Diakonische Alltagsfrömmigkeit – Soziales Engagement und spirituelle Erfahrung

1.Einfach leben

„Simplify your life!“ Seit der Jahrtausendwende ist eine neue Bewegung in Gang. Junge Leute machen keinen Führerschein mehr, Städte planen Mobilitätskonzepte mit weniger Autos. Architekten konzipieren small houses für die Innenstädte und Eltern schicken ihre Kinder in Waldkindergärten. Und immer mehr Leute versuchen, sich von Unnötigen zu trennen und ihren Besitz auf weniger als 1000 Dinge zu reduzieren. Man erkennt sie schon am Aussehen: Rucksack und Sneakers, das Klappfahrrad und die Wasserflasche, Handy und Stöpsel in den Ohren – dazu veganes Essen, so kommst Du überall hin. Loslassen und einfach leben ist die Devise. Erlebnisse sammeln – nicht Dinge.

„Detox your life!“ „Wenn die gesamte Lebenswirklichkeit dem Gewinnstreben unterworfen wird, verkehrt sich der ökonomische Nutzen in einen Verlust an Lebenswert“, sagt Gerhard Scherhorn von der Humboldt-Universität, Berlin. „Der gesellschaftliche Wohlstand sinkt, das Gemeinwohl zerfällt, die Umweltzerstörung nimmt zu. Ein Weiter so wäre fatal.“ Mit unserem Wirtschaften verbrauchen wir Ressourcen und Lebenschancen armer Bevölkerungsgruppen im Süden; wir verschärfen die ökologische Krise und damit auch die Fluchtbewegungen. Sind die Forschungsergebnisse des Club of Rome inzwischen bei den meisten angekommen? „Erst wenn die Nachfrage nach Öl sinkt, lohnt es nicht mehr, Förderzonen im Urwald zu erschließen; erst wenn der Wasserdurst von Plantagen und Fabriken abklingt, bleibt genügend Grundwasser für Brunnen in den Dörfern; erst wenn der Wunsch nach Rindersteaks zurückgeht, braucht nicht mehr Boden für Weiden und Futtermittelanbau vereinnahmt zu werden.“, heißt es in der Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“. Die Zukunft hängt auch von uns ab. Von unserem Lebensstil.

„Simplify your life. Detox your life. Small is beautiful!“ Regionales Wirtschaften hat Konjunktur. Mit genossenschaftlich geführten Dorfläden kehren die Tante-Emma-Läden zurück. Bürgerbusse sorgen für Mobilität in abgehängten Regionen, Umsonstläden und Tafeln sind selbstverständlich geworden. In Stadtgärten werden alte Pflanzensorten neu gezüchtet, in diakonischen Einrichtungen werden Bienenvölker gehalten. Einige Akademien und diakonische Einrichtungen haben ihre Einkäufe und ihre Küche umgestellt. In Krankenhäusern und Altenzentren scheint das noch zu dauern. Es geht um die Devise: Weg von der Produktion immer neuer Güter hin zu Sharing, Mehrfachnutzen, Reparatur und Erhalt.

„Haben, Lieben und Sein“, seien die drei Faktoren des Wohlbefindens, sagt Jan Delhey, Soziologe an der Jacobs University in Bremen. Dort gibt es einen Forschungszweig, der sich mit der „Geografie des Glücks“ beschäftigt. Auf einer Deutschlandkarte kann man sehen, dass Wohlbefinden und Zufriedenheit da am größten sind, wo es gute und gut bezahlte Arbeit gibt, bezahlbaren Wohnraum, eine gute Infrastruktur für Kinder und Familien und attraktive Sport – und Kulturangebote – und nicht zuletzt: wo das Zusammengehörigkeitsgefühl in den Nachbarschaften stimmt. Weit weniger, als manche glauben, hängt unsere Seligkeit davon ab, dass sich unsere materiellen Wünsche, die hoch gesteckten Lebensziele erfüllen. Mindestens genauso wichtig ist, dass wir nicht allein sind, sondern uns zugehörig fühlen zu einer Gemeinschaft. Es geht um ein neues Miteinander über Lebensalter und Herkunft hinweg. Um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst und für andere, für die Umwelt und auch für die gesellschaftliche Entwicklung.

Ist es denn Spiritualität, was die neue Bewegung treibt? In jedem Fall ist es Respekt vor dem Leben. Und es ist nicht abwegig, Frömmigkeit so zu verstehen: als lebensdienliches Verhalten. Die meisten von uns wollen, dass unser Leben nicht nur uns selbst dient, sondern auch vor einem größeren Ganzen bestehen kann. Wir wollen dem Leben dienen. Auch mit ihrem Lebensstil. Wenn ich heute über diakonische Alltagsfrömmigkeit spreche, dann geht es sicher auch um unseren Beruf und die Zusammenhänge, in denen wir arbeiten. Zunächst aber geht es um unsere ganz persönlichen Erfahrungen.

 

2. In Zeiten des Umbruchs

Neue Initiativen und eine breite bürgerschaftliche Bewegung kennzeichneten auch das 19. Jahrhundert. Mit der Industrialisierung, mit grenzüberschreitendem Handel und wachsender Mobilität gingen damals schon Armut, Migration und prekäre Beschäftigungsverhältnisse einher. Kinder und Pflegebedürftige blieben sich oft selbst überlassen – die Familien waren überfordert. Die Kriminalität wuchs. Es war eine Zeit des Umbruchs, die große Transformationszeit, die Polanyi beschrieben hat. Menschen wie Johann Hinrich Wichern, Theodor und Friederike Fliedner, Amalie Sieveking und Florence Nightingale reisten genauso wie die Kaufleute quer durch Europa, um Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zu suchen und neue Modelle zu entdecken. So wie heute Menschen in die Türkei, nach Griechenland, nach Libyen und Jordanien reisen, um zu sehen, wie die verschiedenen Staaten mit Flüchtlingen umgehen – und dann Schiffe chartern, Arbeit und Beschäftigung schaffen, Schulen einrichten, um zu helfen. Es waren damals Unternehmer und Ratsherren, adelige Damen, engagierte Bürgerinnen und Bürger, Pfarrfamilien. Sie waren Reisende, Netzwerker, mutige Innovatorinnen, Publizisten. Fliedner zum Beispiel, der den Barmherzigen Samariter als Kupferdruck auflegen und über den „Armen- und Krankenfreund“ vertreiben und massenweise verkaufen ließ – als Beitrag zu seiner diakonischen Arbeit. Fliedner, der auf seinen Reisen immer ein kleines Fürbittenbuch mit sich nahm – so waren die Menschen, die ihm anvertraut waren, nicht vergessen. Er war wie die anderen zutiefst überzeugt, dass die Herausforderungen ihrer Zeit Herausforderungen an ihren Glauben waren.

Und der war biblisch geprägt. Die Reden und Gleichnisse Jesu lenkten ihren Blick. Sie waren gleichsam die Brille, durch die sie die Welt sahen. Sie sahen die Dienstmägde, die ausgebeutet wurden, die Landarbeiter in den billigen Unterkünften – verlorene Töchter und Söhne in ihrer eigenen Zeit. Und sie rechneten damit, dass ihnen in den vernachlässigten Kindern, den allein gelassenen Kranken, den jungen Leuten im Gefängnis Gott selbst begegnen würde – so wie es Jesus zusagt hatte: „Alles, was ihr getan habt meinen geringsten Brüdern, das habt Ihr mir getan.“ Es ging um einen Lebensstil, der sich dem anderen offen und respektvoll zuwendet, statt sich abzuwenden. Hungernden zu essen geben, Durstige tränken, Fremde beherbergen und Kranke pflegen, Gefangene besuchen und Tote bestatten. Die Werke der Barmherzigkeit, die die meisten noch in Altarbildern und Kirchenfenstern vor Augen hatten, waren plötzlich brandaktuell. Es ging um Achtsamkeit an den Brennpunkten. Um klare Worte und mutiges, kluges Handeln.

Auch damals waren sie unschwer zu erkennen, die Protagonistinnen der Bewegung: an der blauen Schürze, die Frauen wie Männer trugen. Die Handwerksgesellen aus Hamburg genauso wie der Adelige von Bodelschwingh und die Diakonissen mit den gepunkteten Kleidern. Sie verstanden sich als Dienstleute – darauf legten sie Wert. Erkennbar auch an den kräftigen Schuhen, mit denen man auch durch Staub und Dreck gehen konnte. Namaste: „Das Göttliche in mir grüßt das Göttliche in Dir“, bedeutet der Gruß im Buddhismus, bei dem man sich vor dem anderen verbeugt. Dienen lernen – dazu braucht es Wissen, aber auch Respekt. Und den Glauben, dass der andere Gottes geliebtes Kind ist, genauso wie ich selbst. Die neu entwickelten sozialen Berufe, die diakonischen Gemeinschaften gaben Menschen das Gefühl, gebraucht zu werden und etwas beitragen zu können zum Ganzen. Dabei ging es nicht zuerst um Geld – es ging um Zugehörigkeit.

„Jeder Mensch ist einzigartig und kostbar, darum fördern wir uns gegenseitig in unseren Fähigkeiten und Talenten. Wir helfen nicht, wir unterstützen einander auf Augenhöhe, denn keiner ist besser als der oder die andere, und nur im Teilen sind wir wirklich reich.“ Das ist der weltweite Sharehausgedanke. In dem schönen, hundertjährigen Sharehouse Refugio in Neukölln leben und arbeiten auf 5 Etagen Menschen zusammen, die auf der Suche sich nach einem neuen Leben, einer neuen Gemeinschaft. Menschen aus Syrien, Somalia, England und Deutschland, aus Schweden, Afghanistan oder der Türkei. Das Refugio ist eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft auf Zeit. Hier geht es nicht nur um die Integration von Geflüchteten, es geht um einen neuen Lebensstil. Das Sharehouse versteht sich als Teil eines Netzwerks, als Coworking-Space und soziales Unternehmen – refinanziert durch Vermietung von Räumen, Catering, Konferenzen und Spenden. Und damit knüpft es ganz selbstverständlich an die Tradition der Mutter- und Bruderhäuser an.

Dass Alex Assali nach seiner Flucht aus Syrien dort mitleben und mitarbeiten konnte, dass er von Anfang an dazu gehörte, das machte ihn einfach glücklich – und von diesem Glück wollte er etwas weitergeben. Er kochte Suppen und Eintöpfe, packte die Töpfe auf sein Fahrrad und installierte eine Warmhalteplatte auf den Straßen Berlins. Und schöpfte aus an jeden, der probieren wollte – und wurde über Facebook stadtbekannt. „Ich habe hier im Refugio gelernt, wie man tief leben kann“, schreibt auch Esra im Sharehouse-Blog. Das bedeutet für mich, wie man alle akzeptieren kann. Wir haben auf dieser Welt genug Platz. Wir sollen keine Angst vor anderen haben und vor uns selbst auch nicht. Wir sind alle auf der Flucht – auf der Flucht auch vor uns selbst. Teil deine Liebe mit allen. Mach die Revolution mit dir.“

Das hätte auch 1968 geschrieben werden können. Oder 1948, als die Erklärung der Menschenrechte formuliert und der ÖRK neu gegründet wurde. Oder auch 1894, als die Bahnhofsmission entstand, weil so viele Migrantinnen und Migranten im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder kamen. Tatsächlich lieben wir wieder in einer solchen Umbruchzeit! Und Esra beschreibt die Haltung, auf die es ankommt, wenn wir Zukunft gewinnen wollen. „Tief leben“ nennt sie ihre Form von Frömmigkeit. Es geht darum, unter die Oberfläche zu sehen, hinter die Klischees und Fremdbilder – so wie die Menschen, die im Gleichnis Jesu die Hungrigen speisen oder die Kranken besuchen. Was motiviert Menschen noch, was motiviert Politik und Gesellschaft, Zeit und Geld zu investieren in die Abgehängten, die Kranken und Sterbenden, in die Erwerbsunfähigen und „Nutzlosen“? Längst hat ja die Ökonomisierung alle Lebensbereiche erreicht: Arbeiten und Wohnen, Partnerschaft und Freizeit, Bildung und Pflege? Oder sind wir gerade wieder an einem Wendepunkt? Der Freizeitforscher Horst Opaschowski diagnostiziert „den radikalsten Wertewandel seit 30 Jahren“ und sieht eine„Ära der Verantwortung“ kommen – für die Gemeinschaft, die Umwelt, die nächste Generation. Es scheint, als ob viele spürten, dass wir uns selbst zerstören, wenn wir nur auf das Ego setzen. Opaschewski setzt darauf, dass wir in einer Gesellschaft leben werden, in der sich die Menschen nicht nur für ihre eigene Wohnung, ihren Konsum und Karriere interessieren, sondern auch für ihr Viertel und die Migranten, die darin leben. Aber wie kommen wir dahin und was setzt uns in Bewegung? Das Beispiel Sharehouse zeigt: Die Bewegung fängt bei uns selbst an. „Frag nicht, was die Welt braucht. Frag, was Dich selbst lebendig macht, was Dich zum Handeln motiviert. Denn was die Welt braucht, sind Menschen, die das neue Leben entdeckt haben“, schreibt Howard Thurman.

Florence Nightingale schlief als junges Mädchen mit Theodor Fliedners inspirierendem Kaiserswerth-Buch unter dem Kopfkissen, bevor sie von einer Familienreise dorthin ausriss. Sie wollte voller Begeisterung Diakonisse werden, bevor sie ins Lazarett auf die Krim fuhr, um für die Verletzten da zu sein. Sie erlebte Enttäuschungen, Erschöpfung und Ernüchterung zog daraus Kraft zur Reflexion – für politisches Engagement und neue Bildungsprogramme. Ein großes Vorbild: Die Lady mit der Lampe, die Erfinderin der neuzeitlichen Krankenpflege. Sie begeisterte viele und viele folgen solchen Vorbildern nach. Weltretterinnen, die sich manchmal selbst aus dem Auge verlieren, wie Florence auf der Krim. Wie jemand, der mit Stöpseln im Ohr durch den Wald joggt und die Vögel nicht mehr hört. Auf diesem Hintergrund wecken Begriffe wie Hingabe oder Mitleid, Großzügigkeit, Barmherzigkeit oder Verzicht bis heute Misstrauen. Aber an Begriffen hängt es nicht. Es geht um Erfahrung und Gefühl, um Austausch und Reflektion. Es geht um erfülltes Leben. Darum, trotz Enttäuschungen und Erschütterungen die Hoffnung zu bewahren. Manchmal hilft da ein gemeinsames Essen am besten, oder auch ein schönes Lied. Oder wir stoßen einfach mit einem fruchtigen Cocktail an „Auf das Leben“ – so wie neulich bei einem ermutigenden Reisesegen.

 

3. Entdeckungen im Quartiersladen

„Mach dich auf, lass Dich ein“, das ist das Motto des Gemeindeladens in meiner ersten Pfarramtsgemeinde. Ein Stadtteilladen, 1986 gegründet – mit Bücherei und Café, mit Kleiderkammer und Sozialberatung, getragen von einem großen ehrenamtlichen Team zusammen mit einer hauptamtlichen Sozialpädagogin. Mit dem Gemeindeladen verbinde ich persönlich entscheidende diakonische Entdeckungen. Ich werde nicht vergessen, wie viele Menschen sich schon vor der Eröffnung meldeten, um mitzumachen – Menschen, die bislang keinen Anknüpfungspunkt in der Gemeinde gefunden hatten. Oder gar nicht dazu gehörten. So wie die Schuhverkäuferin, die arbeitslos geworden war und nun zu unserer Starverkäuferin in der Kleiderkammer wurde. Sie sah auf den ersten Blick, was anderen passte, was zu ihnen passte. Sie kleidete die Armen wie der Vater im Gleichnis den verlorenen Sohn. Aber sie wusste es nicht; niemand hatte es ihr gesagt.

Wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Teamsitzungen von ihrer Woche erzählten, standen mir oft die Werke der Barmherzigkeit vor Augen, die Diakonie ganz elementar beschreiben. In den einfachen menschlichen Begegnungen können wir existenzielle, ja, religiöse Erfahrungen machen. Die Erschütterung durch die Bedürftigkeit anderer erinnert uns an die Bedürftigkeit unserer eigenen Seele; an das innere Kind, die Armut unseres Herzens, den Bettler in uns. Sätze wie Luthers: „Wir sind Bettler, das ist wahr“ oder Ezras: „Wir sind alle auf der Flucht“ waren immer wieder zu hören. Wir können uns abwenden, weil das schwer erträglich ist. Oder wir können uns öffnen. Wer anderen wirklich offen begegnet, der lernt dann auch, das eigene Leben mit anderen Augen zu sehen, und Belastungen ins Verhältnis zu den eigenen Chancen zu setzen. Wer bereit ist, die eigenen Kräfte einzubringen, der findet auch Zugang zu Kraftquellen, von denen er nichts wusste. Es war wunderbar zu sehen, wie das Team im Gemeindeladen auch innerlich wuchs. Und ich bin überzeugt, dass es diese alltäglichen Christusbegegnungen waren, die die Teamer befreit und lebendig gemacht haben. Victor Frankl, ein jüdischer Psychotherapeut, hat Recht: Es hängt alles davon ab, sagt er, ob wir einen Sinn in unserem Leben finden; ob unser Leben Bedeutung für andere hat – und sei es nur für einen Menschen, den wir lieben. Wir schöpfen Lebensmut und Vitalität daraus, dass wir nicht nur für uns selber leben. Ein erfülltes Leben – das liegt nicht nur an den äußeren Umständen. Frankl hat diese Entdeckung im KZ gemacht.

Und die, die fragten, haben im Laden tatsächlich eine Aufgabe gefunden, die sie erfüllte. Drei Ehepaare organisierten im Wechsel das Café Efeu- einen Sonntagstreffpunkt für Einsame. Einige junge Frauen betreuten die Mutter-Kind-Gruppen, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen. Gemeinsam mit der Diakoniestation und dem Arbeitsamt entstand FEA, ein Haushalts- und Botendienst für Ältere mit geringfügig Beschäftigte, vorher arbeitslosen Frauen. Da waren Männer und Frauen, die Frührentner oder arbeitslos waren – sie drängten darauf, dass das Ehrenamt gut organisiert wurde. Und es gab auch die anderen, die über diese Erfahrung den Wiedereinstieg fanden in ihren Beruf. Und schließlich die, die im Gemeindeladen ihr Hobby zum Angebot für viele machten.

Menschen kamen und gingen wieder, sie trafen sich und begegneten einander, sie vernetzten ihre Arbeit mit der Diakoniestation und dem Kindergarten, aber auch mit der AWO und dem Caritas-Altenheim, mit dem Gewerbekreis und der Stadtverwaltung. Der Leiter des Sozialamts kam, als die Mitarbeiterinnen verstehen wollten, wie Sozialhilfe funktionierte. Und die Flüchtlingsberaterin, als die Geflüchteten aus Sri Lanka oft im Laden Tee tranken. Jeder, der ein Problem mitbrachte, war auch ein Anstoß, um mehr zu erfahren und mehr zu lernen. Und wenn es gut ging, gingen beide verwandelt in ihren Alltag zurück – die Suchenden und die Mitarbeiter.

Ich war schon damals begeistert, was der Gemeindeladen hervorgezaubert hat. Er öffnete uns die Augen für die Gegenwärtigkeit und Tiefe biblischer Texte. Der Kontext brachte die Texte zum Klingen. Haupt- und Ehrenamtliche nahmen diese Erfahrung auf und legten die Texte aus. Persönlich und politisch. Und für verborgene Talente – wie Blüten aus Blumenzwiebeln hervorsprießen. Ich glaube, dass in jedem etwas ruht, was ans Licht drängen will – wir müssen nur eine Atmosphäre schaffen, in der es wachsen kann. Es ist sicher kein Zufall, dass bei Matthäus das Gleichnis von den anvertrauten Talenten gleich vor dem anderen vom großen Weltgericht kommt. Wer den eigenen Gaben nicht traut, wer sie also vergräbt und sich aus Angst selbst verschließt, der kann auch anderen nicht in Liebe begegnen. Und umgekehrt: Wer anderen hilft, aus Verzweiflung und Not herauszufinden, wer Hungrige speist und Kranke besucht, der entdeckt auch die eigenen Talente.

Der Urmythos der Diakonie aber ist das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Ich lese es wie eine Konkretion des Gleichnisses vom Großen Weltgericht – und zugleich als Hinweis darauf, wie niedrig Jesus die Schwellen hält, wie offen die Grenzen, wenn es um Zugehörigkeit geht. Da liegt einer blutend am Boden und die anderen gehen vorbei – sie folgen ihren Geschäften, leider auch frommen Geschäften. Der einzige, der hilft, ist einer, der weiß, was es heißt, übersehen zu werden – ein Fremder, ein Außenseiter, der Samariter. Er bleibt stehen und kniet sich hin – der da liegt, ist ein Mensch wie er. Oder ist es Gott, der ihm hier begegnet – der hilflose Gott, der auf unsere Liebe und Barmherzigkeit angewiesen ist? In den vielen Deutungen dieser Geschichte wechselt der Christus seine Position: Manchmal ist er der, der am Boden liegt – blutend und geschlagen – Christus der Gekreuzigte. Und manchmal ist er der, der den anderen aufhebt – Christus, der Diakon. Wir können einander zum Christus werden. Dazu braucht es nichts als ein offenes Herz, wache Augen und die Bereitschaft, sich stören zu lassen und hinzusehen. Johann Hinrich Wichern nannte das den allgemeinen Diakonat – Engagement, davon war er überzeugt, gehört zum Christsein wie das Gebet.

Dabei geht es nicht nur um das, was wir heute Ehrenamt nennen. Es geht um eine Haltung, um den Einsatz in Familie, Beruf und Nachbarschaft genauso wie in Initiativen und Vereinen. Entgegen der Meinung, unsere Gesellschaft würde immer kälter, zeigt aber der jüngste Freiwilligensurvey, dass die Zahl der ehrenamtlich Engagierten zwischen 1999 und 2014 in der gesamten Gesellschaft gestiegen ist – auch in den Kirchen, obwohl die Mitgliederzahlen in den Kirchen zurückgehen. 48,7% aller Evangelischen engagieren sich freiwillig – gegenüber 43,6 % in der gesamten Gesellschaft – und sogar 66,7% von denen, die sich stark mit der Kirche verbunden fühlen. Offenbar gibt es da einen inneren Zusammenhang. Erkennbar wird auch eine starke Traditionslinie: Christlicher Glaube und Engagement für den Nächsten sind hier besonders eng miteinander verbunden. Luther sprach vom Priestertum aller; Johann Hinrich Wichern später vom Diakonentum aller Christinnen und Christen. Auch da, wo protestantisch geprägte Gesellschaften hochgradig säkularisiert sind wie in den Niederlanden, zeigt sich: Der Kirchenbesuch, den der Religionsmonitor misst, ist zwar niedrig, aber die Engagementquote ist hoch.

 

4. Spiritualität, Christsein, Kirchenmitgliedschaft

Kürzlich habe ich einen „City-Guide für kurze Auszeiten und überraschende Begegnungen“ entdeckt. Die Autorin erinnert daran, dass wir „die Einheit und Ganzheit des Lebens nicht nur auf dem Meditationskissen erleben können, sondern auf den Straßen der Stadt“ – in der Begegnung mit Obdachlosen, beim Besuch der Wohngemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderung, beim Deutschkurs in der Flüchtlingsunterkunft. Sie erzählt von den spirituellen Erfahrungen eines Notarztes und von der Rückkehr der Gärten in die Stadt – von diakonischer Spiritualität aus der Perspektive einer Neugierigen.

Spirituelle Erfahrungen – persönlich, familiär oder kirchlich – sind oft der Wurzelboden für das eigene Engagement. Bis in die Nachkriegszeit basierte das Ehrenamt sicher meistens auf christlichen Überzeugungen. Heute gilt aber oft das Umgekehrte: Erfahrungen im Engagement erschließen einen neuen Zugang zu Spiritualität. Diakonie ist nicht mehr nur Frucht des Glaubens, sondern die „Werke der Barmherzigkeit“ sind der Weg, um den Glauben mitten im Alltag zu entdecken. In unserer Arbeit erleben wir Ohnmacht und Angewiesenheit, Wandlung und Veränderung, Staunen und Begeisterung. Wir entdecken die eigene Berufung, ermächtigen uns gegenseitig, erleben die Tragkraft einer Gemeinschaft und sehen unser eigenes Leben wie in einem Spiegel – überraschend deutlich, wenn das Glas unterlegt wird mit der Silberfolie eines biblischen Bildes.

Natürlich ist mir bewusst, dass nicht alle, die sich bei den Tafeln, in Hospizen, in der Gospelbewegung oder als Kirchenkuratoren engagieren, Kirchenmitglieder sind. Häufig hatten sie sich schon lange der Kirche entfremdet oder waren ohnehin nie Mitglieder. Das gilt im ehrenamtlichen Bereich genauso wie bei den beruflich Mitarbeitenden in der Diakonie. Wenn man aber die Einsicht ernst nimmt, dass Glaube immer ein Prozess ist und dass Areligiosität auch unter Kirchenmitgliedern vorhanden ist, dann wird es absurd, ausschließlich binär zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft zu unterscheiden, sagt Hans-Martin Barth. Es ist durchaus eine Überlegung wert, über eine Schnupper-Kirchenmitgliedschaft nachzudenken – genauso wie wir darüber nachdenken, berufliche Loyalität in der Diakonie durch die Unterschrift unter das Leitbild zu dokumentieren und damit einen Zwischenraum zu eröffnen, in dem mitten im Alltag und in all seinen Widersprüchen Glaube neu entdeckt werden kann. Jedenfalls bieten diakonische Erfahrungen in Gemeinden wie in Unternehmen eine große Chance, auch über Glaubensfragen ins Gespräch zu kommen; das zeigt die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Immerhin zweiundzwanzig Prozent der ehrenamtlich Engagierten geben da an, dass sie mit anderen über religiöse Fragen sprechen. Bei den Nichtengagierten sind es weniger als 10 Prozent. Wesentlich ist, dass diese Gespräche unmittelbar bei den Erfahrungen ansetzen – und nicht bei den Begriffen. Religiöse Sozialisation, auch das zeigt die KMU 5 geschieht nicht öffentlich und institutionell, sondern persönlich und in kleinen Netzen. Darauf gilt es in unseren Glaubens-, Diakonats- und Einführungskursen zu achten.

Vielleicht lässt sich dabei von der Hospizbewegung lernen. Hier setzen sich Engagierte mit ihrem persönlichen Lebensweg, der Bedeutung von Tod und Leben, mit ihren Kraftquellen auseinander – in Kirche und Diakonie, aber auch interreligiös. Diese spirituelle Unterstützung und Bewusstwerden gehört zu den Anziehungsmerkmalen der Bewegung in einem Bereich – der Sterbe- und Trauerbegleitung-, in dem Kirche bis in die 50er Jahre fast ein „Monopol“ hatte. Anders als in der Tradition werden nun aber die handelnden Personen ermutigt, eigene Antworten zu finden. Übungen, Rituale und Symbole spielen dabei eine wesentliche Rolle: Nachdenken über die eigene Todesanzeige/ das Lebensmotto; Versöhnungsbriefe, die Aussegnung mit Zugehörigen. Dazu gibt es inzwischen auch einen „Letzte-Hilfe-Koffer“ mit Kerze, Segensworten, Duftöl, Salböl. Aus der Bewegung sind neue Trauerrituale im Hospiz, Krankenhaus oder Pflegeheim gewachsen. Die Gruppen haben institutionelles Handeln verändert.

Auch in Bahnhofsmissionen, Vesperkirchen, in Kleiderkammern und an Tafeln kann das alltägliche Zuwendungshandeln selbst zu einem Ritual mit einer religiösen Tiefendimension werden: Jemandem Raum in einer Kirche geben; ihm ein Butterbrot streichen; ihm helfen, sich schön zu kleiden. Wo die „Werke der Barmherzigkeit“ bewusst geübt werden, da leben wir tief. Was ist zu tun, damit die Handelnden sich dieser Tiefendimension bewusst sind? Vesperkirchenteams treffen sich vorab – nicht nur, um zu organisieren, sondern um sich innerlich vorzubereiten. Bei einem Augenblick der Stille in der Sakristei oder einem gemeinsamen Taizé-Lied wird das alte Ora et Labora wieder ins Leben gerufen. Neulich hörte ich von einem Team in einer Pflegeeinrichtung, das sich nach dem Tod eines Bewohners und noch vor der Aussegnung vor der Tür trifft, um gemeinsam zu danken für diese intensive Zeit.

„In der nachchristlichen Gesellschaft führt die Richtung nicht mehr vom „Believing“ zum „Belonging“, vom Glauben zur Gemeinschaft, sondern umgekehrt: vom „Behaving“ zum „Belonging“ zum „Believing“, schreibt die anglikanische Theologin Grace Davis. Anders als im 19. Jahrhundert sind es bei den meisten nicht mehr die biblischen Texte, die die Wirklichkeit entschlüsseln – es ist, als schreie die Wirklichkeit angesichts des abwesenden Gottes selbst nach Deutung, als böten Worte, Gesten, Symbole Halt. Wir erleben gemeinsam Rituale, gestalten neue Projekte und erleben dadurch Zugehörigkeit. Das ist der Weg zum Glauben. Deshalb braucht diakonische Frömmigkeit Bildungsangebote, Räume für Begegnungen und Gemeinschaftserfahrungen. Und das gilt nicht erst für die Ausbildung oder für Mitarbeitende in diakonischen Unternehmen; es beginnt bereits in Konfirmandenarbeit und Schule oder auch an sozialen Tagen.

 

5. Grunderfahrungen

5.1. Der Familientisch – Wo alles beginnt

In einer Fortbildung zu Thema Diakonisches Profil waren die Teilnehmenden gebeten worden, ein Symbolfoto zu schicken. Jemand schickte diese Küchentischbild – als Erinnerung an die Teamsitzungen, die ihm so viel bedeuteten. Weil es da nicht nur um das Abhaken von Listen und Terminen ging und nicht nur um Aufgaben und Kontrolle, sondern immer auch um einzelne Erfahrungen, um Gefühle und Inspiration. Zusammen am Tisch sitzen, das ist mehr als das gemeinsame Essen. „Wir teilen und verteilen nicht nur die Lebensmittel, sondern wir teilen uns unser Leben mit“ schreiben Wagner und Esser in einem Buch über Spiritualität in der Familie. „Denn jedem in der Familie ist wichtig, wie es den anderen geht. Es ist ihm oder ich nicht egal. Der gemeinsame Tisch ist der zentrale Ort, an dem sich Gemeinschaft konstituiert. Wir brauchen einander, wir helfen einander, wir verlassen uns aufeinander.“ Ein „Tischritual“ wie das Anzünden einer Kerze oder das Händereichen zur „gesegneten Mahlzeit“ kann das gemeinsame Essen aus dem Alltag herausheben. Genauso wie das Blitzlicht zu Beginn in einer Teamrunde oder die gemeinsame Karte an einen kranken Kollegen. Albert Biesinger spricht in diesem Zusammenhang von „Gotteskommunikation“. Gotteskommunikation – das ist das gemeinsame Tischgebet oder das Abendgebet – Gotteskommunikation findet aber auch statt, „wenn der erwachsene Enkel Silvester mit den gebrechlichen Großeltern feiert, wenn er die Zerstreutheit und die Phantasien der Oma, die früher doch so eine starke Frau war, wahrnimmt.“ Oder „wenn die 18-jährige nicht bereit ist, in die längst gebuchten Ferien abzufliegen, ohne vorher ihre… krebskranke Freundin auf der Intensivstation zu besuchen.“

An solche Erfahrungen kann die Teambesprechung anknüpfen – zwischen der Reflexion der gemeinsamen Arbeit und der Vorbereitung der nächsten Aktionen kann sichtbar werden, dass diakonisches Handeln eine kommunikative Tiefenebene hat. Und das reicht weit hinein in den Alltag, den wir oft genug als Überforderung erfahren – nicht anders als in der Familie. Kleine Kinder brauchen den ganzen Tag Aufmerksamkeit und Fürsorge und können damit die Rhythmen der Erwachsenen kräftig auf den Kopf stellen – von der Nachtruhe bis zu den Zeiten für gemeinsame Mahlzeiten. Diese Zeit dauernden Gefordertseins und intensiver Zuwendung muss gleichwohl nicht als Verlust verstanden werden. Ignatius kann dabei Lehrmeister sein: „Wenn Ihr könnt, hört Messe und obliegt den gewohnten Andachten, wenngleich sie abgekürzt werden können, wenn Ihr der Hilfe für die Nächsten obliegt; denn es ist Gebet, was man für sie tut.“ Und auch Luther nimmt die Erziehung von Kindern und die Fürsorge in der Familie so wichtig, dass für ihn auch das Wiegen des Kindes oder das Waschen der Windeln „alles eitel goldene, edele Werk“ sind. Waschen und Windelnwechseln als Gebet – genauso wie Tischdecken, Spülen und Betten machen. Die Dinge also, die wir heute outsourcen, um zu sparen – in denen doch Ressourcen der Meditation und Begegnung verborgen liegen.

In der Sorgearbeit geht es um das „Für- andere- Dasein“ und Zeit haben, das Sich-Kümmern um das Wohlergehen eines/r anderen. Die Diakoniker des 19. Jahrhunderts, die mit der Schürze, hätten gesagt: Es geht um Dienst am Leben. Das ist in den letzten Jahren aus dem Blick geraten, in denen wir vor allem geübt haben, den Dienst wie ein Produkt zu beschreiben. Aber vielleicht stehen wir auch hier erneut an einer Wende. Denn vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und des sozialen Wandels von Geschlechterrollen und Lebensformen erleben wir ein erschreckendes Care-Defizit. Und angesichts der rasanten Pluralisierung und Spreizung der Gesellschaft einen Mangel an Zusammenhalt. Das ist der Grund, warum Begriffe wie „Ehrenamt“ oder „Kümmerer“ plötzlich wieder hohe Anerkennung haben. Familienarbeit und soziales Engagement können nicht mehr als selbstverständliche und unbezahlte Aufgabe der Mütter vorausgesetzt werden – genauso wenig wie Pflege- und Erziehungsberufe als schlecht bezahlte Frauenbranche. „In Zukunft muss es darum gehen, Erwerbsarbeit und die Fürsorge im Erwerbsverlauf und im Familienzyklus gerecht zu verteilen – im Sinne eines Diakonats aller – und zugleich Gesellschaft und Staat für die Schaffung der Rahmenbedingungen in die Verantwortung zu nehmen.“ Wir müssen die fürsorgliche Praxis neu denken: als Verantwortung für die Welt, aber auch für uns selbst. Sorge, Fürsorge und Selbstsorge gehören im Sinne Hanna Ahrends zusammen.

Im Augenblick sind wir weit davon entfernt. Und das bedeutet: Wir können nicht davon ausgehen, dass Mitarbeitende solche Erfahrungen aus ihren Familien mitbringen – und wir müssen auch aktuell tun, was wir können, um Familien Raum zu geben, die Familien von Mitarbeitenden zu unterstützen, die Zugehörigen in die Arbeit einzubeziehen. Wir erleben in unseren Teams die gleichen Zerreißproben wie in unseren Familien. Dagegen können wir durchaus auch Wahlverwandtschaften fördern – wie in der Gründungszeit der Diakonie.

 

5.2. Gastfreundschaft – einander Heimat geben

Wer in meinem Elternhaus durch die Eingangstür kam, der fand in der Diele den alten Haussegen in Holz gebrannt. „Friede den Kommenden, Freude den Bleibenden, Segen den Scheidenden.“ Das Pfarrhaus meiner Kindheit war ein Gemeinwesen in Bewegung. Die Pfarrfamilie, Vikar, Diakonisse und Erzieherinnen, ein altes Küsterehepaar – und immer wieder Gäste, für kurze oder längere Zeit. Gäste aus dem Ausland, Pflegekinder, Menschen in psychischer Not lebten eine Weile mit uns. Dafür gab es zwei kleine Einliegerwohnungen und ein großes Fremdenzimmer. Das hieß so, bevor man dann von Gästezimmern sprach. Ich kann mich kaum erinnern, dass nicht Menschen mit ganz anderen Lebensgeschichten an unserem Mittagstisch saßen. Friede, Freude, Eierkuchen war das nicht, eher schon: Frieden und Segen trotz mancher Reibungen und Konflikte. Manche unserer Gäste habe ich nie mehr wiedergesehen, andere gehörten später zu unserem Freundeskreis – sie blieben Teil der erweiterten Familie, als meine Eltern schon nicht mehr lebten. Rückblickend bin ich froh, dass der enge Kreis der Familie sich selten schloss.

Gelebte Gastfreundschaft gehört zum Markenkern der Kirche. In den Anfängen der neuzeitlichen Diakonie verstanden sich Krankenhäuser und Herbergen für Obdachlose als „Hospize“, als Orte der Gastfreundschaft, wo Menschen auf ihrem Lebensweg Station machen und auftanken konnten. Friedrich von Bodelschwingh hat es auf den Punkt gebracht: „Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.“ Traditionell waren die Klöster Orte der Immunität, wo nicht nur Kranke, sondern auch Verfolgte sicher sein konnten. Dahinter steht die Überzeugung, dass wer an meine Tür klopft, in einem tieferen Sinne Bruder oder Schwester ist. Nicht nur das Objekt meiner Hilfe, auch nicht nur mein Kunde, sondern ein Mensch mit einer Geschichte, der ein offenes Ohr und einen Ort zum Mit leben braucht, bis er mit neuer Kraft weiterziehen kann.

In den letzten Jahren habe ich manchmal befürchtet, diese Haltung könnte verloren gehen unter Zeitknappheit und ökonomischem Druck, unter der Abgrenzung von Einrichtungen, Abteilungen und Budgets, der Professionalisierung der Diakonie und der Privatisierung der Kirche. Pfarrwohnungen sind kleiner und enger geworden. Obdachlose und Pflegekinder werden dort weiter verwiesen an die entsprechenden diakonischen Fachstellen. Krankenhäuser trennen genau zwischen DRGs und Hilfemodulen auf der einen und Hotelkosten auf der anderen Seite. Aber immer wieder gab es Einzelne und Gruppen – oft genug Ehrenamtliche – die uns den Wert der Gastfreundschaft nachdrücklich in Erinnerung riefen. Cecily Saunders und die Hospizbewegung machten deutlich, dass es nicht genügt, Sterbende so lange wie möglich zu therapieren und medizinisch zu versorgen, sondern dass es im Sterben auch um Begleitung, um Dasein, um wache Aufmerksamkeit geht. Streetworker traten dafür ein, dass auch diejenigen, die keine eigene Wohnung haben, einen Ort brauchen, an dem sie ihre Wäsche waschen, ihre Kontakte pflegen, einen gedeckten Tisch finden und vor allem einfach als Menschen unterwegs wahrgenommen werden – wie jeder von uns, wenn wir eine Autobahnraststätte aufsuchen. Und auch Kirchengemeinden können wie Karawansereien sein. Wo Menschen ihre Geschichten teilen, sich füreinander einsetzen und einander auf diese Weise ein Stück Heimat geben. Die Erfahrung, bejaht und geborgen zu sein – auch mitten in den Brüchen.

Besonders spürbar werde das in der Gemeindeküche, sagt Friederike Weltzien. Sie ist Pfarrerin in Stuttgart, hat lange im Libanon gelebt, spricht arabisch und engagiert sich heute in der Flüchtlingsarbeit. Als im Herbst 2015 die Turnhalle mit hundert Flüchtlingen belegt wurde, da öffnete die Gemeinde die Türen. „Und es stellte sich heraus, dass das größte Bedürfnis der Menschen war, selber Essen zu kochen, etwas, was sie kennen und was ihnen schmeckt.“, erzählt Friederike Weltzien. „Also wurde jeden Dienstag für achtzig bis neunzig Leute gekocht. Die Hilfsbereitschaft war groß, Gelder mussten gesammelt werden, die Lebensmittel eingekauft und die Tische gedeckt und dann auch wieder alles abgeräumt, gespült und gesäubert werden. In der Küche trafen die Kulturen aufeinander. Dinge veränderten sich, zunächst gab es viel Aufregung in der Gemeinde und auch Sorgen und Ängste. Inzwischen wird regelmäßig syrisch gekocht; besonders in der Zeit des Ramadans werden gemeinsame Essen zum Fastenbrechen gefeiert. Und auf einmal werden religiöse Themen ganz zwanglos miteinander diskutiert und besprochen und erlebt. „Für mich ist die Gemeindeküche ein spiritueller Ort.

Auch in anderen Gemeinden, in Altenzentren und Tageseinrichtungen ist die Küche zum heimlichen Zentrum geworden. Ich denke an die vielen Orte, wo Menschen aller Generationen zusammen Mittag essen – Bewohner des Altenzentrums mit Schule oder Tageseinrichtungen, Bewohnerinnen des Betreuten Wohnens mit Menschen aus dem Viertel. Was für ein Kontrast zu dem ökonomischen und effektiven Tablettessen! Meine Nachbargemeinde gehört zu den vielen, wo alleinstehende Rentnerinnen zweimal die Woche einen gemeinsamen Mittagstisch haben. Auch da wird reihum gekocht. Und zwischendurch trifft man einander beim Einkaufen, hilft sich auch mal im Alltag, ruft sich an. Leider sind unsere Küchen oft nicht so ausgestattet, dass viele darin arbeiten können – und nicht überall haben solche Gruppen einen Schlüssel zum Gemeindehaus. Das wäre allerdings eine gute Voraussetzung, um nicht mehr nur Gäste zu sein. Ganz wie der Apostel Paulus sagt: “Ihr seid nun nicht mehr Gäste und Fremde, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“

 

5.3. Krank sein: Untätig, aber nicht nutzlos

Krisenerfahrungen sind Schlüssel, die Türen zu einer anderen Form der Gemeinschaft aufschließen. „Ist einer von euch krank? Dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben“, heißt es im Jakobusbrief als Lebensregel für eine junge christliche Gemeinde (Jak 5,14). Salbung und Segnung und heilende Öle gewinnen heute wieder an Bedeutung. Nicht nur in Kurkliniken gibt es Gottesdienste mit ganz persönlicher Handauflegung. Genesung ist keine Reparatur, sondern ein Veränderungsprozess. Oft bilden sich gerade in solchen Phasen neue, unterstützende Netzwerke, weil sich andere mit ähnlichen Erfahrungen melden. Die Zeit der Krankheit mag untätig sein; leer und nutzlos ist sie nicht. Sie wird zur Gelegenheit, Liegengebliebenes innerlich zu klären und bearbeiten. Wenn der Termindruck wegfällt, ist endlich Zeit, nach Lösungen zu suchen. Alles richtet sich jetzt darauf, den inneren Menschen stark zu machen: „[…] wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert“, schreibt der Apostel Paulus (2. Kor 4,16).„Ich habe mich oft gefragt, ob nicht gerade die Tage, die wir gezwungen sind, müßig zu sein, diejenigen sind, die wir in tiefster Tätigkeit verbringen? Ob nicht unser Handeln selbst, wenn es später kommt, nur der letzte Nachklang einer großen Bewegung ist, die in untätigen Tagen in uns geschieht? schreibt Rainer Maria Rilke.

Aus Sicht von Wirtschaft und Krankenkassen sind Krankheiten nur Ausfallzeiten ohne Gewinn. Und ich fürchte, als Arbeitgeber oder als Team unter Druck denken wir auch in der Diakonie oft so. Viele Menschen gehen davon aus, dass Gesundheit herstellbar sein müsse – Produkt der modernen Medizin oder einer erfolgreichen Dienstleistung. Im schlimmsten Fall soll Krankheit verhindert werden – notfalls auch durch Abtreibungen oder In-Vitro-Fertilisation. Und unerträgliches Leiden soll beendet werden – notfalls auch durch einen assistierten Suizid. Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz spricht von einer neuen Gesundheitsreligion in unserer Gesellschaft – Gesundheit, so sagt er, sei für uns unhinterfragt zum höchsten Gut geworden. Das habe aber eine gefährliche Kehrseite: die Unfähigkeit mit der eigenen Vergänglichkeit umzugehen. Angesichts einer älter werdenden Gesellschaft müssen wir lernen, offener mit chronischen Erkrankungen umzugehen und auch die Mauern zwischen Gesunden und Kranken einzureißen. Und die sind auch in der Diakonie noch dick. Es beginnt damit, wie wir an kranke Kolleginnen und Kollegen denken, was wir aus Rückkehr Gesprächen lernen und wie wir den Krankenstand in Beziehung setzen zum Klima des Hauses.

Und es gibt viele, die hinter den Mauern leben. Wir kämpfen um die Inklusion von Menschen mit Behinderung- zu Recht. Aber die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen werden noch immer übersehen. Und mit ihnen die Pflegenden – die Schwiegertöchter, die die kranke Mutter über Jahre pflegen, die Männer, die ihre Frauen pflegen – sie verzichten auf eigenes Einkommen und Karriere, und verschwinden oft einfach aus dem Kollegen- und Freundeskreis. Neun Jahre im Durchschnitt. „Die mit einer Gesellschaft des langen Lebens verbundenen Herausforderungen verlangen nach einer Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Würde. Vorstellungen von Leben und Autonomie, die den Beziehungscharakter menschlichen Lebens und dessen Angewiesenheit auf andere nicht einbeziehen, sind unvollständig“, schreiben Thomas Klie und Andreas Kruse. Der letzte Freiwilligensurvey zeigt aber auch: Immerhin 25 Prozent engagieren sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung. Und die wechselseitige Unterstützung tut allen gut, schärft den Blick aufs Leben, verbessert die Lebensqualität aller und nimmt die Angst vor dem Alter.

 

5.4. Inklusion: Einander Halt geben

„Menschen mit Behinderungen wissen, was es bedeutet, dass sich das Leben unerwartet von Grund auf verändern kann“, heißt es in einem Text des Ökumenischen Rates der Kirchen zum internationalen Jahr der Behinderten 2003 , der in einer Gruppe von Menschen mit Behinderung, ihren Angehörigen und Assistenten geschrieben wurde. „Wir waren in jenem Grenzbereich zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, in dem wir nur zuhören und abwarten konnten. Wir hatten Angst und den Tod vor Augen und kennen nun unsere eigene Verwundbarkeit. Wir sind Gott in jener leeren Dunkelheit begegnet, in der uns bewusst wurde, dass wir „die Kontrolle“ über uns verloren haben, und wir haben gelernt, auf Gottes Gegenwart und Fürsorge zu vertrauen… Wir haben gelernt, Neuland zu gewinnen und einen neuen Weg für unser Leben zu finden, der uns noch nicht vertraut ist. Wir wissen, was es bedeutet, inmitten von Paradoxen zu leben, und wir wissen, dass einfache Antworten und Sicherheiten uns nicht tragen.“

Das ist ein wahrhaft diakonischer Text – und Lektion, die wir irgendwann alle lernen müssen, wenn wir sie nicht schon gelernt haben. Manche von Geburt an, andere bei einem Unfall, wieder andere bei einer Krebserkrankung, einem Herzinfarkt oder bei Pflegebedürftigkeit. Wir alle leben mit Verletzungen, mit Wunden und Narben. Dennoch versuchen wir meist, unsere Krisen und Verletzungen vor den Augen der Öffentlichkeit, auch vor Kolleginnen und Kollegen und ganz sicher vor Klienten und Kunden zu verbergen. Wir leben in einem Charakter- und Rollenpanzer, entsprechen den gesellschaftlichen Normen – wir funktionieren. Die Theologin Gunda Schneider-Flume spricht in diesem Zusammenhang von der „Tyrannei des gelingenden Lebens“. Unsere Gesellschaft sei so sehr von Machbarkeitsvorstellungen bestimmt, dass suggeriert werde, wir hätten das Gelingen unseres Lebens in der Hand. Tatsächlich aber komme es eben darauf an, dass wir lernen, mit Grenzen zu leben. Und am besten lernen wir das wohl gemeinsam mit denen, die keine Angst haben, ihre Schwächen und Grenzen zu benennen.

Im Kulturhauptstadtjahr 2010 im Ruhrgebiet fanden in der zentralen Marktkirche in Essen Ausstellungen zum Thema „Menschenbilder“ statt. Dort organisierte der Ehrenamtskoordinator des Stadtkirchenverbandes zusammen mit einem Kirchenvorstandsmitglied den „Kirchenwächterdienst“. Unter den etwa neunzig Ehrenamtlichen waren neunzehn Menschen mit einer geistigen Behinderung. Diese übten ihren Dienst jeweils im Tandem mit einem Nichtbehinderten aus. So wurde die Marktkirche zu einem Ort der Begegnung unterschiedlichster Sichtweisen. In der Gruppe wurden die Ehrenamtlichen mit Behinderungen als Gleichberechtigte wahrgenommen. Sie kamen in Gespräche mit den Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern und konnten ihre Deutung der Bilder weitergeben, die vielleicht von gewohnten Betrachtungen abwichen. Dadurch wurden die Besucherinnen und Besucher zu einem neuen, anderen Blick auf die Kunstwerke angeregt. Kirche und Diakonie können solche Prozesse unterstützen. Und das geschieht ja auch – z.B. mit Kunstausstellungen. Und nicht nur in diesem Kontext gilt es, die spirituelle und öffnende Kraft der Kunst zu nutzen.

 

5.5. Sterbeerfahrungen: Die große Verwandlung

Seit meine Mutter gestorben ist, ist mir neu bewusst geworden, wie viel meine Schwestern und ich von ihrem Leben verkörpern, wie sehr sie uns geprägt hat – mit ihren Werten, Gewohnheiten und Ängsten, mit ihrem Glauben. Solange wir uns auseinandergesetzt, mit- und umeinander gerungen haben, fiel es mir nicht leicht, mir das einzugestehen und dazu ja zu sagen: Meine Mutter, mein Vater haben mich werden lassen, die ich heute bin – nicht nur, als ich klein war und die Welt entdeckte, sondern auch zuletzt, als sie diese Welt verließen. Wir wachsen und wandeln uns mit den Menschen, die uns am nächsten sind.

In ihrem Buch „Jeder Tag ist kostbar“ beschreibt auch Daniela Tausch-Flimmer, wie die Begegnung mit dem Sterben ihrer Mutter sie verändert hat. „Ich war vorher jemand, der mit viel Angst im Leben stand. Angst vor der Dunkelheit. Angst, keinen Beruf zu bekommen. Angst keinen Ort zum Leben zu finden. Angst vor Begegnung. […] Durch die Lupe des Todes weitete sich der Angstring, […] hielt mich nicht länger gefangen. Durch das Bewusstwerden der Endlichkeit öffnete sich eine Tür zur Spiritualität. In mir wuchs das Vertrauen: Das, was dir passiert, wird stimmen. Ich begann zu vertrauen, dass ich in meinem Leben geführt werde, von Gott begleitet bin. […], Dass angesichts des Todes vor allem die Momente zählen, in denen ich gewagt habe, mich offen zu zeigen.“ Diese Erfahrung motivierte Daniela Tausch-Flimmer zur Hospizarbeit. Sie fand ihre Lebensaufgabe. Sterben, Abschied und Trauer bergen eine geheimnisvolle Gnade: Sie können Wandlungsprozesse in uns anstoßen. Dazu will die Hospizbewegung Mut machen.

In manchen Arbeitsfeldern der Diakonie gehört die Sterbebegleitung sehr selbstverständlich zu den Aufgaben – und das gilt nicht nur für Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, sondern auch für Einrichtungen für Behinderte. Die spirituelle Dimension der Pflege und Begleitung Sterbender und ihrer Zugehörigen ist bislang, was die Sozialversicherungsleistungen angeht, nur in der hospizlichen Versorgung wirklich im Blick. Traditionell liegt hier allerdings das Aufgabenfeld der Seelsorge. Das gilt es neu zu entdecken und zu gestalten – idealerweise in Netzwerken und Teamarbeit zwischen den verschiedenen Hilfebereichen und Pfarrstellen, da viele der Betroffenen zwischen Familie, Krankenhaus, Kurzzeitpflege und Altenzentren hin und her wechseln. Das Bistum Essen hat mit einem solchen Konzept der Verknüpfung von „pastoraler und funktionaler“ Seelsorge schon vor einigen Jahren begonnen. Im Zentrum steht dabei die verlässliche Begleitung der Betroffenen und ihrer Zugehörigen. Aber wie sieht das unter Ihnen, in Ihren Teams aus? Wieviel Raum haben Tod und Trauer mitten im Arbeitsalltag? Ich erinnere mich an den plötzlichen Tod eines PDL in Kaiserswerth, als sich innerhalb von wenigen Stunden die Mutterhauskirche zu einer Andacht füllte. Abschied zu nehmen und noch einmal danke zu sagen, das war für alle wichtig.

 

5.6. Leben, Wohnen, Arbeiten: Raum für Gemeinschaft

Wo familiäre Netze fragiler werden, werden sorgende Gemeinschaften zum politischen Thema. Die Gemeinschaft auf Zeit, die sich um den Sterbenden herum orchestriert, die Gruppe, die jungen Eltern bei der Geburt ihrer Zwillinge zu Seite steht, der Verein von Eltern behinderter Kinder, die zusammen einen Reiterhof gründen – das ist der Geist diakonischer Erneuerung. Genauso wie das Mehrgenerationenhaus und die Wohngemeinschaft von jungen Leuten oder das SHAREHOUSE in Berlin. Wo die Jobs und Orte im Laufe des Lebens mehrfach wechseln, da wird auch das Wohnen zu einem wichtigen Thema. Es war zunächst die Frauenbewegung, in der das gemeinsame Wohnen eine wachsende Rolle spielte – Beginenhöfe entstanden, Handwerkerinnenhöfe. Dann kamen die Politikerinnen und Politiker, die sich für ein neues Wohnprojekt entschieden – für Mehrgenerationenhäuser. Für starke Nachbarschaften, in denen man einander wechselseitig hilft. Gemeinschaften brauchen Begegnungsräume, die offen sind für das Miteinander. Das gilt für Familien und Teams genauso wie für Wohngemeinschaften und Gemeinden: Der Esstisch, der Besprechungsraum, der Flur mit der Teeküche. Vertrauen wird am schnellsten gewonnen, Konflikte am besten gelöst, auch Innovation entsteht, wo wir einander von Angesicht zu Angesicht begegnen.

In unserer mobilen, individualisierten Gesellschaft gewinnen Freundschaften an Bedeutung. Unter Freunden gibt es keine Über- und Unterordnung, kein hierarchisches Gefälle, der Nutzeneffekt, der Geschäftsbeziehungen prägt, tritt zurück zugunsten einer Partnerschaft im Geben und Nehmen. Freunde stehen zueinander, wenn andere Beziehungen wechseln, sie entlasten einander und muten einander, wo möglich, die Wahrheit zu. Sie werden zu Wahlfamilien, wo der Kontakt zu Angehörigen sich lockert oder an Bedeutung verliert. Das gilt für die ganz Jungen, die ihren „Triebe“ haben, aber auch für die Älteren, die wissen, dass sie jetzt häufiger auf andere angewiesen sind. Das gilt für Arbeitskollegen, die sich neuerdings als Frollegen bezeichnen – weil sie oft mehr zusammen sind als mit den weit entfernten Freunden. Es gilt aber auch für Menschen, die alleinerziehend mit Kindern leben. Für die, für Menschen mit einer Behinderung oder für Singles wird es wichtiger, ein Netzwerk zu haben und einen Ort der Zugehörigkeit. Auch Gemeinschaftshäuser sind übrigens solche Orte der Zugehörigkeit – und es gäbe noch viel zu tun, um die Alumninetze dort zu pflegen.

 

6. Seele und Sorge – Diakonie als Arbeitsalltag

Diakoniker sind Praktiker – über die eigene christliche Haltung laufend zu reden, ist ihnen eher peinlich. Wir möchten unsre Arbeit fachlich guttun und uns dazu mit Themen auseinandersetzen – und das tun wir als Christen. Nur Kirchens reden laufend darüber.“ Viele Kollegen erleben ihren Glauben als Privatsache – wie alle anderen auch – und trennen stark zwischen Glauben und professioneller Arbeit. Die Anforderungen, die im säkularen Arbeiten an uns gestellt werden, sind hoch. Glaube und Spiritualität fällt da leicht hinten runter oder wird als zusätzliche Anforderung erlebt.“ „Was mag also Diakoniker interessieren? Glauben als Burn out Prophylaxe. Glauben als Lebensmotivation. Widerstand gegen die Lebensausbeutung der Diakonie.“

Das sind drei Antworten aus einer privat initiierten Umfrage eines theologischen Vorstands zum christlichen Gesundheitskongress. Es zeigt sich: Mitarbeitende der Diakonie haben ein Bedürfnis nach persönlicher Spiritualität – aber nicht unbedingt nach beruflicher Spiritualität. Eventgottesdienste, Seelsorgeauszeiten, Klostertage sind nachgefragt – eine Mischung aus Wellness, biblischen Impulsen und Zeit zur persönlichen Stille. Aber weil sie wissen, dass sie in einem Tendenzbetrieb arbeiten, bleiben sie kritisch gegenüber allem „Du sollst“ und „Du musst“: Der Arbeitgeber bleibt Brötchengeber, er ist nicht Sinnstifter.

Zugleich wird Spiritualität als gesundheitliche Ressource für die Mitarbeitenden entdeckt. In einer Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts zu Kraftquellen in der Pflege sprachen die Interviewten davon, dass sie sich getragen und geschätzt fühlen, dass sie Kraft bekommen, durchzuhalten, auch wo Erfolg nicht zu sehen ist. Dabei sehen sie die religiösen Kraftquellen auch in Gesprächen mit Kollegen, Naturspaziergängen, Meditation. Und auch eine Untersuchung der Fachhochschule der Diakonie in Bethel, zeigt, dass Spiritualität eine wichtige Ressource in der Gratifikationskrise ist, die viele Mitarbeitende aufgrund des wachsenden Zeit- und Kostendrucks erleben – sie sieht aber die entscheidende Kraftquelle der diakonischen Gemeinschaft, den Zusammenhalt im Team, durch Veränderungsdruck und Umstrukturierungen bedroht.

Offenheit ist eine wesentliche Voraussetzung, damit diese Kraftquellen fließen können. Im diakonischen Unternehmen hat sie eine kollektive und eine individuelle Komponente, eine handlungsorientierte Seite und eine, die auf Empfang gerichtet ist. In der Gemeinschaftsdiakonie waren diese beiden Seiten in Arbeit und Gebet aufeinander bezogen – und für beides waren Räume und Zeiten vorgesehen. Sie blieben aber aufeinander bezogen: die individuelle religiöse Identität fügte sich in die kollektive der Dienstgemeinschaft ein. Beides hat sich gravierend verändert. So bunt unsere Lebensläufe geworden sind, so unterschiedlich auch die Zugänge zu Spiritualität. Wir brauchen die Gespräche in Teams und Gruppen, um voneinander zu lernen und eine gemeinschaftliche Haltung zu entwickeln, aber auch um einander und uns selbst zu korrigieren und zu ermutigen.

Die Ärztin Mavi Mohr, die ein Buch über ihre eigene Leukämieerkrankung und ihre Berufsmotivation geschrieben hat („Stationswechsel“), sagt in einem Interview: „Als Leukämiepatientin hatte ich mit in der Klinik mit anderen Kindern angefreundet, die später starben. Sie wurden niemals wieder erwähnt. Der Tod spielte keine Rolle. Als Ärztin versuche ich, offen mit diesem Thema umzugehen und ich glaube, dass meine eigenen Erfahrungen dabei hilfreich sind. Ich kann Patienten dadurch nicht heilen, aber ich kann ihnen helfen, weniger Schmerzen und Ängste zu haben.“ Dieses Spannungsfeld von Routine und Unmittelbarkeit, von Nächstenliebe und Professionalität wahrzunehmen und fruchtbar zu machen, kostet Kraft. Denn das Gesundheitswesen organisiert, reglementiert, professionalisiert und rationalisiert die Hilfe und letztlich auch die Helfenden. Sich gleichwohl persönlich zu öffnen, birgt deshalb immer auch ein Risiko.

Persönliche Erfahrungen spielen im Blick auf Glaube, Spiritualität und religiös motivierten Haltungen eine zentrale Rolle. Sie sind aber nicht nur schwer zu operationalisieren, sondern auch kaum empirisch zu erfassen. Motivationale Orientierungen zeigen sich eher normativ in Leitideen und Zieldimensionen – letztlich nicht getrennt von den Unternehmenszielen. Es ist nachvollziehbar, wenn Mitarbeitende Sorge haben, dass auch ihre Spiritualität funktionalisiert wird. Dennoch wird man ohne die eigene Person einzubringen auf Dauer aber weder pflegen noch erziehen, weder beraten und leiten können.

„Was ihr nicht getan habt“ – so heißt ein kleines Buch, da neulich im Martinshof, Rothenburg, über die Geschichte des Hauses im 3. Reich erschienen ist. Es geht um die über 400 Menschen mit Behinderung und auch um die mehr als 1000 Jüdinnen und Juden, die von dort abtransportiert wurden. Ich habe das am Anfang nicht benannt, als ich das Gleichnis vom großen Weltgericht zitiert habe: Wir können uns auch verfehlen. Unsere Berufung verfehlen. Wenn wir achtsam bleiben, spüren wir das. An unserer Erschöpfung, an Trauer und Wut. Das gilt es ernst zu nehmen – denn Diakonie hat immer auch eine politische Dimension. Es geht um die Grenzen der Ökonomisierung, um den Schutz der Familie, der Kinder, der Kranken und Sterbenden wie der Flüchtlinge und um die Aufwertung der Sorgearbeit. In all diesen Fragen müssen Kirche und Diakonie den Mund aufmachen. Auch Widerstand ist Frömmigkeit.

Spirituelle Bildung in der Diakonie zielt darauf, den Zusammenhang zwischen der beruflichen Motivation und den eigenen, religiösen Kraftquellen aufzudecken. Und auch die Widersprüche zwischen diakonischer Bewegung und Alltagserfahrungen. Hier haben die diakonischen Gemeinschaften ihren Ort. Es wird darauf ankommen, dass sie Räume jenseits der beruflichen Hierarchien und der Regeln einer Organisation anbieten, dass sie Freiheit gewähren. Es ist alles da: Die Rituale der Gemeinschaft, die Räume der Begegnung und Gastfreundschaft, das Wissen um die Wandlungskraft in Krankheiten und Krisen, die alten Bilder und Geschichten. Das alles gilt es immer wieder zu gestalten. Mit Betroffenen und Angehörigen, mit Freiwilligen und Kirchengemeinden an den Ursprüngen diakonischer Frömmigkeit zu arbeiten.

Cornelia Coenen-Marx, Rummelsberg, 30.6.18