „Blinde sehen, Lahme gehen, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündigt“ – so hat Jesus selbst diese Veränderung angekündigt.

Ich muss zugeben, der Tod hat noch immer große Macht. Aber ich sehe einen barmherzigen Umgang mit Kranken und Sterbenden. Nach schrecklichen Jahren des Kolonialismus wurde die Sklaverei endlich abgeschafft. Frauen, Kinder, Minderheiten und auch die Armen bekamen eigene Rechte und das Glück ist kein Privileg der Reichen – oder? Sind nicht viele  Super-Reiche noch reicher geworden in den Pandemiejahren? Wie viele Menschen starben, weil wir unseren Impfstoff nicht teilen wollten? Und wie viele werden als Arbeitssklaven rechtlos über die Grenzen geschleust, auch in Europa?

Ja, die Welt liegt im Nebel – viel kommt darauf an, ob ich in den Veränderungsprozessen das Neue erkenne. Ob es einen Paradigmenwechsel in meinem Leben gibt. Und ob das Evangelium dabei eine Rolle spielt. Ich kann das testen, wenn ich auf die Tage schaue, an denen sich bei mir Entscheidendes verändert hat. Der Tag, als ich meinem Mann begegnet bin. Als mein Vater starb. Als ich in den Slums von Rio stand. Als ich von den einstürzenden Twin Towers in NY hörte. Als Corona begann und die Schulen geschlossen wurden. Der amerikanische Theologe Sam Keen empfiehlt, sich an solche Tage zu erinnern. An die Erfahrungen, die uns erschüttert oder beglückt haben. An denen mein Leben einen anderen Klang bekam.  Wie an einem runden Geburtstag oder an Weihnachten. Meine Erfahrung ist: Wenn ich tatsächlich mit Christus lebe – und nicht nur nach Christi Geburt – dann wird mein Glaube ein Schlüssel zu den offenen Fragen meines Lebens, dem  Glück und  den Zumutungen. Dann kann das Neue sichtbar werden – wenigstens ab und an. Es ist wunderbar, wenn der Nebel sich lichtet. Heilige Tage sind das, die gilt es zu feiern. Stoßen wir darauf an


Deutschlandfunk DLF, 26.9.2021 8:35- 8:50 Uhr

Waren wir blind?

Missbrauchserfahrungen in der Kirche zur Sprache bringen

Autorin:

Wir kennen uns schon mehr als 40 Jahre – seit dem Konfirmationsunterricht. Nennen wir sie Katrin. 1982 habe ich sie konfirmiert, sie war schon 15 und kam ganz bewusst zu mir. Sie wollte von einer Frau konfirmiert werden. Später haben wir uns aus den Augen verloren – wir wohnen beide nicht mehr in der alten Gemeinde. Vor acht Jahren dann schickte sie mir eine Nachricht über Facebook. Sie sollte an der Hüfte operiert werden und hatte panische Angst. Ich wusste noch, dass sie von Geburt an eine Hüftluxation hatte – und erfuhr, dass sie schon zwei OPs hinter sich hatte. Aber diesmal war es anders: Sie hatte Angst vor der Narkose, Angst nicht wieder aufzuwachen, Todesangst.

So kamen Katrin und ich nach Jahren wieder ins Gespräch. Es wurde immer deutlicher: da musste noch etwas anderes sein. Katrin ging zur Pfarrerin in ihrer Gemeinde, übernachtete dort auch mal im Pfarrhaus. Und als die Symptome immer schlimmer wurden, als sie auch nachts um Hilfe bat, war Katrin mit einer Traumatherapeutin einverstanden. Es stellte sich heraus: Sie hatte über lange Zeit sexuelle Gewalt erfahren. Und jede Narkose erinnerte sie an die Ohnmacht, die Hilflosigkeit und die Todesangst, die sie damals erlebt hatte.

Was Katrin erlebt hat, ist hart. Schwer zu ertragen, was sie erzählt. Aber es tut ihr gut, endlich darüber sprechen zu können – nach den langen Jahren des Schweigens. Und wir müssen darüber sprechen, innerhalb und außerhalb der Kirche. Manchmal ist das eine Zumutung, das gilt auch für diese Sendung. Entscheiden Sie als Hörerin und Hörer bitte, ob Sie zuhören können und wollen. Katrin und ich hoffen darauf.

Wir sind über Social-Media im Kontakt, über die letzten Jahre immer wieder und vor dieser Sendung noch einmal sehr intensiv. Nach einer Kehlkopf-OP braucht Katrin eine Stimmprothese. Das ist auch ein Grund, warum jetzt eine Sprecherin ihre Worte spricht. Manchmal schickt Katrin mir eine Sprachnachricht, manchmal schreibt sie einfach. Wir sind vertraut miteinander. Und deshalb kann ich sie fragen nach ihren Erfahrungen mit Gewalt und Missbrauch.

Sprecherin:

Fällt mir schwer, davon zu erzählen, aber ich versuche es. Mein Vater war herrschsüchtig. Was er sagte, musste getan werde. Meine Mutter hatte nichts zu sagen, sonst bekam sie Schläge. Er war auch ständig besoffen. Mein Bruder und ich waren lieber friedlich und gehorchten, bevor wir auch Schläge bekamen. Wir durften nichts außer zur Schule und zum Konfirmandenunterricht. Durften nichts nach außen tragen. Sonst wären wir des Lebens nicht mehr sicher gewesen.

Autorin:

Irgendwann erzählte mir Katrin auch, was sie schon früh an sexueller Gewalt erlebt hat.

Sprecherin:

In meiner Kindheit bis weit hinein ins Jugendalter wurde ich ständig missbraucht. Meine Mutter sagte nichts, weil sie Angst hatte. Oftmals wurde sie in der Zeit eingesperrt. Manchmal gab mein Vater ihr was, dass sie schläft. Mein Vater sagte immer, so wird geliebt. Mein Bruder musste sogar mit mir schlafen. Auch andere Männer. Da kassierte mein Vater dann Geld ein von den anderen Männern.

Autorin:

Mich interessiert, ob Katrin mit ihrer Mutter darüber gesprochen hat.

Sprecherin:

Nein, habe ich nicht.

Kurz nach der Konfirmation war ich schwanger von meinem Vater oder Onkel. Da wurde mir der Fötus aus dem Leib getreten. Ich verlor den Fötus dann alleine auf der Toilette. Zum Arzt durfte ich nicht.

Meine Mutter tat nichts, weil die Angst größer war vor Schlägen.

Autorin:

Bis heute weiß Katrin nicht so richtig, was ihr geholfen hat, das durchzustehen.

Sprecherin:

Vielleicht, dass es irgendwann ja mal vorbei ist.

Und dann half mir der Glaube.

Autorin:

Als Konfirmationsspruch hat Katrin damals Psalm 23 gewählt.

Sprecherin:

Weil ich ihn einfach schön fand. Er gab mir Zuversicht und Hoffnung. Früher nach der Konfirmation habe ich den Psalm oft innerlich gebetet, wenn mein Vater mich mal wieder missbraucht hatte. Heute bete ich ihn bei unangenehmen Eingriffen. Manchmal habe ich aber auch gezweifelt, brachte den Psalm nicht über meine Lippen. Hatte das Gefühl, Gott verlässt mich. Gelernt habe ich, dass Gott aber immer da ist, selbst wenn ich nur Dunkel um mich habe. Das gibt mir Ruhe. Das habe ich immer gespürt, wenn ich den Psalm im Gospelchor sang.

Autorin:

Als mir klar wurde, was damals mitten in meiner Pfarrgemeinde geschah, bin ich zutiefst erschrocken. Denn Kathrin war ein richtiges Gemeindekind. Sie kam nicht nur zum Konfirmationsunterricht; bald schon arbeitete sie in einer Kindergruppe mit, sie half beim Kindergottesdienst und auch im Quartierscafe.

Sprecherin:

Die Gemeinde war für mich ein Zufluchtsort. Da fühlte ich mich wohl und angenommen. Mir wurde etwas zugetraut. Ich fühlte mich einfach mehr zu Hause dort als bei meinen Eltern. Zu Hause war ich nur Ängsten ausgesetzt. Kam mir wie eingesperrt vor. In der Gemeinde fühlte ich mich frei. Da fand ich auch den Weg, mit Kindern zu arbeiten.

Ich merkte schnell, dass ich Kindern was geben kann, was ich zu Hause nie bekommen habe – zum Beispiel Geborgenheit. Nach einem Jahr entschied ich mich dann, ein Praktikum zu machen im Kindergarten und es macht mir riesigen Spaß. Danach begann ich den Beruf als Erzieherin.

Autorin:

Ich frage Katrin, woher sie die Kraft nahm, Geborgenheit zu geben?

Sprecherin:

Die Kinder haben mir die Kraft gegeben, auch Mitarbeiter, die mich gefordert haben. Aber ich merkte auch, dass mir der Glaube half. Mir wurde etwas zugetraut und öfters auch gesagt: „Du schaffst das, Du kannst das!“ Es war befreiend, anderen helfen zu können, dass diesen nicht das Gleiche passiert wie mir. Ich dachte aber auch, wäre das anders gelaufen bei mir, wenn ich was gesagt hätte? Man war mir damals so nah in der Gemeinde. Trotzdem habe ich aus Angst nichts gesagt.

Autorin:

Warum hat bloß niemand etwas gemerkt?

Sprecherin:

Vielleicht weil sich keiner vorstellen konnte, das was nicht in Ordnung ist. Oder weil ich es so gut verbergen konnte.

Autorin:

Es ist (für mich) schwer zu verstehen: Katrin hat in der Gemeinde einen Schutzraum gefunden – und auch einen Kraftraum. Der Glaube hat ihr Kraft gegeben, sie hat ihre Gaben entdeckt, konnte sich weiterentwickeln. Und trotzdem blieb der Missbrauch verborgen. Ein Tabu –  sie selbst hat nicht gewagt, darüber zu sprechen. Und wir, ich selbst – wir waren offenbar blind. Und währenddessen ging die Gewalt zu Hause weiter, bis sie mit 22 endlich auszog.

Sprecherin

Er war mal nicht da und dann ging ich. Nahm nur das Nötigste mit. Ich bin zum Sozialamt gegangen. Und während der Erzieherausbildung bekam ich noch Bafög dazu.

Ich brauchte Abstand. Meine Eltern wussten auch nicht, wo ich wohne. Irgendwann meine Mutter, aber nur kurz. Hatte sich von meinem Vater getrennt und zog nach Wismar. Später beging sie dann Suizid.

Autorin

Das war der Moment, in dem Katrins Mutter Großmutter hätte werden sollen.

Sprecherin:

Genau. Und was macht sie? Ergreift die Flucht auf andere Art, indem sie sich umbringt. Fühlte mich zum zweiten Mal im Stich gelassen.

Autorin:

Denkst du, sie kam mit ihrer Schuld nicht klar?

Sprecherin:

Das denke ich.

Autorin:

Kannst Du ihr verzeihen?

Sprecherin:

Ja, mittlerweile. Nur meinem verstorbenen Vater kann ich nicht verzeihen. Manchmal kommt mir alles hoch. Auch wenn ich heute darüber schreibe.

Autorin:

Auch Katrins Bruder hat sich das Leben genommen.  Katrins Vater hat fast die ganze Familie zerstört. Sie schreibt mir, was sie empfindet…

Sprecherin:

Abscheu. Ich verabscheue ihn. Ich hasse ihn. Manchmal würde ich das am liebsten aus mir rausschreien. Aber es tut schon gut, einfach mit jemand darüber zu reden. Dann kann ich zur Ruhe kommen.

Autorin:

Die Auseinandersetzung mit dem Suizid von Mutter und Bruder war furchtbar. Ihr ganzes Glück, ihre Hoffnung und ihre Freude ist ihre Tochter, wir nennen sie hier Johanna.

Sprecherin:

Johanna interessiert sich fürs Tanzen. Sie malt gern und kann auch gut zeichnen. Sie verbringt gerne Zeit mit Freunden. Liest gern und ist sehr wissbegierig. Hilft bei der Kinderbibelwoche und auch bei Familiengottesdiensten.

Ich bin glücklich, dass es sie gibt. Bin stolz darauf, dass sie trotz meiner Krankheit so stark ist. Bin aber auch stolz, dass sie ihre Schwächen zeigt. Ich bin stolz darauf, dass sie ihre Schule so gut meistert. Sie weiß, was sie will. Ich bin dankbar, dass Gott mir so ein wunderbares Kind geschenkt hat. Ich bin auch dankbar, dass für sie gut gesorgt mit und dass Menschen für sie da sind und sie liebhaben.

Autorin:

Und zur Konfirmation hat Katrin ihr eigenes kleines Konfirmationskreuz geschenkt. Sie wollte ihr mitgeben:

Sprecherin:

Dass der Glaube was Schönes und Wertvolles ist. Dass der Glaube an Gott was Wunderbares ist.

Autorin:

Als Katrin anfing, über ihre Missbrauchserfahrungen zu sprechen, über Gewalt und Tod in der Familie, kam viel in Bewegung. Sie studierte Heilpädagogik und setzte sich mit dem Thema Behinderung auseinander. Ihr Vater, sagt sie, hat sie verachtet und auf allen Ebenen degradiert „Du bist nichts, du kannst nichts, Dir hört sowieso keiner zu“, war die Devise. Jetzt schloss sie ihr Studium ab und arbeitete als Inklusionslehrerin an der Schule. Und sie liebte die Arbeit; sie konnte zeigen, welches Potenzial in ihr steckt und sie blühte auf.

2017 wurde dann bei Katrin eine Autoimmunerkrankung diagnostiziert. Sie bekommt immer wieder schwere Entzündungen. Das Kortison dagegen verschlechtert ihre Osteoporose, das führt zu Knochenbrüchen.

Sprecherin:

Manchmal denke ich, was mir noch alles passiert. Wurde mir nicht schon genug angetan? Das Kortison ist für mich wichtig, um zu überleben, aber manchmal fühle ich mich einfach Scheiße damit. Denke dann, was kommt noch alles.

Früher wurde mir wehgetan. Ich habe manchmal gedacht, dass mich das alles krank gemacht hat – und so sagen es auch die Ärzte. Mein Körper hat im Angst-Alarm alle Ressourcen verbraucht: Adrenalin, Serotonin, Kortisol. Dann denke ich wieder: hätte ich mal was gesagt, dann wäre ich heute nicht so krank. Denke dann wieder, dass ich selbst schuld bin.

Autorin:

Manchmal scheint mir, Kathrins Krankheit ist die Fortsetzung der alten Geschichte. Ein Kampf mit ihrem Vater und mit den Schuldgefühlen, die er ihr eingeredet hat. Ich bitte sie, sich selbst zu verzeihen, dass sie aus Angst geschwiegen hat. Vielleicht auch uns, weil wir so blind waren. Und ich hoffe mit ihr, dass sie gut zu sich sein kann, trotz Krankheit. Mit der Krankheit.

Sprecherin:

Ja, das sollte ich. Und leben will ich, nicht nur überleben. Für meine Tochter und für mich. Und alle, die mich lieben.

Autorin:

Während Kathrin das ins Smartphone spricht, liegt sie seit sechs Monaten im Krankenhaus. Die Corona-Impfung hat sie nicht gut verkraftet. Entzündungen und Knochenbrüche haben zu Amputationen geführt. Das waren Situationen großer Ohnmacht. Retraumatisierungs-Erfahrungen. Sie war wie erstarrt, konnte kaum Entscheidungen treffen. Dass sie heute ihre Geschichte erzählten kann, das ist für Katrin zentral.

Manchmal denke ich wie Katrin: Hätte sie eher darüber sprechen können, wäre die Krankheit nicht so zerstörerisch geworden. „Es ist, als ob du mit einer offenen Wunde rumläufst, und keiner sieht es“, hat eine Betroffene gesagt. Aber die Gemeinde sollte doch ein Schutzraum sein, wo wir uns zeigen können, wie wir sind und wo alles zur Sprache kommen kann. Auch das Böse, das uns widerfahren ist. Warum war Missbrauch dann ein Tabu damals, vor 40 Jahren? Bei wie vielen anderen habe ich nichts gesehen?

Seit einigen Jahren schauen wir endlich auf den Missbrauch, der in Institutionen passiert – in Schulen, in Sportvereinen und auch bei uns in den Kirchen haben Haupt- und Ehrenamtliche Kinder und Jugendliche missbraucht. Seit etwa fünfzehn Jahren verlangen wir Führungszeugnisse, schulen Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen und Ehrenamtliche, aufmerksam zu sein und die Dinge ins Gespräch zu bringen. Und versuchen Orte zu schaffen, wo Kinder und Jugendliche sich sicher fühlen können. Es geht um stabile, schützende Beziehungen – wenigstens die hat Katrin bei uns gefunden. Davon erzählen auch die Lieder, die sie für heute ausgesucht hat.


Deutschlandfunk DLF, Köln
Morgenandacht, (evangelisch), 21.03.2021, 8:35

„Sterben in der Nachbarschaft
Noch immer ein Tabu?“

Mein Buch der Stunde kommt von Thea Dorn. „Trost“ heißt es – ein Buch für alle Untröstlichen. Ein Corona-Buch. Es erzählt die Geschichte von Johanna und ihrer Mutter, die nach einer Italienreise einsam im Krankenhaus stirbt. Johanna verzweifelt, sie wütet, schreibt an ihren alten Philosophielehrer: „Der Tod ist ein Inbegriff von roher, absoluter Macht“. Dass sie sich nicht verabschieden konnte, nicht noch einmal mit der Mutter sprechen, das war für Johanna eine unerträgliche Ungerechtigkeit.

Viele haben das so empfunden in diesem Jahr. 70.000 Menschen sind gestorben – die allermeisten im Krankenhaus, auf der Intensivstation, im Pflegeheim. Angehörige fühlten sich „ausgesperrt“. Und die Pflegenden waren kaum zu erkennen, wenn sie das Zimmer mit Schutzkleidung und Maske betraten.

Das alles hätte ich mir bis vor einem Jahr nicht vorstellen können. 40 Jahre nach Beginn der Hospizbewegung geht es vor allem um die Auslastung des Gesundheitssystems, um Intensivbetten und Beatmungsgeräte, Medikamente und Hochleistungsmedizin, wenn über das Sterben gesprochen wird. Angst und Einsamkeit haben wenig Platz, auch Trauer nicht.

„Trost“ finde ich in diesen Wochen in der Passionsgeschichte. Da findet der Tod nicht hinter verschlossenen Türen statt, sondern öffentlich, auf Golgatha. Da hat der Schmerz seinen Platz, die Schreie und die Tränen. Aber auch die zärtlichen Gesten der Liebe. Die Freundin, die Jesu Füße salbt. Das letzte gemeinsame Essen mit Brot und Wein. Die heimlichen Gespräche in der Nacht.

Mich erinnert das an die Anfänge der Hospizarbeit, der Sterbebegleitung. Damals, vor mehr als 50 Jahren, erschien ein Fotobuch von Elisabeth Kübler-Ross; es hieß „Leben, bis wir Abschied nehmen“. Die Bilder zeigen eine krebskranke Frau – von der Krankheit gezeichnet, aber schön geschmückt. Ein Krankenbett im Wohnzimmer mitten im Kreis der Freundinnen und Freunde, die gemeinsam alte Fotos ansehen.

So möchte ich sterben – bewusst, in Würde, umgeben von Menschen, die ich liebe. Und das geht nicht nur mir so: 80 Prozent der Menschen möchten so sterben. Aber auch ohne Corona sterben 75 Prozent in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und nur 2-3 Prozent in Hospizen. Wie kann das sein? Darüber habe ich gesprochen mit Anke Reichwald, Geschäftsführerin bei Diakovere in Hannover mit dem Aufgabenbereich „Ambulante und stationäre Hospiz- und Palliativarbeit“.

Die meisten Menschen versterben, trotz anderer Wünsche, nicht in ihrem Zuhause. So müssen wir die Frage stellen, ob „Sterben zu Hause“ ein erfüllbarer Wunsch ist bzw. welche Voraussetzungen er erfordert. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Gründe, warum Menschen zu Hause sterben wollen – so wie wir Menschen eben unterschiedlich sind.

Diejenigen, die in einem guten familiären Umfeld leben, möchten die engen Beziehungen nicht aufgeben. Das hat sicherlich auch viel mit Selbstbestimmung zu tun. Wann möchte ich schlafen gehen, wie lange möchte ich schlafen, ich darf meine Lieblingsspeisen wünschen… vieles, was zumindest in Krankenhaus- und Pflegeheimstrukturen nicht umsetzbar ist. Es ist aber auch die Angst vor Neuem – was erwartet mich dort? Hier weiß ich was ich habe, hier kenne ich mich aus… Nicht zuletzt spielen auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle: Meine Rente ist für eine Pflegeeinrichtung nicht ausreichend – ich möchte meine Kinder aber finanziell nicht belasten.

Sterben möchte ich als Teil meines Lebens ansehen und, soweit möglich, auch bewusst gestalten. Wie unterschiedlich die Vorstellungen von Lebensqualität am Ende  sein können, hat mir Anke Reichwald erzählt:

Mir fallen zwei Patienten ein. Der erste, ein 65-jähriger Mann mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, bekam von seinem Facharzt die Mitteilung, er solle jetzt ins Hospiz gehen, es sei nichts mehr zu machen. Der Schock saß tief – als ausgeprägter Familienmensch konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, von Frau, Tochter und dem kleinen Enkelsohn fortzugehen. Wir haben nach einem ausführlichen Gespräch einen Plan für die häusliche Versorgung erstellt, der den ambulanten Pflegedienst, den Hausarzt und das Palliativteam eng vernetzte. Acht Wochen lebte er noch – man weiß nicht, wie viel Zeit ihm allein dadurch gegeben wurde, dass der kleine Enkel ständig um ihn war – aber man ahnt es! Bei diesem Patienten bestand die „Lebensqualität“ also in der Beziehung zu nahestehenden Menschen.

Der andere Patient, an den ich denken muss, ebenfalls an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, ist noch recht beschwerdefrei, setzt sich sehr bewusst mit seinem Sterben auseinander. Er plant genau die Zeit, wenn er mehr Sicherheit und Hilfe in der der Versorgung benötigt und hat sich derweil ein Hospiz angeschaut. Er möchte, wenn es soweit ist, selbst entscheiden können, wohin er geht. Für diesen Patienten ist die „Wahrung der eigenen Entscheidungskompetenz“ also seine Lebensqualität.

Und ebenso unterschiedlich wie die Vorstellung von Lebensqualität sind die die Bedarfe der Betroffenen: Eine Frau, die zu Hause kleine Kinder hat und selbst unter einem metastasierenden Brustkrebs leidet, wird vor anderen Herausforderungen stehen als ein Mann, der im Alter von 76 Jahren an einem Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt.

Der Wunsch nach Lebensqualität am Ende des Lebens – das ist nicht nur eine persönliche Frage. Es geht auch um organisatorische und um politische Herausforderungen.

Wir wissen, dass Klinikaufenthalte oft die Folge mangelhafter Versorgung zu Hause oder in Alten- und Pflegeheimen sind. Ein Abbau von Krankenhauseinweisungen geht aus meiner Sicht nur mit einem Ausbau und der Re- Organisation ambulanter Versorgung. Die umfänglichen Finanzierungsmodelle ambulanter Versorgung, die nach Bundesländern völlig unterschiedlich aussehen, sind keinesfalls kostendeckend.

Ambulante Pflege ist aufgegliedert in einzelne Leistungen der Pflegeversicherung und der Krankenversicherung. Nur lassen sich schwerkranke und sterbende Menschen nicht in Einzelleistungen zerteilen! Häufig notwendige Maßnahmen der Schmerz- und Symptomkontrolle, wie das Anlegen und Befüllen von Schmerzpumpen, komplementäre Pflegemaßnahmen, das Legen von Nadeln zur Infusionstherapie – all diese häufig zwingend erforderlichen Maßnahmen finden wir nicht in den Leistungskatalogen. [FMT1] Wenn wir schwerkranke Menschen in ihrem Zuhause versorgen möchten, benötigen wir viel mehr Flexibilität.

Menschen in solchen Krisensituationen und Angehörige brauchen aber vor allem Sicherheit, Gespräche und die Vorbereitung auf möglicherweise eintretende Situationen. In den letzten Tagen und Stunden tritt zum Beispiel häufig die sogenannte terminale Unruhe auf – eine Situation, die große Angst verursacht und ohne eine Vorbereitung meist dazu führt, dass Angehörige den Notarzt rufen. So kommt es dann zu vermeidbaren Krankenhauseinweisungen. Die Angehörigen brauchen die Gewissheit, dass sie 24 Stunden an 7 Tagen in der Woche verbindlich jemanden erreichen zu können – die Gewissheit, dass bei Bedarf jemand zur Unterstützung kommen wird.

Es fehlt also an Geld, vor allem aber an Flexibilität und an Zeit. Die Corona-Pandemie zeigt das wie in einem Brennglas: In den Medien ging es meist um die Pflegeheime, aber die meisten Pflegebedürftigen leben zu Hause. Und gerade jetzt fühlten sie sich regelrecht vergessen. Zuletzt wusste keiner so recht, wie die Hochaltrigen zu Hause geimpft werden sollen – und ihre Angehörigen wurden zunächst überhaupt nicht bedacht. Dabei sind viele längst total erschöpft. Im Lockdown kam der Pflegedienst oft seltener. Kinder und Enkel durften nicht mehr kommen, Nachbarn nicht mehr aushelfen.

Aber auch ohne Corona kommt in Zerreißproben, wer für Pflegebedürftige und Sterbende da sein will – zeitlich und auch finanziell. Viele Familien leben längst nicht mehr an einem Ort. Die zunehmende Mobilität, die selbstverständliche Berufstätigkeit von Frauen und der demographische Wandel haben dazu geführt, dass Menschen in stationäre Einrichtungen gehen, weil sie allein nicht mehr zurechtkommen. So oder so – die Hochbetagten und Pflegebedürftigen sind immer mehr von Exklusion betroffen. Und die Debatten um Corona und Pflegenotstand lassen die Ängste wachsen, dass wir nicht gut versorgt sind, wen wir nicht mehr selbst für uns sorgen können.

Das ist der Grund, warum sich immer mehr „Sorgende Gemeinschaften“ zusammenfinden. Es geht um wechselseitige Unterstützung, und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. In Seniorenwohngemeinschaften zum Beispiel oder in der Nachbarschaftshilfe. Einander aushelfen mit Einkäufen, bei Arztbesuchen oder einfach da sein, damit die Angehörigen einmal rauskommen. Der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf gründete mit seiner Frau Luise und mit Freunden eine Wohngenossenschaft, eine Wahlfamilie aus mehreren Generationen. Scherf wirbt dafür, dass die Pflege endlich besser finanziert wird. Es müsse Schluss sein mit „sparen, sparen, sparen“. Und wir müssten das Tabu brechen und über das Sterben reden, sagt Scherf. „Das letzte Tabu“ heißt denn auch das Buch, das er zusammen mit Annelie Keil geschrieben hat. „Der Tod verlangt inmitten der jeweils besonderen Situation die Bereitschaft, sich dem Geschehen offen zu stellen“, heißt es da. „Nichts ist versprochen, aber vieles ist möglich. So merkwürdig es klingt: Kreativität ist gefragt.“  

Sterben darf kein Tabuthema sein. Das meint auch Anke Reichwald von der Diakonie:

Der Tod wird verdrängt – selbst in Zeiten von Covid-19. Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht – das sind wichtige Instrumente. Viel wichtiger erscheint mir jedoch, über die damit zusammenhängenden Fragen mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, die uns nahestehen – und zwar am besten schon frühzeitig, in gesunden Tagen.

Wie lernen wir wieder mit dem Tod umzugehen? Wie fühlt sich das Sterben an und was passiert danach? Das sind Themen, die wir selten bei einem gemeinsamen Abend mit Freunden besprechen. Aber warum eigentlich nicht? Es geht nicht nur um die Dinge, die wir nicht möchten, die unterlassen werden sollen – es geht vor allem darum, was wir uns wünschen. Gerade wenn wir nicht mehr sprachfähig sind, ist es für die Pflegenden und Behandelnden – egal ob Angehörige oder Professionelle – sehr hilfreich, wenn sie um Vorlieben und Wünsche wissen.

Ich möchte hier Mut machen. Mit einem offenen Umgang, mit fachkundiger Symptomkontrolle, mit Zuwendung, Sicherheit und respektvoller Pflege erleben wir, dass Angst, Schrecken und der Wunsch nach Sterbehilfe oder Suizid kein Thema mehr sind! Oft formulieren es die sterbenden Menschen und auch ihre Angehörigen so: „Diese Wochen waren die intensivsten in unserem gemeinsamen Leben – es war eine gute und wertvolle Zeit“.

Menschen wollen zu Hause sterben können. Und die Zeit der Sterbebegleitung kann für alle intensiv und wertvoll sein.  Dafür braucht es mehr als eine bessere Bezahlung der ambulanten Pflege. Es geht auch um die Frage, wie Arbeitsbiographien flexibler gestaltet werden können, um den Druck in Zeiten der Pflege zu nehmen. Es geht darum Nachbarschaften zu stärken. Und darum Menschen Mut zu machen, über Ängste und Unwissenheit zu sprechen. Was früheren Generationen selbstverständlich war, müssen wir heute unter ganz anderen Bedingungen neu lernen.

„Mein Sterbeglück ist, dass ich die Beziehungen zu mir nahestehenden Menschen noch einmal ganz neu und wunderbar erlebe“, sagte die Theologin Luise Schottroff kurz vor ihrem Tod. “Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass in unserer durchgetakteten Welt so viel Zuwendung möglich ist.“ In der Zeit ihrer Krankheit war ihr Freundesnetzwerk so zusammen gewachsen, dass sie sich auch gegenseitig unterstützen konnten. Und die „wenigsten Menschen wissen, dass Ohnmacht nur so lange schlimm ist, bis ich loslassen und mich in gute Hände geben kann.“ sagt die Sterbebegleiterin Monika Renz.“[1]

Und davon erzählen die biblischen Passionsgeschichten auch: Von dem Glück, in guten Händen zu sein. Von einem Leben, das wir uns nicht vorstellen können. Der letzte Weg Jesu ist voll intensiver Begegnungen. Wenige wissen, dass die Passionsgeschichten der Kern des Evangeliums sind. Nicht Weihnachten, sondern Ostern ist das große Fest. Das tröstet mich – selbst in Corona-Zeiten.


[1] Renz, Monika, Hinübergehen. Was beim Sterben geschieht. Annäherungen an letzte Wahrheiten unseres Lebens, Freiburg i.B.: Kreuz-Verlag, 2013. 1. Aufl. 2011

 [FMT1]Kürzungsoption

https://rundfunk.evangelisch.de/kirche-im-radio/am-sonntagmorgen/sterben-der-nachbarschaft-11731?fbclid=IwAR3Fu63EqtndBHiwOdcEuU3wwpsJYZhkcyYA-XeqwRcc8oDVhtRdbHMKQKw


Deutschlandfunk DLF, Köln
Morgenandacht „Gedanken zur Woche“ (evangelisch), 27.11.2020

„Der Tod ist das letzte Tabu in unserer Gesellschaft“. Das wissen die, die sich mit dem Altwerden beschäftigen. Und mit der Frage, wie Menschen einander am Ende des Lebens gut unterstützen können. In Familien, in der Pflege, in der Nachbarschaft. Schließlich wollen fast alle zu Hause sterben – und trotzdem sterben die allermeisten in Krankenhäusern und in Pflegeeinrichtungen und gerade jetzt auf Intensivstationen. Unter medizinischer Aufsicht, an technischen Geräten, oft ziemlich allein. Wir haben den Tod an Experten abgegeben.

Am vergangenen Montag waren wir selbst gefragt. Mit dem Film „Gott“ brachten ARD und Ferdinand von Schirach die Frage nach einem guten Lebensende in unsere Wohnzimmer. Ich finde das richtig. Vielleicht haben Sie auch mit abgestimmt, ob der 78jährige Herr Gärtner, der über den Tod seiner geliebten Frau nicht hinwegkommt, das ersehnte Pentobarbital bekommen soll. Ich habe dagegen gestimmt – aber es bleibt eine tiefe Verunsicherung. Und ich weiß, es ist diese Verunsicherung, die dazu führt, das Thema den Ärzten, den Politikerinnen und Juristen und auch den Pflegekräften zu überlassen. Denen, die wissen, wie man mit dem Tod umgeht.

Herr Gärtner aus dem Film war nicht krank. Er wollte einfach nicht mehr leben. Da möchte doch jeder, der selbst schon schwere Krisen oder Trauerzeiten überstanden hat, Mut machen. Er hat Kinder und Enkel. Er könnte noch tun, was er mochte. Und Wunden schließen sich, mit Narben kann man leben. Aber wozu, würde Herr Gärtner jetzt sagen. Und: Es gibt keine Pflicht zu leben, sagt eine Juristin in dem Film. Wer schon einmal versucht hat, einen Menschen vom Suizid abzuhalten, weiß: Wenn der andere die ausgestreckte Hand nicht nimmt, kann das nicht gelingen.

Am Ende muss ich die Freiheit des anderen respektieren. Das meint wohl auch das Verfassungsgericht mit seinem sehr liberalen Urteil vom Februar, wenn es vom hohen Wert der Selbstbestimmung spricht. Wenn ich Herrn Gärtner aus dem Film vor mir sehe, macht mich das traurig. Und ohnmächtig. Ich kann nicht einfach Ja sagen zu seinem Sterbewunsch.

Zu den Profis in Sachen Tod und Sterben gehöre ich auch. Ich war lange Gemeindepfarrerin und erinnere mich: Das Leben so zu nehmen, wie es ist – auch mit Trauer und Verletzungen – das war für viele selbstverständlich. In dem Vertrauen, dass all das einen verborgenen Sinn hat.  In dem Vertrauen, in der Gemeinschaft und bei Gott aufgehoben zu sein.  Genauso habe ich immer wieder Menschen hoffen und beten hören, dass Gott sie endlich zu sich holt. Dieser Wunsch nach Erlösung richtet sich heute an Ärztinnen und Ärzte. Leid geduldig auszuhalten, darin sehen viele – genau wie Herr Gärtner – keinen Sinn mehr.

„Gott“ – so hieß der Film am Montag.  Will Gott, dass wir das alles aushalten? Oder spielen wir selbst Gott, wenn wir Menschen helfen, sich das Leben zu nehmen? Bin ich frei – oder bin ich angewiesen, auf andere, auf das, was kommt? Das sind keine Fragen, die sich mit einem Mausklick entscheiden lassen. Denn zur Freiheit gehört Verantwortung. Und Angewiesensein ertrage ich nur, wenn ich gehalten bin. Aber dazu brauche ich Menschen, die mich respektieren und unterstützen. Das einsame Leiden, der Mangel an Pflegekräften und Palliativmedizinern, das Sterben hinter verschlossenen Türen sind der eigentliche Skandal.

Seit mehr als 20 Jahren sprechen Kirche, Politik und Fachleute über die Stärkung von Hospizangeboten. Aber geschehen ist nicht viel.  Und Sterbehilfe löst das Problem nicht. Ich fürchte, die neue Rechtslage erhöht die Sorge, anderen zur Last zu fallen. Vielleicht gibt es keine Pflicht zu leben, aber ganz sicher eine Pflicht zu Schutz und Beistand.

Es wird höchste Zeit, die Möglichkeiten für ein gutes Lebensende auszuhandeln. Politisch und persönlich. Sterben und Tod dürfen kein Tabu mehr sein. Kirchengemeinden, Seelsorger und Seelsorgerinnen können viel dazu beitragen. Mit Besuchsdiensten und Letzte-Hilfe-Kursen, mit Nachbarschaftsnetzen und Gebeten. Wenn es darauf ankommt, brauchen wir das Gefühl, dass wir uns verlassen können – auf andere und auch auf Gott.

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Deutschlandfunk DLF, 14.9.2020 – 19.09.2020, 6.35 – 6.40 Uhr

Montag 14.9.2020

Vor ein paar Tagen habe ich auf Facebook ein Altarbild gepostet. Ein schlichter Holzaltar im Betsaal der Zehlendorfer Diakonie. Darauf dieses Altarbild, aus dem gleichen Holz geschnitzt wie der Abendmahlstisch darunter und die Kerzenhalter. Ich mag die einfachen Bilder. In der Mitte der barmherzige Samariter, rechts und links – eingraviert wie in Münzen – die „Werke der Barmherzigkeit“.

„Barmherzigkeit – was ist das? Das fragen sich momentan viele Menschen.“ So kommentierte eine Freundin das Bild. Und jemand  anders wollte gleich einen bestimmten deutschen Politiker gegen 13.000 Menschen aus Moria tauschen. Der barmherzige Samariter spricht mitten hinein in unsere Wirklichkeit: Wer lässt sich anrühren und aufhalten, wer greift in die Tasche und holt den Verletzten aus dem Dreck? Und wer geht vorüber, weil er andere Geschäfte hat?

So ist es wohl: Politik und Kalkül bestimmen den Blick auf die Menschen, denen wir begegnen. Es geht um Push- und Pullfaktoren, um die Ängste und Hilfsbereitschaft der Kommunen und Bundesländer, um Deutschland und Europa,  Schuldige und Opfer. Parteilinien werden gezogen, Kompromisse gesucht, Gewinner gekürt. Anfang der Woche endlich wurde beschlossen, noch einmal 1550 weitere Flüchtlinge aufzunehmen, 400 schutzberechtigte Familien aus Griechenland. Welche Partei da der Gewinner ist? Ein Kommentar rückt die Frage zurecht: „ Die Gewinner – sind erst einmal diese Familien“.

Ob einer dich sieht oder ob Du verloren bist – ist das am Ende eine Lotterie? Oder eine Frage des Status? Jedenfalls scheint das alles furchtbar kompliziert. Aber die Werke der Barmherzigkeit sind ganz schlicht und einfach. Durstigen zu trinken geben. Hungrige speisen. Obdachlosen ein Dach über dem Kopf geben. Gefangene besuchen. Davon erzählt der Altar im Zehlendorfer Betsaal. Der Künstler hat sich darauf beschränkt, Hände zu zeichnen. Hände, die sich öffnen, helfen und schenken. Trotzdem denke ich sofort an die Bilder aus den Nachrichten, die Familien, die in Moria auf der Straße saßen und kaum etwas zu essen hatten. Weil die Hilfsorganisationen nicht durchkamen, um wenigstens Lebensmittel zu verteilen. Und Wasser. Dabei weiß doch jeder, wie es ist, Durst zu haben nach langen Tagen in der Hitze.

Und trotzdem ist es nicht einfach, sich einzufühlen – hier im wirtschaftlich stärksten Land Europas. In relativer Sicherheit. Wer will sich schon vorstellen, mit der ganzen Familie auf dem nackten Boden zu schlafen – ohne Hoffnung, ohne Perspektive?

Ich denke an eine Frau, die eigentlich  gar nichts mit dem Elend  zu tun hatte. Elisabeth von Thüringen – sie war Fürstin. Hoch über den Straßen der Armen lebte sie in Eisenach auf ihrer Burg.  Trotzdem gilt sie bis heute als die Heilige der Barmherzigkeit. Von ihr werden viele wunderbare Geschichten erzählt. Eine handelt von einem leprakranken Mann; die Fürstin nahm ihn auf, um ihn zu pflegen. Sie legte ihn sogar ins Bett ihres Ehemanns – Berührungsängste kannte sie nicht.

Als der Fürst nach Hause kam, wurde er misstrauisch, sogar zornig. Ging hin, schlug die Bettdecke zurück und – der, den er da sah in seinem eigenen Bett, mit blutenden Wunden und Verletzungen, war Christus selbst. Da wich er zurück und ließ die Barmherzigkeit geschehen, die seine Frau begonnen hatte.

Eine unglaubliche Geschichte, ich weiß. Was der Fürst da mit eigenen Augen sah, war ein Wunder. Nicht einmal uns selbst erkennen wir in denen, denen es schlechter geht als uns. Nicht einmal das Gesicht eines Menschen sehen wir in den Geflüchteten. Dabei  würde es genügen, sagt die Geschichte, wenn wir in den Leidenden Christus sehen, den gekreuzigten Christus.

Der Abstand bliebe, aber aus Abwehr und Kalkül würde Barmherzigkeit. Was Barmherzigkeit ist? Der einfache Altar lässt Christus selbst darauf antworten: „Was Ihr getan habt einem von diesen geringsten, meinen Geschwistern, das habt Ihr mir getan.“ (Mt 25,40)

Was ist Barmherzigkeit? Diskutieren Sie mit auf Facebook unter „Evangelisch im Deutschlandradio“.

Dienstag 15.9.2020

Als in England die Krankenhäuser übervoll waren, haben Stewards, Stewardessen und Piloten von vier Fluggesellschaften, die im Shutdown arbeitslos geworden waren, eine neue Firma gegründet:  die „First Care Class“. In den Krankenhäusern des National Health Service haben sie Clubräume mit bequemen Sesseln eingerichtet, um Ärzte, Pflegende und Physiotherapeuten im Krankenhaus zu verwöhnen. Eine Stunde freundliche Rundumversorgung mit Kaffee, kalten Getränken und Wellnessmassage. „Wir tun, was wir gelernt haben“, sagte eine Stewardess im Interview. „Wir haben ja trainiert, Menschen zu verwöhnen und zu beruhigen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie wirklich etwas Besonderes sind. Ein strahlendes Lächeln bewirkt eine Menge.“ Wingman hieß das Projekt. Flügelmensch – man denkt sofort an Engel.

Der Shutdown war eine große Unterbrechung. Plötzlich war alles anders. Auch beruflich. Autobauer wurden zu Maskenproduzenten und Studierende zu Spargelstechern. Paare mit zwei Vollzeitjobs haben entdeckt, dass es gut war, mehr Zeit für die Familie zu haben. Andere haben sich noch einmal auf den Weg gemacht – auf der  Suche nach einem Job mit Sinn. „Ich fühlte mich bis dahin, als würde ich ein Spiel spielen, (…) mit großem Ehrgeiz und Einsatz…“, sagt Nina Hille, die Verlagsgeschäftsführerin war. Sie wollte aber einen Unterschied machen, die Welt ein bisschen besser machen, ihre Leidenschaft einbringen. So landete sie einem sozialen Träger.  Wer sich jetzt Stellenausschreibungen ansieht, der merkt den Umschwung: Portale wie greenjobs.de oder goodjobs.de und Personalvermittlungen wie Talents4Good haben Konjunktur.

Die Bibel erzählt von einem Fischer, der die Leidenschaft verloren hatte. Er kannte sich aus mit seinem Job, wusste, wo die Fischschwärme vorbei zogen. Wann es sich lohnte rauszufahren – und wann nicht. Es wäre immer so weiter gegangen – schließlich stammte er schon aus einer Familie von Fischern, er lebte in einem Fischerdorf – auch seine besten Freunde waren Fischer. Es wäre immer so weitergegangen, wenn nicht plötzlich einer gekommen wäre, der alles in Frage stellte. Irgendwie auch so ein Mann mit Flügeln. Er kam am Abend, setzte sich zum Predigen in sein Boot und bat ihn am Ende, noch einmal zu den Fischgründen zu fahren – und obwohl da eigentlich nichts mehr zu erwarten war, wäre das Netz fast zerrissen, weil es so voll wurde.

Das warf den Fischer fast um. Plötzlich war alles wieder aufregend und neu. Ein neuer Anfang. So war der Boden bereitet, als Jesus ihn einlud, mit ihm zu gehen. Die Spur zu wechseln. „Von nun an wirst Du Menschen fischen.“ Etwas tun, was wirklich lohnt, was alles verändert. Petrus zögerte nicht lange; er spürte den Wind im Rücken und ging mit. Und seine Freunde auch.

Dass Arbeit mehr ist als routiniertes Erledigen von Aufgaben – das hat sich in den letzten Monaten deutlich gezeigt. Es geht auch um mehr als Leistung und Einkommen – so schmerzhaft die Einkommensverluste für viele sind. Aber plötzlich haben Gastwirte wieder entdeckt, wie schön es ist, andere zu bewirten. Pflegende und Kassiererinnen bekamen endlich Anerkennung – leider nur kurz. Bürokräfte im Homeoffice haben gespürt, wie wichtig der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen ist. Fast alle erzählen von langen, persönlichen Telefonaten. Webkonferenzen genügen nicht. Genau hinhören schien die Herausforderung der Stunde zu sein.

Petrus, der Fischer, hat an jenem Abend genau hingehört, er hat sich eingelassen auf eine verrückte Idee und wieder gemerkt, wo sein Herz schlägt. Er hat die Stimme gehört, die ihn beflügelte und herausrief – auf einen neuen Weg.

Ich weiß nicht, wer in England auf die verrückte die Idee mit der „First Care Class“ kam – aber ich weiß: diese Corona-Initiative hat vielen wieder auf die Beine geholfen. Manchmal ist es gut, wenn die Routine unterbrochen wird. Dann spüre ich, was wirklich zählt. Und wenn andere da sind, die mit mir gehen, kann etwas Neues entstehen. Auch bei mir selbst.

Mittwoch 16.9.2020

Küchen sind der Renner der Saison. Zwischen Homeoffice und Homeschooling hatten Familien plötzlich Zeit zum gemeinsamen Kochen und Essen. Und das war schon etwas Besonderes. Denn für gemeinsame Mahlzeiten ist sonst oft nur am Wochenende Zeit. Es ist eben nicht einfach, die engen Rhythmen von Jobs, Kita, Schule und Freizeit aufeinander abzustimmen – da knirscht es oft genug. Und weil der Alltag normalerweise so eng getaktet ist, müssen auch Familienbesuche und Feste langfristig geplant werden. Jetzt war plötzlich alles anders. Die mühsam gefundenen Termine – alle gestrichen. Hochzeiten und Konfirmationen verschoben. Und im Alltag fehlten die Großeltern, die sonst einspringen, wenn alles aus dem Tritt gerät.

Natürlich war es manchmal chaotisch und eng. Und im Zentrum: der Küchentisch. Beim Frühstück und beim Homeschooling. Beim Spieleabend und bei der Familienkonferenz mit den Großeltern – zum ersten Mal per Zoom. An das gemeinsame Essen kann man sich schnell gewöhnen. Als Zeit, sich auszutauschen, zu planen, Probleme zu klären. „Wir teilen und verteilen nicht nur die Lebensmittel, sondern wir teilen uns unser Leben mit“, hat Birgit Wagner-Esser einmal geschrieben. „Jedem in der Familie ist wichtig, wie es den anderen geht. Es ist ihm oder ihr nicht egal. Hier ist der zentrale Ort, an dem sich Gemeinschaft konstituiert“.

Auch Ostern haben wir als Familie am Küchentisch gefeiert – mit Osterglocken und Osterkerze, mit rot gefärbten Eiern und selbstgebackenen Brot. Zum gestreamten Gottesdienst.  Halb digital, halb analog – wie bei der Familienkonferenz.  Kann  man so auch Abendmahl feiern? Muss unbedingt eine Pfarrerin dabei sein und die Einsetzungsworte sprechen? Darüber wird in unserer Kirche gestritten. Mir ist vor allem die Gemeinschaft wichtig. Schließlich hat Jesus alle eingeladen, die Frauen, die Außenseiter, die Kranken. Der große Tisch ist sein Markenzeichen –  und noch vor seinem Tod feiert er auch mit Judas, der ihn ans Messer liefert. Diese Erinnerung ist mir wichtig: Dass er sein Leben gab, damit es uns gut geht.

Dass die Gemeinschaft der Kirche von diesem Tisch ausgeht, das wurde vielen erst wieder klar, als die Abendmahlsfeiern ausfallen mussten, auch zu Karfreitag und zu Ostern. Wenn Christen das Brot nicht teilen, fehlt etwas ganz Wesentliches. Das gilt ja auch im Alltag. Im Supermarkt ging die Hefe aus, weil plötzlich alle Brot backen wollten. Im Möbelhaus waren Küchen der Renner. Und vor dem Fernseher diskutierten wir über Fleischproduktion und Werkverträge bei Tönnies und über die Spargelstecher aus Bulgarien und Rumänien. Was andere auf sich nehmen, damit es uns gut geht – darüber hatten wir lange nicht nachgedacht. Egal kann es uns nicht sein. Und was können wir tun, damit es anderen gut geht? Im Corona-Lockdown starteten an vielen Orten Einkaufshilfen für die, die nicht vor die Tür kamen. „Dich schickt der Himmel“ hieß die Aktion in Witzenhausen.

Füreinander einkaufen, gemeinsam kochen, zusammen essen – das hat tatsächlich mit dem Himmel zu tun. Neben den Einkaufshilfen gibt es in vielen Gemeinden seit langem Mittagstische für Ältere,  die sonst allein essen müssten. Da kann man erzählen, was einen beschäftigt – egal, ob Krankheit oder Familiengeschichten-, da hört man einander zu und das allein tut gut. Das Leben aus einer anderen Perspektive sehen, über den eigenen Tellerrand, den eigenen Kirchturm hinaussehen – darauf kommt es an. Pfarrer Kossen aus Gütersloh hat gezeigt, was das heißt: Er hat sich seit Jahren für die Werksarbeiter bei Tönnies eingesetzt. Jetzt hat er den Verdienstorden von Nordrhein-Westfalen bekommen. Ob ich das ohne Corona wahrgenommen hätte? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß: Es gibt einiges zu ändern nach dieser Krise. In der Fleischindustrie, bei den Werkverträgen, aber auch in unserem Alltag. Und die Tischgemeinschaft ist ein Schlüssel dazu – in der Kirche und auch am Küchentisch.

Donnerstag 17.09.2020

Was ein Hausstand ist, darüber hatte ich mir lange keine Gedanken gemacht. Aber in den letzten Monaten wurde das plötzlich ganz wichtig. Gemeint ist nicht unbedingt eine Familie oder Lebensgemeinschaft im rechtlichen Sinne. Ein Hausstand kann auch eine Wohngemeinschaft sein. Von Studenten, Studentinnen oder Senioren. Weil es besser ist, nicht allein zu sein, hat sich da während der Corona-Krise viel bewegt. Studierende sind zurückgezogen ins  Elternhaus. Alleinstehende zu einer befreundeten Familie. Zwei Mütter mit ihren Kindern haben sich zusammen getan. Zusammen kann man einander aushelfen und entlasten. Miteinander essen, zusammen spielen  – auch mal spazieren gehen.

Wohngemeinschaften haben ja ohnehin Konjunktur, nicht nur wegen der Corona-Krise. Mehrgenerationenhäuser und Seniorenwohngemeinschaften versprechen den richtigen Mix aus Selbstbestimmung und wechselseitiger Hilfe. Die einen mähen den Rasen, die anderen helfen bei den Hausaufgaben oder lesen den Jüngsten vor.  Es gibt immer mehr phantasievolle Projekte. „Wohnen gegen Bildung“ zum Beispiel – in Ruhrgebietsstädten geben Studierende benachteiligten Kids Nachhilfe und können dafür kostenlos wohnen. Anderswo bieten Ältere kostenloses Wohnen gegen kleine Dienstleistungen an – Einkaufen oder Gartenarbeit. So bleiben sie nicht allein in ihrem zu groß gewordenen Haus.

Es ist schon merkwürdig: Einerseits leben viel mehr Menschen allein als noch vor 20 oder 30 Jahren – über 40 Prozent der Älteren sind Singles. Und tatsächlich wird heute auch sehr viel mehr Wohnraum pro Person beansprucht. Andererseits ist da diese wachsende Sehnsucht nach Gemeinschaft. Nach Austausch und wechselseitiger Unterstützung. Allerdings scheitern viele  Wohngenossenschaften auf dem langen Weg vom Projekt bis zum Einzug. Wenn es konkret wird, ist es eben nicht so einfach, sich zu einigen. Wie groß sollen die Gemeinschaftsräume sein? Und wie viele brauchen wir?  Treffpunkt, Gästezimmer, Bibliothek und Küche? Wieviel Raum braucht jeder für sich privat – ein Zimmer oder doch lieber ein kleines Appartement? Da werden Erinnerungen wach – an die Studenten-WG und die Putzpläne, an das überfüllte Mehrfamilienhaus aus der Nachkriegszeit oder die Platte irgendwo in Berlin.  Immer  zwischen Wahlverwandtschaft mit Grillabenden und Sozialkontrolle. „Feind hört mit“, sagte meine Schwiegermutter manchmal.

Kann man lernen, einen guten gemeinsamen Weg zu finden? Eine Akademie hat kürzlich eine Wohnschule angeboten – für Leute, die sich auf das Abenteuer einer Genossenschaft einlassen wollen. Ein Vertrag reicht da nicht. Mir fallen die alten Schwestern aus dem Diakonissenhaus ein, die über Jahrzehnte gemeinsam im Mutterhaus wohnten. Sie erinnerten sich später an die Farbe und die gefühlte Temperatur der Räume – wo es licht war und wo düster, wo Weite herrschte oder beklemmende Enge. Auf den Spirit kommt es an in so einer Gemeinschaft.

„In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“, sagt Jesus, als er sich von seinen Jüngern verabschiedet. „Und ich gehe hin, Euch die Wohnung zu bereiten“. Das klingt wie ein großes Versprechen. Ich sehe ein helles, offenes Haus. Wo Unterschiede Platz haben. Wo niemand sich kleiner oder größer machen muss als er ist. Jesus redet vom Himmel, ich weiß – aber es gibt solche Erfahrungen auch hier und jetzt. Der umgebaute Hof, in dem die Großfamilie Platz hat – mit allen Generationen. Die Wohngruppe von Menschen mit Behinderung gleich nebenan.

Manchen haben während der Corona-Krise Erfahrungen aus dem Kloster geholfen: Da gibt es den gemeinsamen Speisesaal, das Refektorium, die Bibliothek – aber daneben hat jeder eine eigene Zelle, den eigenen Freiraum. Man muss sich klar machen, was man selbst braucht, um sich wohl zu fühlen. Und miteinander sprechen – nicht nur über den Kühlschrank oder das Putzen, sondern über Wünsche, Ziele und Träume. Und ganz bewusst zuhören. Und Rituale sind wichtig: gemeinsame Mahlzeiten oder feste Verabredung zum Spielen, Musizieren, Lesen. Es kommt darauf an, aufeinander so zu achten wie auf sich selbst. Und nicht erst in der Krise.

Samstag 19.09.2020

Er hoffte, dass im Himmel kein Mozart gespielt würde. Und bitte auch nicht Johann Sebastian Bach. Bitte keine Musik im Himmel, hat mein Onkel gesagt. Er kannte den Chor von Annette Frier nicht – den Chor für Menschen mit Demenz. Ich habe im ZDF zugeschaut wie er aufgebaut wurde. Wie glücklich die Sängerinnen und Sänger waren, als sie in die alten Lieder und Schlager einstimmen konnten und ihnen sogar der Text wieder einfiel.

„Unvergesslich“ – der Chor hatte den richtigen Namen. Es war so schön zu sehen, wie froh auch die Angehörigen waren, wieder etwas gemeinsam zu unternehmen. „Singen macht gute Laune und lindert Schmerzen. Es ist unmöglich, ein Lied zu schmettern und gleichzeitig in Grübeleien zu versinken“, sagt Annette Frier. Die Schauspielerin hat das bei ihrer Oma beobachten dürfen. „Leute, probiert es bitte aus“, sagt sie. Singt! Laut! Es hilft gegen alle Arten von Sorgen.“  Das Chor-Projekt wurde von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen begleitet; es ging darum, wie Musik das Gedächtnis stärkt, wach hält und resilient macht. Und da war im MRT durchaus einiges zu sehen- vor allem bei denen, die immer gesungen hatten.

Vielleicht hätte das meinen Onkel überzeugt – immerhin war er Arzt. In jedem Fall: ich fand den Chor durchaus himmlisch. Leider musste die letzte Folge der Sendereihe abgesagt werden, das große Konzert fand wegen Corona nicht statt. Da ging es dem Demenzchor nicht anders als vielen anderen.

Noch immer kann man ja höchstens draußen, in großen offenen Räumen und mit Abstand gemeinsam proben. Diese wunderbare Erfahrung, zusammen zu atmen und zu schwingen und am Ende mit den vielen unterschiedlichen Stimmen zu einem Ganzen zu werden – die fehlt. Im Konzert und auch in einem ganz normalen Gottesdienst. Was ist ein Gottesdienst ohne Gemeindegesang, fragen viele. Dieses Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein und nicht nur Publikum, das ist doch vor allem beim Singen zu spüren. Bei einem bekannten Lied, wenn der Gesang den Raum wirklich füllt, dann ahnt man, was der Apostel Paulus meinte: Wir viele sind ein Leib. Eine Gemeinschaft, die mehr ist als die Summe der Teile. Ein Orchester, dessen verschiedene Stimmen sich verbinden.

Die Journalistin Elisabeth von Thadden hat letztes Jahr ein Buch über die berührungslose Gesellschaft geschrieben. Schon vor Corona hatte sie beobachtet, dass Berührung für viele gar nicht mehr selbstverständlich ist. Wer ohne Partner lebt und keine kleinen Kinder hat, wer im Alter allein ist, bekommt die nötigen Streicheleinheiten vielleicht nur noch in der Wellnessmassage. Oder bei einem Haustier. Jetzt – mit social distancing – geht das noch viel mehr Menschen so. Was helfen kann, damit  zurecht zu kommen, ist Musik, sagt Elisabeth von Thadden. Musik berührt mit allen Sinnen.  Nicht nur Trommeln, Orgel oder Glocken gehen durch und durch –  auch eine Harfe belebt den ganzen Körper. In der Hospizarbeit wurde die Harfe entdeckt – weil das leise Instrument hilft, in einen ruhigen Atem zu kommen.

Der biblische David soll Harfe gespielt haben, um den verstimmten Saul zu beruhigen. Unter den Klängen löste sich Sauls Depression und seine Wut verlor sich. „Sooft der böse Geist über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter und es ward besser mit ihm und der böse Geist wich von ihm“.

Annette Frier hat Recht: Musik hilft gegen alle Art von Sorgen. Und das haben ja viele versucht in den Wochen des Lockdowns: mit Musik Distanz zu überwinden. Über Kontinente hinweg haben sich Menschen zusammen getan und gesungen – Chormusik im Internet. Das hat ganz offenbar Spaß gemacht – und war doch nicht dasselbe. Deswegen warten alle sehnlich darauf, wieder gemeinsam zu singen.

Ich bin da anderer Meinung als mein Onkel. Ich finde, Musik und Gesang sind schon ein Vorschein des Himmels.


Deutschlandfunk DLF, 17.05.2020, 8.35 – 8.50 Uhr

Hier noch einmal zu anhören:


Deutschlandfunk DLF, 02.09.2019 bis 05.09.2019, 8.35 – 8.50 Uhr

Gefunden werden

Morgenandacht im DLF am 2.9.19 Cornelia Coenen-Marx

Bruchlandung in der Wüste. Das kleine zweimotorige Flugzeug ist vollständig ausgebrannt. Pilot und Kopilot sind ums Leben gekommen. Da stehen sie nun, die Überlebenden, in der Sonora-Wüste, in Anzug und Kostüm bei 50 Grad ohne jeden Schatten. Ein paar Dinge konnten sie noch retten. Eine Taschenlampe, ein Klappmesser, eine Flugkarte und Sonnenbrillen für alle. Eine Kompass ist da und eine geladene Pistole, ein rot-weißer Fallschirm, eine Flasche mit 1000 Salztabletten, 1 Liter Wasser pro Person und ein Taschenspiegel. Und von den Piloten wissen sie, dass etwa 70 km entfernt ein Bergwerk liegen muss.

„Sonora“ ist ein Spiel, ein gruppendynamisches Training. Das Team soll entscheiden: Was ist das Wichtigste um zu überleben? Da rückt manches schnell auf einen hinteren Platz – über anderes wird lange diskutiert. Der Taschenspiegel – vielleicht kann man damit Feuer machen? Oder die Salztabletten – werden die nicht gebraucht, um den Salzverlust durch Schwitzen zu kompensieren? Aber so oder so – mit einem Liter Wasser kann man nicht lange überleben. So spitzt sich alles auf die Frage zu: Ist es richtig, sich auf den Weg zu diesem Bergwerk zu machen? Oder doch besser die eigenen Kräfte schonen, den Fallschirm nutzen, um Signale zu geben… Am Ende ist klar: Das Wichtigste ist, gefunden zu werden. Und die Chancen stehen nicht schlecht. Wenn sie sich nicht verausgaben, werden die Wasservorräte reichen. So werden schließlich auch die überzeugt, die das Warten schlecht aushalten.

Einfach warten. Und auf die Hilfe anderer setzen. Wie schwer das ist, das hat auch Melanie erlebt. Eine Macherin, eine Leistungssportlerin, die es gewohnt war, über die eigenen Grenzen zu gehen. Auch im Berufsleben war alles durchgeplant. Mit 30 kam ihre ganz persönliche Bruchlandung. Völlig übermüdet spürte sie auf einer Autofahrt eine Ohnmacht kommen und schaffte es gerade noch auf den Seitenstreifen. „Ruf die Polizei, lass Dir helfen“, sagte ihr Mann am Handy. Aber dann fuhr sie doch bis zum nächsten Gasthof. Blieb die Nacht vor Panik wach und setzte sich dann in den Zug nach Hause. „Als ich endlich da war, habe ich mich hingelegt“, sagt sie. „Ab diesem Moment konnte ich nicht mehr aufstehen. Ich konnte nicht mehr gehen, nicht mehr reden, musste ständig heulen.“ Ihre Freundin brachte sie in eine psychosomatische Klinik. Drei Monate blieb sie dort. Heute verdient sie nur noch die Hälfte, aber sie hat mehr übrig als je zuvor. Und sie spürt wieder, wenn sie sich überfordert, kann sich freuen an dem, was sie macht. . Das ist das Wichtigste für sie.

„Was mir vorher Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust gehalten“, schreibt der Apostel Paulus. Eine Gewinn- und Verlustrechnung ganz eigener Art. Was vorher wertvoll erschien, hat komplett seinen Wert verloren. Paulus nennt es Dreck. Es geht um einen radikalen Perspektivwechsel. Entscheidend ist nicht, was ich leiste – sondern dass ich von Christus gefunden werde. Paulus denkt an Damaskus, wo sein Leben auf den Kopf gestellt wurde. Als er vom Pferd fiel, weil er geblendet war von einem Licht am Himmel. Als er die Stimme hörte, die Stimme Jesu: „Saul, warum verfolgst Du mich?“ Ja, er hatte Christen verfolgt – mit ungeheurem Eifer. Und dass ausgerechnet ein Christ ihn dann aufnahm in sein Haus, das war eigentlich ein Wunder. Blind und wie im Koma lag Saulus bei Ananias. Drei Tage sah Ananias nach ihm, pflegte ihn und legte ihm schließlich die Hände auf. So wurde aus Saulus Paulus. „I once was lost, but now I’m found”, heißt es im Gospel „Amazing Grace“. Das Wichtigste ist, gefunden zu werden.

 

Beschirmt werden

Morgenandacht am 3.9.19 im DLF Cornelia Coenen-Marx

Eigentlich liebe ich den Regen. Vor allem in diesem Sommer ging es mir so. Nach den vielen Hitzetagen habe ich den Urlaub im Norden so richtig genossen. In der Sommerfrische. Wo Sonne und Regen schnell wechseln, da ist es herrlich, die Tropfen auf der Haut zu spüren. Und ich finde es nicht so schlimm, wenn es von oben mal fließt wie unter der Regendusche. Ich bin ja nicht aus Zucker. Erst wenn auch keine Kapuze mehr nutzt, spanne ich den Regenschirm auf; am liebsten den großen schwarzen von meinem Mann. Der beschirmt mich auch in der Stadt, wenn ich mir nasse Kleidung nicht leisten kann.

Eines meiner schönsten Urlaubsfotos zeigt Regenschirme. Gelb, orange, rot, blau und grün – in allen Farben des Regenbogens sind sie über eine Straße gespannt. Wenn die Sonne scheint, werfen sie Schatten. Und wenn es regnet, trotzen sie dem Wetter. In der kleinen Einkaufsstraße in Wales sitzt jeder gern in einem Straßenkaffee, schaut nach oben und träumt. Mit dem Foto von den Regenschirmen habe ich einen echten Erfolg erzielt – auf Facebook wurde es besonders oft geliked und geteilt. Und als Antwort bekam ich Fotos aus aller Welt mit dem gleichen Motiv. Straßen mit Schirmdächern aus ganz Europa, aus Griechenland, Malta und Kleve, aus Trondheim und Ravenna. Gut beschirmt zu sein – nicht nur bei Regen. Das wünschen sich alle.

„Unter deinen Schirmen bin ich vor den Stürmen aller Feinde frei“, heißt es in einem Choral. „Lass den Satan wettern, lass die Welt erzittern, mir steht Jesus bei“. In dem Lied – eins meiner Lieblingslieder – geht es um ein Gewitter; es kracht und blitzt, dass man sich fürchtet wie ein Kind. Wenn ich Angst habe, wenn ich mich unter Druck fühle, sing ich es gern. Am liebsten laut unter der Dusche: „Tobe, Welt, und springe, ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh.“ Die Melodie nehme ich dann mit den Tag – und sie klingt in mir nach, wenn es schwierig wird. Wenn es blitzt und kracht oder wenn ich eine kalte Dusche bekomme.

Manchmal spüre ich dann, dass Gottes Gnade Schutz und Schirm vor allem Bösen ist. Und ich denke an das Segenswort bei Taufe oder Konfirmation, an die aufgelegten Hände.

Aber ich weiß auch, was es bedeutet, ungewollt im Regen zu stehen. Alleingelassen, während andere schnell noch ihre Schäfchen ins Trocken bringen. Weil ich meine eigene Meinung habe. Oder nicht mehr mithalten kann. Weil niemand mehr da ist, der die Hand über mich hält. Oder einfach, weil ich empfindlicher geworden bin. Es gibt ja Zeiten im Leben, wo ich mir bei jedem Lüftchen etwas einfange. Wenn ich überlastet bin oder verletzt. Keiner mag das. Niemand will schwach sein, auf Schutz und Hilfe angewiesen. Es ist aus der Mode gekommen, sich beschirmen zu lassen – auch als Frau. Wir haben gelernt, uns selbst zu schützen.

Aber ist das nicht eine Illusion? In der Finanzkrise 2009 wurde ein Rettungsschirm für die Banken entwickelt. Viele hätten sich auch einen Rettungsschirm für die Arbeitslosen gewünscht. Für die jungen Leute in Italien, Spanien, Griechenland, die keine Anstellung fanden. Niemand kann sich alleine schützen. Niemand ist für sich alleine stark. Wir Menschen bleiben auf andere angewiesen. Wer überfordert oder verletzt ist, darf nicht im Regen stehen bleiben: Wir alle brauchen Solidarität. Persönlich und auch politisch. Die bunten Schirme erinnern mich daran:

Getragen werden

Morgenandacht im DLF am 4.9.19 Cornelia Coenen-Marx

Eine Trageschule? Das Start-up meiner Freundin hat mich erst einmal irritiert. Muss man Tragen lernen? Kann das so schwierig sein? Inzwischen weiß ich: die Trageschule läuft gut; sie inspiriert viele. Auf der Website sieht man Mütter und Väter aus Afrika, Europa und Australien, die ihre Kinder in bunten Tüchern auf dem Rücken tragen oder auch vor der Brust. Und in den Kursen lernt man nicht nur das Binden von Tragetüchern, man erfährt auch viel über Bindung. Denn Bindung hat viel mit Berührung und körperlichem Kontakt zu tun. Getragene Babys weinen weniger. Und nichts ist berührender, als Menschen ins Leben zu tragen – in der Schwangerschaft und darüber hinaus. In manchen Kirchen ist es üblich, die eben getauften Kinder einmal durch die Kirche zu tragen – damit die ganze Gemeinde sie begrüßt.

Später ist es nicht mehr so einfach, sich tragen, heben oder schieben zu lassen. Nicht nur, weil wir an Pfunden zulegen und die anderen ganz schön schleppen müssen. Es wird auch schwerer, auf andere angewiesen zu sein. Auch mit den Berührungen ist es nicht mehr so selbstverständlich. „Ich will Euch tragen bis ins Alter und bis ihr grau werdet“, heißt es in der Bibel (Jes 46,4). Eine großartige, eine göttliche Zusage, aber ich kann nicht verhehlen, dass mich etwas stört. Alter muss doch nicht mit Schwäche einhergehen, denke ich. Und grau sind manche schon mit 30. Es klingt ein bisschen, als würden wir alle früher oder später zum Pflegefall. In unserer Gesellschaft heißt das: abgeschrieben. Wer nicht auf eigenen Beinen stehen kann, wird schnell abgehängt. Worte wie Pflegefall oder Hängematte sagen alles: Wer Hilfe braucht, wer getragen werden muss, gehört nicht mehr richtig dazu.

„Singt, singt dem Herren neue Lieder“, heißt es in einem Psalm. Eine neue Sprache ist gefragt, wenn es um Hilfe geht, um Angewiesenheit. Als ich 10 war, habe ich erlebt, wie gut es sein kann, getragen zu werden. Damals hatte ich ein Problem mit meiner Hüfte und starke Schmerzen. Ein ganzes Jahr lang konnte ich nicht zur Schule gehen, musste liegen und getragen werden. Mit dem Stuhl zum Tisch, die Treppe hinauf in mein Zimmer. Das war lästig – und doch großartig, wie meine Eltern das schafften. So toll, wie als Drei-oder Vierjährige beim Vater auf der Schulter zu sitzen. Und die Welt von oben zu betrachten. Wer so getragen wird, muss sich nicht klein fühlen. Und Eltern, die ihre Kinder so tragen, tun das mit Stolz und Dankbarkeit. Wir leben von diesem Prinzip der starken Schultern. Wenn wir meinen, wir müssten alles allein durchstehen: das trägt nicht. Aber Gott trägt. Greift uns unter die Arme, nimmt uns auf seine Schultern und trägt uns durch. Ein Psalm erzählt davon, wie der große Gott die Kleinen trägt. Die Menschen, die er liebt – sein ganzes Volk. Eigentlich unvorstellbar. Aber meine Kindererfahrung ruft warme Erinnerungen wach:

Musikakzent: „Der Herr gedenkt an sein Erbarmen und seine Wahrheit stehet fest. Gott trägt sein Volk auf seinen Armen und hilft, wenn alles uns verlässt“ (Psalm 98, EG 286, 2)

Vielleicht ist deshalb die Geschichte von den Spuren im Sand so beliebt. Am Strand, beim Nachdenken über den eigenen Weg, kommt jemand ins Gespräch mit Gott. „Zwei Spuren sehe ich da auf dem Weg“, sagt er. „Ich weiß, Du warst immer an meiner Seite. Aber gerade da, wo es mir besonders schlecht ging, da sehe ich nur eine Spur. Da fühlte ich mich so verlassen.“ Die Antwort ist verblüffend und Anlass zum Weiterdenken: „Da habe ich Dich getragen.“

Gott demütigt uns nicht, wenn wir Hilfe brauchen, er macht uns nicht klein und abhängig. Gott lässt uns unseren eigenen Weg finden, auch wenn das nicht immer einfach ist. Dass wir so auch füreinander da sein könnten, dass wir einander so tragen, das wünsche ich mir.

  

Erinnert werden

Morgenandacht im DLF am 5.9.19 Cornelia Coenen-Marx

Von Mary Jones hatte ich nie gehört. Vor drei Wochen entdeckte ich sie in Bala, einer kleinen Stadt in Wales. Zuerst sah ich nur ihren Namen an einer Hauswand. Da hing eine Plakette, die an sie erinnerte. An Mary Jones und an Thomas Charles, den Gründer der Bibelgesellschaft. Darunter ein Datum: 1804. Im Reiseführer fand ich dann mehr: 1804 lief Mary Jones, gerade 20 geworden, aus ihrem Heimatdorf zu Fuß nach Bala. Um eine Bibel zu kaufen! 42 km barfuß über Land, wie es damals üblich war. Sie hatte lange gespart und wünschte sich nichts sehnlicher als eine Bibel in walisischer Sprache. Das beeindruckte Thomas Charles, damals Pfarrer in Bala, so sehr, dass er eine Bibelgesellschaft gründete – damit jeder, der sich das wünschte, eine eigene Bibel bekam. In Zukunft werde ich an Mary Jones denken, wenn ich im Hotel eine Bibel finde – im Nachttisch oder im Kleiderschrank. Denn auch die Idee, Bibeln in Hotels verteilen, geht auf diese Anfänge zurück. Auf die Sehnsucht und die Ausdauer von Mary Jones.

Solche Entdeckungen liebe ich. Eine Plakette in einer fremden Stadt, ein Gedenktag, das „Kalenderblatt“ hier im Deutschlandfunk – das alles erinnert an völlig unbekannte oder längst vergessene Persönlichkeiten. Manche haben Großes geleistet und sind dann doch in der Versenkung verschwunden. Manche bringen nichts als ihre Sehnsucht, so wie Mary Jones. Ich finde es großartig, dass Bala sich nicht nur an den Theologen Thomas Charles erinnert, sondern auch an diese junge Frau, die alles in Gang setzte. Ohne die Gedenktafel hätte ich nichts von ihr gewusst.

Das Gedächtnis hängt von so vielen Zufällen ab. Und Erinnerung vergeht – sie ist endlich und brüchig wie unser Leben. Manchmal finde ich das schwer zu ertragen. Wir versuchen dagegen anzukämpfen, lehnen uns auf gegen die Zeit und den Tod – mit Gedenksteinen auf dem Friedhof, mit Denkmälern und Plaketten, Reiseführern und Geschichtsbüchern. Im „Kalenderblatt“ wurde kürzlich an Victor Ullmann erinnert, einen Komponisten, der in Ausschwitz ermordet wurde. Wie so viele jüdische Deutsche war er lange vergessen. An wen man sich erinnert und wer in Vergessenheit gerät, das hat immer auch mit den Lebenden zu tun. Mit denen, die Macht haben über die Geschichtsschreibung – im Großen wie im Kleinen.

Je älter ich werde, desto mehr überlege ich, was ich von meinen Erfahrungen weitergeben möchte. Was hat mich geprägt? Was ist mir wichtig? Was soll einmal auf meinem Grabstein stehen? Vielleicht weiß ich das irgendwann selbst nicht mehr – das Vergessen beginnt ja oft schon zu Lebzeiten. Da ist es gut, etwas aufzuschreiben oder anderen zu erzählen – Kindern und Enkeln, aber auch Freunden und Fremden. Solange die Erinnerung lebt, sind wir nicht ganz tot. „Was noch erzählt werden muss“, heißt das jüngste Buch von Hans Bartosch. Er ist Krankenhausseelsorger, und die Menschen, die er zu Wort kommen lässt: sie haben es geschätzt, dass einer ihre Geschichte hören wollte, dass er sie aufschrieb.

Als wäre unser Leben aufgezeichnet in Gottes Buch. Die Bibel gibt mir die Hoffnung, dass in Gottes Geschichte niemand vergessen ist – gerade die Kleinen nicht, die Unbekannten, Illegalen und Anonymen. Und dass nichts vergessen ist, auch die Grausamkeiten nicht und die Leiden.

„Er will stets seines Bunds gedenken“, heißt es in einem Psalm. Weil Gott sich an uns gebunden hat, vergisst er uns nicht. Darin bleibt er sich selber treu.

Gott erinnert sich – nicht wie eine Datenkrake, nicht wie ein Superhirn. Sondern wie junge Leute sich die Namen der Geliebten aufs Handgelenk tätowieren lassen, so erinnert sich Gott an uns. Wie Nachkommen vom Leben der Vorfahren erzählen. Noch wenn wir uns selbst vergessen, bleiben wir lebendig in ihm.


SR2 Kulturradio „Lebenszeichen“, 31.08.2019

Pfrin. Cornelia Coenen-Marx

Was wärst Du lieber: arm mit vielen Freunden oder reich und allein? Das hat kürzlich ein Elfjähriger seinen Stiefvater gefragt. „Keine Frage“, sagte der – Freunde sind das Wichtigste; denn Einsamkeit ist schlimmer als Armut. Aber für den Elfjährigen war das durchaus eine Frage. Und der Journalist, der die Geschichte mit seinem Stiefsohn im britischen Observer erzählt hat, war merklich irritiert. Sein Stiefsohn wollte nämlich lieber reich sein. Freunde, meinte der, wären doch leicht zu finden: Auf youtube, facebook und Co.
Der Elfjährige gehört zur Generation der Digital Natives –immer im Netz unterwegs, auch wenn er sich mit seinen Freunden trifft. Dann wird gespielt oder gechattet. Jeder für sich auf seinem Smartphone.

Der Artikel im Observer ging der Frage nach, ob unsere Mediengesellschaft uns grundlegend verändert. Klar, wir werden mit Informationen überschüttet, wir sind dauernd vernetzt – aber es scheint sich noch mehr zu verändern: unser Zeitgefühl, unsere Beziehungen, der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Einerseits ist es jederzeit möglich, sich mit anderen auszutauschen. Zugleich aber nimmt die Einsamkeit zu. Jeder zehnte Deutsche gibt an, dass er sich einsam fühlt. Und es sind nicht nur die über 60-jährigen, sondern besonders viele junge Leute zwischen 20 und 30, die sich einsam fühlen. Einsamkeit wird zur neuen Volkskrankheit.

In Großbritannien wurde Anfang letzten Jahres ein Ministerium gegen Einsamkeit geschaffen. 75 Prozent der Landbevölkerung sind dort älter als 65 – sie leben in Gegenden, wo Post und Pub geschlossen sind und immer weniger Busse fahren. Herz-Kreislauf-Probleme oder Depressionen verschlechtern sich, wenn Menschen ihre Wohnung kaum noch verlassen. Deshalb gibt es in Großbritannien inzwischen sogar die Möglichkeit, soziale Angebote auf Rezept zu verschreiben. Ein Konzert, eine Wanderung mit anderen zusammen oder natürlich auch eine Selbsthilfegruppe. Menschen brauchen Menschen, um zu gesunden. Wissenschaftler haben berechnet, dass auf diese Weise 20 Prozent Gesundheitskosten eingespart werden können.

Auch bei uns gibt es mehr und mehr Initiativen, um Gemeinschaft zu ermöglichen und Netzwerke zu stärken. In Hamburg wurde KulturistenHoch2 gegründet – eine Art Dating Portal für Konzert-und Museumsbesuche, auf dem junge und alte Menschen zusammenfinden, um gemeinsam Kultur zu genießen. Das genießen beide Seiten- die einen, weil sich ihnen neue Welten erschließen, die anderen, weil sie oft nach Jahren wieder unter Menschen kommen.

Jesus wusste, dass die Nähe eines Menschen gesund machen kann. Er war ein Künstler darin, Menschen zusammen zu bringen. Und ganz verschiedene Menschen zu Freunden zu machen. Ich sehe ihn an einem Tisch mit Zollbeamten und Prostituierten. Mit Kindern auf dem Schoss und einem Kranken im Arm. Er hatte keine Angst vor Berührung – bei Leprakranken nicht, nicht bei der Frau mit jahrelangen Blutungen, auch nicht bei Menschen mit Behinderung. Die meisten von ihnen waren aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Als ich den Artikel im „Observer“ gelesen habe, ist mir Zachäus eingefallen, der Zolleinnehmer. Das war ja so einer, der viel Geld hatte, aber keine Freunde. Zöllner waren im alten Israel nicht beliebt, weil sie mit den Römern zusammenarbeiteten. Sie galten als korrupt – gerade wegen ihres Reichtums. Eigentlich wollte niemand etwas mit Zachäus zu tun haben. Nur Jesus hat die Einsamkeit dieses Mannes in seinen feinen Kleidern gespürt – und seine Sehnsucht danach, gesehen zu werden. Als Jesus in die Stadt gekommen ist, saß Zachäus oben auf einem Baum, um ihn zu sehen. So ist er Jesus ins Auge gefallen und der hat sich kurzerhand zu ihm ein. Sich und seine Freunde. Was konnte es Besseres geben?


Deutschlandfunk DLF, Sonntag, 09.06.2019, 8.35 – 8.50 Uhr

„Geburtstag der Kirche – nicht hinter Mauern im Tempel!“

„Zu Tisch, Deutschland!“ steht auf dem Plakat. „Ein Toast auf die offene Gesellschaft!“ Es ist eine Einladung für nächsten Samstag, den 15. Juni. Weiter heißt es: Tische und Stühle raus und schön eindecken! Freundinnen, Freunde, Nachbarn und Fremde einladen, essen, debattieren und gemeinsam die Demokratie feiern – an hunderten Tafeln gleichzeitig, bis spät in die Nacht.

Dahinter steht die Initiative „Die Offene Gesellschaft“ mit Harald Welzer und der Diakonie Deutschland, in den letzten Jahren hat sie weit über 1.000 Veranstaltungen im ganzen Land organisiert. Die Initiative versteht sich als Teil einer verantwortungsbereiten Zivilgesellschaft. Und der „Tag der offenen Gesellschaft“ soll eine gute neue Tradition werden. Die Anmeldung ist freigeschaltet; jeder kann mitmachen. Egal ob als Privatperson, Firma, Verein oder Kirchengemeinde.

Tischgemeinschaften haben Konjunktur. Zum Beispiel die Kaffeetafel neulich beim Bundespräsidenten. Dabei muss es gar nicht immer so groß sein. In vielen Kirchengemeinden treffen sich Ältere einmal die Woche; da wird gemeinsam eingekauft, reihum gekocht, Rezepte werden ausgetauscht und Geschichten erzählt. Und wenn jemand fehlt, fragt bestimmt eine andere nach. Anderswo öffnet die Cafeteria im Altenzentrum für die Kinder der nahegelegenen Tageseinrichtung. In Neukölln kochen Flüchtlinge für Obdachlose. In den interkulturellen Gärten bei uns in Garbsen werden Gerichte aus fremden Heimaten serviert. Und in der Schweiz gehören 450 Gruppen zum Tavolata-Netzwerk. „Ich weiß nicht, was schöner ist“, sagt Erna Plüss vom Netzwerk, „gemeinsam zu planen, zu kochen, einzukaufen und Gäste zu bewirten oder sich als Gast an einen einladenden Tisch zu setzen und das Essen zu genießen.“

Tischgemeinschaft, das ist Geben und Nehmen, Austausch und Zugehörigkeit. Nur selbstverständlich, das ist sie nicht, oder nicht mehr. Zum Beispiel hat die Wohnentfernung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern in den letzten Jahren ständig zugenommen. Nur noch ein Viertel gibt an, dass ihre erwachsenen Kinder noch am selben Ort wohnen. Im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-jährigen immer seltener praktische Hilfe. Die familiären Netze dünnen aus; das Leben verändert sich rasant. Und auch die Nachbarschaften verändern sich – angestammte Mieter müssen ausziehen, andere ziehen in die dann schick sanierten Viertel. Ladenzeilen verschwinden und auf den Straßen hört man andere Sprachen. Da ist gute Nachbarschaft Gold wert.

Vor drei Wochen war der Europäische Tag der Nachbarn. Da stellten bei uns in der Nähe 20 Leute ein Straßenfest auf die Beine – um das gute Zusammenleben zu feiern. 20 Leute zwischen 1 und 98. Eine Großfamilie, zwei alleinstehende Rentnerinnen, zwei ältere Paare und ein Witwer, einige mit russischem Akzent und einige aus Jordanien – und dann das Ehepaar Class. Als Günter nach einer Herz-OP Hilfe brauchte, da waren sie da. Ganz ungefragt. Für Fahrten zum Arzt oder auch um Getränkekisten aus dem Supermarkt mitzubringen. Das galt es jetzt zu feiern. Die Männer bauten Zelt und Biertische auf, eine Nachbarin machte Zaziki, eine andere Nudelsalat. Solche Feste entstehen neuerdings auch über das Internet. Man kann sich anmelden bei www.nebenan.de und die eigenen Ideen einbringen. Oder auch nachfragen, wer zufällig zum Supermarkt fährt oder einen Bohrer verleihen kann.

Die Unterstützung in der Nachbarschaft wurde im letzten Freiwilligensurvey der Bundesregierung abgefragt. Dabei zeigte sich: immerhin 25 Prozent engagieren sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. Und noch etwas wurde klar. Die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Es tut gut, zu wissen, dass man nicht allein ist.

Das ist auch der Grund, weshalb das gemeinsame Wohnen wieder so viel Bedeutung bekommt – in Genossenschaften, Seniorenwohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäusern, aber auch in Stadtteilzentren entwickelt sich eine neue Gestalt des Sozialen: die Caring Communities. Manchmal ganz klein und fast privat: Wenn junge Studierende mietfrei bei Älteren wohnen und im Gegenzug einkaufen oder den Garten pflegen. Und manchmal in organisierten Nachbarschaftsnetzen von Sozialstationen, Kommunen und Gemeinden: Mit Telefonketten, Begleitung bei Arztbesuchen und Einkäufen oder in der Demenzbegleitung.

Es gibt unglaublich viele spannende Projekte. Die Leihomas und Lesepaten. Die Pflegebegleiter, die in Abstimmung mit einer Sozialstation für nachbarschaftliche Dienste sorgen, die Stadtteilmütter und Ausbildungsmentoren. Oder die Jobpaten, die schwer vermittelbare Jugendliche durch ein Praktikum bis in ein festes Arbeitsverhältnis begleiten. Das Herz der neuen, gemeinwohlorientierten Bewegung, schlägt bei den „jungen Alten“. Sie verfügen stärker als Jüngere über ihre eigene Zeit, sie bringen vielfältige Kompetenzen aus Beruf und Familie ein und sie sind meist Kennerinnen und Kenner ihres Lebensumfelds am Wohnort.

„Mut zu mehr WIR“ steht auf dem Flyer. Drei Kirchengemeinden in Hannover laden zu einem Werkstattgespräch ein. „Welches Miteinander wünschen wir uns für das Zusammenleben in unserem Stadtteil?“ fragten sie. „Welche Werte und Grundlagen sind uns dabei wichtig? Über welche Fragen müssen wir uns neu verständigen?“ Grundlage für diesen Austausch sind die unterschiedlichen Erfahrungen der Gemeinden in der Flüchtlings- und Gemeinwesenarbeit. Es geht also auch um die Frage, welchen Beitrag Kirche und Religionsgemeinschaften in einem multireligiösen und kulturell vielfältigen Stadtteil leisten können, um das „WIR“ zu stärken. Die drei Gemeinden setzen sich seit 2015 für die Integration der Geflüchteten ein. Sie vermittelten zuerst Praktika, inzwischen auch Ausbildungs- und Arbeitsplätze und haben sogar den Integrationspreis der Stadt Hannover bekommen.

„Wenn Kirchengemeinden das WIR auch wirklich als WIR sehen – wenn sie ihr Dorf oder ihren Stadtteil meinen – dann ist ein erster Schritt getan“ sagt Peter Meißner von der Initiative Gemeinwesendiakonie. „Wenn Gemeinden andere Akteure einladen und mit ihnen in den Austausch gehen, wenn sie fragen, was braucht dieser Ort und wie sind unsere Wahrnehmungen, dann kommt etwas in Bewegung. Wenn Kirchengemeinden sich auf die Haltung „Nicht für sondern mit den Menschen“ einlassen, dann zeigen sie, dass sie wirklich an den Lebenslagen vor Ort interessiert sind“.

So wie in Filsum in Ostfriesland. Da betreibt die Gemeinde seit kurzem eine Fahrradpumpstation mit einem Fahrradflickzeugautomaten. Hintergrund ist die Tatsache, dass es in Filsum überhaupt keine Orte der Begegnung mehr gibt. Aber Filsum liegt an der Fehnroute, eine große Zahl von Fahrradtouristen fährt durch den Ort. Die Pumpstation, verbunden mit einer Klönsnackbank, ist ein erster Anlaufpunkt für Einheimische und Touristen, um ins Gespräch zu kommen.

„Nicht für, sondern mit den Menschen“ – das ist eine große Herausforderung. Das bedeutet, Menschen zu befragen und sie zu beteiligen. Und das hat auch Auswirkungen auf das Verständnis und das Leitbild einer Kirchengemeinde. Manche fürchten, dass sich das Profil der Gemeinde verwässert, dass nicht mehr erkennbar ist, für was die Gemeinde eigentlich steht. Zugleich sind immer mehr Menschen auf der Suche nach Spiritualität – „aber vielleicht ist unsere Spiritualität nicht mehr die der Menschen?“, fragt Peter Meißner.

Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche, heißt es. Ich sehe eine kleine Backsteinkirche vor mir – vom Kirchturm hängt ein großes Herz und durch die offenen Türen wird ein Blumenstrauß gereicht. Aber das ist nur ein Logo für den Gemeindebrief. So niedlich fing es gar nicht an. Ganz im Gegenteil: Alles begann mit einem Brausen vom Himmel, mit einem Sturm, der die Freunde Jesu aus dem Haus trieb, in das sie sich nach Jesu Tod aus Angst verkrochen hatten. Es trieb sie raus auf die Straßen und Plätze der Stadt, wo sie mit wildfremden Menschen ins Gespräch kamen. Über Jesus, über ihre Ängste und ihre Hoffnung und über das neue Jerusalem. Die Bibel zählt die Volksgruppen auf, die damals in der Stadt waren. Fremde Namen sind das, an denen man sich leicht verschluckt: Parther und Meder und Elamiter, Menschen aus Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, aus Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene… – und viele mehr.

Und dann beschreibt die Bibel, wie viele sich begeistern ließen und Feuer fingen und wie die Kirche wuchs, weil sie alles teilten, füreinander sorgten. Und weil sie regelmäßig zusammen aßen. Die erste christliche Gemeinde war eine Caring Community. Streit gab es auch damals, darüber, wofür die Gemeinde wirklich stand… Doch der Geburtstag der Kirche fand auf den Straßen und Plätzen und in den Häusern Jerusalems statt – nicht hinter Mauern im Tempel. Sie saßen alle an einem Tisch – Männer und Frauen, Juden und Griechen – auch die Witwen und Waisen. Eine bunte Schar, wie eine große Familie.

„Wenn wir wollen, dass Kirche in Gang kommt, dann müssen wir selbst gehen“, heißt es beim Kirchenentwicklungsprojekt „Kirche geht“ in der Schweiz. Rausgehen. Neues entdecken, den Blick öffnen für die Menschen und ihre Wohnräume vor Ort. Und das am besten gemeinsam. Im Austausch über das, was wir wahrnehmen. Pfarrer Martin Piller aus St. Maria Lourdes in Zürich nimmt seine Besucher mit – zu einem Erkundungsgang durch das Viertel. Ganz unterschiedliche Wohngebiete. Einzelne Häuser mit Gärtchen. Reihenhäuser. Wohnblocks verschiedenster Art – hoch modern oder schon etwas in die Jahre gekommen. Wie könnte eine Form von Kirche passen, für all die unterschiedlichen Menschen, die dort leben?

Immer wieder machen sich Menschen aus der Pfarrei auf den Weg, treffen andere im Viertel und schauen gemeinsam, wie Gemeinschaft entstehen kann, was sie gemeinsam für ein gutes Leben vor Ort tun können. „Es geht nicht um volle Kirchenbänke. Es geht um das volle Leben. Und das findet sich eben auch vor der Kirchentür“, sagen sie. Zusammenarbeit ist gefragt. Für Asylsuchende im Quartier. Für Menschen, die Gemeinschaft suchen. Für Leute, die etwas bewegen wollen, die Unterstützung brauchen, vielleicht auch nur einen Anstoß, sich in ihrem Lebensumfeld heimisch zu fühlen.

In Zürich fängt man klein an. Dort entstehen kleine christliche Gemeinschaften, 12- 20 Leute pro Nachbarschaft, von 1 – 98. Sie treffen sich wie die Tavolata-Kreise in den Häusern, manchmal in den Gärten – zum Bibelteilen und zum Austausch über ihren Alltag und ihre Sorgen. Kleine ‚Sorgende Gemeinschaften‘, die sich jedes Mal fragen: Wie wird dieser Bibeltext mein Handeln in den nächsten Wochen bestimmen? Welche ganz praktische Anregung nehme ich für mich mit? Aus diesem Austausch erwächst manchmal sehr viel – die kleinen Alltagsdienste oder sogar eine Sterbebegleitung. So ist es bei Tavolata auch. Aus den Tischgemeinschaften entsteht ganz oft mehr: gemeinsame Wanderungen, Spielenachmittage, sogar Reisen.

Das neue Jerusalem, die neue Stadt, von der die Bibel schreibt, ist ein Versprechen. Eine Herausforderung und eine Einladung, sich jetzt schon einzulassen auf das Leben in der himmlischen Welt. Barmherzigkeit leben, der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen – und so dafür sorgen, dass unsere irdischen Städte etwas vom Glanz der himmlischen spiegeln. Auch wenn wir noch auf den neuen Himmel und die neue Erde warten – lasst uns anfangen, die neue Stadt zu bauen, die Stadt von Frieden und Gerechtigkeit.¹

(1) Anthony Pilla, katholischer Bischof von Cleveland, 1993. 

Deutschlandfunk DLF, 2. Advent, 9.12.2018, 8.35 – 8.50 Uhr
Link zur Sendung https://rundfunk.evangelisch.de/node/9875/

Wohlfahrt, Wohlstand, Wohlgefallen.

Weihnachtswünsche ernst genommen

Ein alter Mann – im Weihnachtszimmer – gedeckter Tisch und Tannenbaum, alles festlich geschmückt. Er steht am Fenster, allein, und wartet auf seine Kinder. Aus ihnen ist etwas geworden – einer ist Klinikarzt, die Tochter verdient gut und hat eine eigene Familie. Der andere Sohn ist weltweit unterwegs, im Management. Alle in der Rushhour des Lebens – da wird die Zeit knapp. Eine Karte, eine Nachricht auf den Anrufbeantworter – sie denken an den Vater, aber er bleibt allein. Alle Jahre wieder. Aber diesmal ist alles anders, da kommen sie tatsächlich nach Hause, die drei. Der alte Mann hat zu einem Trick gegriffen und seinen Kindern die eigene Todesanzeige geschickt. Und da kommen sie. Mit dem Auto, dem Flieger – aus aller Welt. Die Familie versammelt sich um den Tisch, sie essen, erzählen und lachen zusammen.

Mit einem Schlag ist klar, worauf es wirklich ankommt. Der kurze Clip war die Weihnachtswerbung, von Edeka, vor drei Jahren. Klar, die Speisen und Getränke gibt es im Supermarkt um die Ecke – aber erst die Tischgemeinschaft macht den Weihnachtstisch so schön. Das weiß auch Edeka; beim aktuellen Spot geht es dann auch wieder um die Gans, die gefüllte. Ich sehe den vollen Einkaufswagen, überlege, was ich selbst noch besorgen muss – und schon steht mir vor Augen, was sonst noch alles geplant, verabredet, gemanagt werden muss in den nächsten zwei Wochen. Die Feiern in Familie, Gemeinde und Betrieb, die letzten Grüße und Geschenke. Viele haben schon im November mit den Einkäufen angefangen, weil die To-do-Listen immer länger werden. Da kamen die Rabatte am Black Friday sehr gelegen. Die Einkaufszentren waren schwarz vor Menschen. Ob das hilft, entspannter auf Weihnachten zuzugehen?

“Mehr Raum für mich“, benennt eine Frauenzeitschrift das Problem[1] und schlägt Yoga zur Entspannung vor. Das mag der Einzelnen helfen. Aber viele haben das Gefühl, selbst gar nicht mehr vorzukommen vor lauter Angst, nicht alles zu schaffen. Und bald jeder zweite schafft’s nur noch, weil er die Weihnachtseinkäufe im Internet abarbeitet. Susanne Ackstaller macht’s anders. Sie will lieber „Feste feiern statt feste einkaufen“. Sie ist angewidert vom Kaufrausch und schreibt auf ihrem Blog[2]:

„Ehrlich gesagt, war ich noch selten so angewidert von unserem Konsumverhalten. Kaufenkaufenkaufen als ginge es um unser Leben – und nur der überlebt, der möglichst viele Rabatte einlöst. Abstoßend ist das. Ich habe auf jeden Fall beschlossen, diesen Advent lieber mit lieben Freunden zu verbringen, mit leckerem Essen und guten Gesprächen. Collect moments. Not things.“

Momente sammeln, nicht Sachen. Längst haben sich sogar Adventskalender in Probepäckchen verwandelt – für Kosmetikartikel oder Tee. Vorfreude als Konsumanreiz. Und wenn dann endlich alles geschafft und die Deadline erreicht ist – Heiligabend unterm Tannenbaum – hat so mancher einen Kater. Aus Anspannung wird Überdruss.

Als meine Schwester in den USA lebte, hatte sie oft Sehnsucht nach dem deutschen Advent. Lebkuchen und Stollen kann man ja schicken, „Macht hoch die Tür“ und Bachs „Weihnachtsoratorium“ gibt es auf CD, aber die in unseren Städten gibt’s nicht im Netz. Einmal, als das Heimweh besonders stark war, hat sie sich freitags abends in den Flieger gesetzt und ist nach Nürnberg geflogen. Christkindlesmarkt mit Posaunen, Tannengrün und Lichterschmuck und der Duft von gebrannten Mandeln – Weihnachten verzaubert alle Sinne und verwandelt die ganze Stadt.

Die alten Feste lassen keinen außen vor. Das habe ich vor Jahren so erlebt – in Kairo, im Ramadan. Abends, wenn Familien, Freunde und Gäste sich zum Iftaressen treffen, leuchten bunte Glaslaternen über allen Hauseingängen – und sie laden jeden ein. Auch die Müllsammler an den Straßenecken. Mich hat das so begeistert, dass ich eine Ramadanlampe mitgebracht habe – im Handgepäck. Jetzt im Advent leuchtet sie blau, rot und golden in unserem Flur. Was für wunderbare Rituale die großen Religionen haben!

Das weiß längst auch die Wirtschaft.

Der Sozialphilosoph Christoph Deutschmann spricht vom Kapitalismus als Religion. [3]Die allermeisten kaufen mehr, als nötig – als könnten wir uns mit Dingen den eigenen Wert bestätigen. Im Konsumieren und Produzieren suchen viele nach Sinn. Wirtschaftswachstum wird zum Wert an sich. Und die Globalisierung hat die Märkte entgrenzt: Die Produktionsketten von Autos oder Kleidung sind weltweit verbunden. Und Internetfirmen wie Amazon haben dafür gesorgt, dass es jetzt auch bei uns Black-Friday- Rabatte gibt. Die Entgrenzung der Märkte verändert auch unsere Zeitrhythmen, unseren Arbeitsalltag, unser Leben. Wer es sich leisten kann, kann Dienstleister beauftragen, das Fest vorzubereiten und Geschenke zu organisieren – auch für die eigene Familie. Es gibt kaum noch etwas, was man für Geld nicht kaufen kann

In der globalisierten Welt ist alles möglich, zu jeder Zeit und überall. Black Friday in Deutschland. Ein Weihnachtsbasar in Kairo. Und Lebkuchen im Oktober. Alles lässt sich ordern, mindestens im Netz. Was man für Geld nicht kaufen kann“, darüber schreibt der Harvard-Philosoph Michael Sandel[4].

Er fragt in seinem Buch nach den moralischen Grenzen des Marktes: Darf ein Unternehmen Brunnen abschöpfen und das Wasser eines ganzen Dorfes privatisieren? Darf man eine Leihmutter bezahlen, um den eigenen Kinderwunsch zu erfüllen? Dürfen wir die Luft so verschmutzen, dass Kinder und Alte daran krank werden?

Dass Wohlfahrt mehr ist als Wohlstand, ist den meisten klar. Wir zerstören, was uns lieb ist, wenn wir alles dem Markt überlassen. Der Kaufrausch trübt den Blick auf den andern. Und Geschenke stiften noch keine Gemeinschaft – wohl aber ein gedeckter Tisch und Zeit füreinander.

Johann Volkmann[5] hat so einen Tisch um die Welt geschickt. Er steht auf den Plätzen von Akko, von Bochum, Galway und Barcelona. Es ist immer ein anderer, aber er sieht immer gleich aus. Darauf Teller mit weißem Packpapier. Passanten sind eingeladen, darauf zu schreiben. Die Frage lautet überall gleich: Was ist unbezahlbar? Viele Teller werden dicht beschrieben, auf anderen steht nur ein Wort. Volkmann hat die Frage umgetrieben, wie wir Menschen auf dieser Welt zusammenleben wollen. Vier Jahre lang ist er mit seinem Kunstprojekt um die Welt gezogen. Was unbezahlbar ist, lässt sich mit Geld nicht kaufen. Aber träumen lässt sich davon. Mitgeträumt haben auch Menschen in Bethlehem: sie träumen von Freiheit, Frieden und Freundschaft.

Bethlehem. Ich kann nicht daran denken, ohne den Schuppen mit dem Säugling zu sehen. Maria, seine Mutter, und Joseph, der sich gegen alle Zweifel entschieden hat, hier zu bleiben – bei Frau und Kind. Die Erbärmlichkeit der Unterkunft, die Zerbrechlichkeit der Familie. Auch die Sterndeuter sind da – durch die halbe Welt sind sie gereist auf der Suche nach dem neugeborenen König. Sinnsucher auch sie. Jetzt glauben sie, dass dieses Kind in der zugigen Unterkunft die Zukunft bringt – und sie legen ihm ihre Geschenke zu Füssen: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Nichts davon passt wirklich hierher. Die Hirten, die danebenstehen, wundern sich – es sind einfache Leute, sie haben nicht viel zu geben. Aber das spielt keine Rolle. Hier geht es nicht um Leistung und Gegenleistung, um Gabe und Gegengabe. Es ist nicht das Gold, von dem der Glanz ausgeht. Es ist das Kind. Dieser kleine Mensch verkörpert die Hoffnung – auf ein neues Miteinander aller Menschen

Der amerikanische Anthropologe Alan Fiskel hat Tauschbeziehungen und Nahbeziehungen unterschieden.[6] Nahbeziehungen mit Verwandten und Freunden leben vom Vertrauen. Da geben alle Beteiligten, was sie können, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Es geht nicht um Dinge oder Waren, es geht um geteilte Erlebnisse. Tauschbeziehungen funktionieren anders – sie sind interessengeleitet. Da schauen wir auf den Marktwert, den Geldwert der Gabe.

Das ist das Problem: Wenn aus Nahbeziehungen Tauschbeziehungen werden, sind wir enttäuscht. Oder vielleicht auch wütend. Gerade an Weihnachten. „Ich war noch selten so angewidert von unserem Konsumverhalten“, schreibt Susanne Ackstaller. „Collect Moments. Not things.“

Das ist das Besondere an Weihnachten: An der Krippe werden Fremde zu Freunden. Da gibt tatsächlich jeder, was er kann – die einen legen Gold an die Krippe, die anderen fallen auf die Knie. Die einen bringen ihre Gaben, die anderen ihre Hingabe. Das darf man nicht verrechnen. Weil es um Glück geht, und nicht um Geld oder Gold. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ sollen die Engel gesungen haben. Legenden und Bilder erzählen, dass das Kind gelächelt hat – ich glaube, es ist Gott selbst, der hier gelächelt hat. Weil er einverstanden ist mit seinen Menschen. Was für eine Vision – eigentlich zu schön, um wahr zu sein. Die Weihnachtslieder halten sie fest, die Erinnerung, dass ein anderes Leben möglich ist.

Manchmal denke ich an den Advent, den ich im Krankenhaus verbracht habe. Wirbel gebrochen und Arm in Gips. Da war nichts mit Einkaufen und Briefe schreiben. Echte Kerzen durfte man nicht anzünden; ich war heilfroh, dass wenigstens draußen ein Weihnachtsbaum leuchtete. Und sonntags spielte ein Posaunenchor Weihnachtslieder. Zum Heulen schön – mehr war nicht nötig für das Fest.

Ich glaube, die schönsten Feiern sind die, wo wir einfach beschenkt werden. Wohnungslose bei der Bahnhofsmission, Einsame im Quartiersladen – bei Kartoffelsalat und Würstchen wie früher zu Hause. Da, am Tisch, werden nicht nur die Lebensmittel geteilt – da teilen Menschen ihre Zeit und ihre Geschichten. An diesem Abend können auch Fremde einander zuhören und füreinander sorgen. Wer so etwas erlebt, der spürt: da wird das Leben gut, da breitet sich Wohlgefallen aus.

Noch zwei Wochen bis Weihnachten. Das Weihnachtsgeschäft läuft. Gut für Wohlstand und Wachstum. Aber Weihnachten ist mehr: das Fest will alle einbeziehen – die Wohnungslosen genauso wie die Einsamen.

Wohlfahrt lässt keinen außen vor. Die Philosophin Hanna Arendt nennt das „Sorge für die Welt“[7]. „Welt“ – das ist für sie dieser unersetzliche „Zwischenraum, der zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen“ zu gestalten ist. Die Atmosphäre, die uns umgibt und verbindet – in der wir die ungeweinten Tränen sehen, die Sehnsucht spüren und die Engel singen hören. Wo jeder seinen Platz hat – und keine vergessen wird. Wie an der Krippe in Bethlehem.

Noch zwei Wochen bis Weihnachten. Ich will mir Zeit schenken, damit ich die Tage nicht abhake wie eine To-do-Liste. Damit ich mein Dasein nicht verbringe wie ein Geschäft. Will Raum haben, für mich und andere. Und lieber Feste feiern als feste einkaufen – vielleicht auch mal mit Fremden? Vor zwei Jahren wurde die Kampagne #keinerbleibtallein ins Leben gerufen. Ziel ist, Menschen, die Gesellschaft suchen, Einladungen aus der Nähe zu vermitteln, eben: #keinerbleibtallein. Da fällt mir der alte Mann wieder ein. Vielleicht lässt er sich dieses Jahr einladen? Die Aktion geht noch bis zum 20. Dezember. Das könnte mir wohl gefallen. Wohlgefallen – das ist mehr als Wohlstand. Das ist Erzählen und Lachen und die Engel singen hören. Weihnachten eben, wie es gemeint ist.

[1] Emotion, 12 /18
[2] Texterella
[3] Kapitalistische Dynamik. Eine gesellschaftstheoretische Perspektive. VS, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-531-15945-4
[4] Was man für Geld nicht kaufen kann, Berlin 2014
[5][5][5] www.kubis.org
[6] Vgl. Philosophie Magazin Dez 2008, Tausch und Täuschung
[7] Martina Holme, Die Sorge um sich- die Sorge um die Welt. Martin Heidegger, Michel Foucault und Hanna Arendt, Frankfurt 2018