Hoffnungszeichen im Nebel (Predigt zum Brüder- und Schwesterntag im Martinshof, Rothenburg)

Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht. (Hebr.11,1)

Einen ganzen Tag lang im Sommer warteten fünfzig Urlauber eines Busses aus Flensburg am Großglockner, um diesen zu sehen. Sie sahen indessen nur Nebel und Wolken und graues Geröll und ein wenig Schnee. So sehr sie auch schauten mit Augen und Gläsern, es war nichts zu sehen. Und sie trafen zwei Damen aus Tilburg in Holland, die schon drei Wochen schauten und schauten auf Geröll und Gewölk, aber vom Berg nichts gesehen“, erzählt Lothar Zenetti, ein Schweizer Theologe.

Ach, die armen Flachlandtiroler, denkt man. So ein Pech! Da wollen sie endlich mal etwas sehen, was sie nicht kennen – und dann das. Nebel und Wolken und graues Geröll. An der See sieht’s nicht viel anders aus. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende:

„Jedoch zu zweifeln an diesem Berg, an seinem realen Vorhandensein, sah keiner sich abends genötigt, als sie den Bus dann bestiegen. Selbst Herr Koch, der ansonsten nur glaubt, was er sieht (mit eigenen Augen), sonst nichts, hatte fünf Ansichten des großen Glockners in Farbe gekauft und schrieb hinten drauf von unvergesslichen Eindrücken. Und hatte selbst gar nichts gesehen als Nebel. Und zweifelte doch nicht an dem großen Berg. Und vertraute dem Österreichischen Alpenverein.“

Jetzt erinnere ich mich an unsere Hochzeitsreise – die erste Alpenfahrt gemeinsam mit meinem Mann. Wir fuhren über das Timmelsjoch, als ich ziemlich energisch „Stopp“ rief. Es gehörte nämlich zu meinen Ritualen, da oben auszusteigen und ein Foto zu machen unter dem Schild mit der Höhenangabe. „Aber man sieht doch überhaupt nichts“, sagte mein Mann, der einfach durchgefahren war. Auch damals lag alles im Nebel. Mir kommt jetzt der Verdacht, dass das gar nicht so selten ist. Und trotzdem verlassen wir uns auf den Alpenverein und die Fotografen; wir zweifeln nicht an den Bildern, die andere gesehen haben.

Vielleicht meinen Sie, das wäre selbstverständlich. Dabei gibt es tatsächlich viele, die normalerweise nur glauben, was sie mit eigenen Augen sehen. So wie Herr Koch. Oder die Jünger Jesu. Sie erinnern sich, dass keiner glauben konnte, was die Frauen an Ostern erzählten – was die mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Augen gesehen hatten: die Engel am Grab und Jesus, den Auferstandenen. Frauen eben, traurig und verzweifelt – wer weiß, was die sich einbilden und woran die sich festhalten. Bis Jesus auch den Männern erschien -auf dem Weg nach Emmaus und dann bei den Fischern am See Genezareth. Am Ende ist es Thomas, der den Freunden nicht glaubt: „Wenn ich nicht die Nägelmale mit eigenen Augen sehe, den Finger in die Wunde lege und meine Hand in die verletzte Seite – dann kann ich es nicht glauben.“ Und Jesus verachtet ihn nicht für diesen Kleinglauben. So sind wir nämlich.

Es ist gar nicht so einfach, sich festzumachen an dem, was andere erzählen und erlebt haben. So eine farbige Postkarte ist da schon ganz gut. Naja, eine Postkarte vom Auferstandenen gibt es nicht – aber der Wunsch, so etwas zu haben, ist sicher der Grund für all die Bilder und Fresken in unseren Kirchen. Der Wunsch, selbst den Finger in die Wunde legen zu können, ist der Grund für all die Reliquiensammlungen in den mittelalterlichen Kirchen und die tausende Kreuzsplitter aus Jerusalem. Wer dort die Grabeskirche besucht, der sieht in den Gedanken die Plätze vor sich, wo das Wunderbare geschah. Selbst die, die das Heilige Grab in Görlitz besuchen, wappnen sich gegen die Zweifel.

Und auch die Kreuzwege, die Martinfeuer und Nikolausumzüge sind nicht anderes als Vergegenwärtigungen und Erinnerungsstücke – eine Bestätigung unseres Glaubens, ein Schutzwall gegen den Zweifel. Genauso wie die Namen der Häuser hier auf dem Gelände, die an die ganz Großen der Diakonie erinnern. Man muss gar nicht fromm sein, um so etwas zu brauchen. Andenken, Devotionalien, Talismane…Auf meinem Schreibtisch liegt ein kleiner, violetter Stein, den ich von einem Seminar mitgebracht habe – vollgepackt mit guten Wünschen der anderen für mich. Ich denke daran, wann immer ich ihn sehe.

Es muss ganz schön Angst gemacht haben, es muss weh getan haben, als in der Reformationszeit der Bildersturm begann. Als die Kreuzwege zerschlagen und die Marienfiguren aus den Kirchen geworfen wurden, die Fresken übermalt und das Gold von den Altären eingeschmolzen. Aber ich kenne auch das andere Gefühl, wenn plötzlich vor meinen Augen all diese Dinge, die mir so lieb und heilig sind, zu Plunder werden. Weil sie nur von der Vergangenheit erzählen. Von den großen Zeiten der Märtyrer und Diakoniker. Tausendmal erzählte Geschichten. Eingefrorene Gefühle, Scherben einer zerbrochenen Hoffnung, Kopien des verschwundenen Originals. Weil eben das Foto die Wirklichkeit nicht ersetzt!

„Der Gekreuzigte ist nicht hier, er ist auferstanden“, sagen die weiß gekleideten Männer am Grab.“ „Du sollst Dir kein Bildnis machen von Gott“, heißt es gleich am Anfang der Gebote. Immer und immer wieder verweist uns der Glaube auf die unbekannt, die fremde Wirklichkeit. Zerschlägt die Bilder, nimmt uns die Landkarten aus der Hand, lockt auf neue und unbekannte Wege. Mutet uns die Zukunft zu. Die Stimme am Dornbusch. Der Gärtner, der Maria begegnet. Der Fremde auf dem Weg nach Emmaus. Die Stimme, die Saulus stürzen lässt – und schließlich zum Paulus macht. Glaube – das heißt, sich einlassen auf diese Stimme. Auf die Zukunft, die Gott mit uns gestalten will. Glaube heißt: Hoffen, dass er es gut meint – weil schon andere das so erfahren haben. Oder weil ich selbst das schon so erlebt habe.

„Geht in euren Tag hinaus ohne vorgefasste Ideen“, schreibt die französische Sozialarbeiterin Madeleine Delbrel, „geht, ohne an Müdigkeit zu denken, ohne Plan von Gott, ohne Bescheid wissen über ihn, ohne Enthusiasmus, ohne Bibliothek – geht so auf die Begegnung mit ihm zu.

Brecht auf ohne Landkarte – und wisset, dass Gott unterwegs zu finden ist und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden, sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens.“

Gott suchen, auf Gott hoffen, das heißt, sich von den alten Bildern lösen. Damit rechnen, dass er ganz anders aussieht. Hinausgehen in den Nebel, wo er uns begegnen wird. Wie ein Schleier, der fällt. Ein Aha-Erlebnis, ein plötzliches Verstehen, das die bisherigen Fakten neu sortiert. Darum ging es neulich in dem Krimi um Professor T. mit Matthias Matschke. Im Hörsaal der Kölner Uni spricht der Professor mit seinen Studenten über gute Ermittlungsarbeit. Und macht deutlich: Es geht um mehr als um Fakten. Es geht darum, den Raum zwischen den Fakten, die Bruchstellen des Lebens, mit den richtigen Fragen zu füllen. Das braucht Offenheit und Einfühlungsfähigkeit, Erfahrung und Gespräche. Und vielleiht auch einen Sinn für die unsichtbare Welt. Jedenfalls ist das bei Professor T. so – und, das fällt mir jetzt erst auf, auch beim Kriminalisten aus Berlin. Sie kommen der Wirklichkeit auf die Spur, weil bei ihnen die Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren dünn ist.

„Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“, heißt es im Hebräerbrief. „Hoffen ist viel mehr als Wünschen, und oft verwechseln wir das eine mit dem anderen“, schreibt Madeleine Delbrel. „Wünschen heißt im Allgemeinen, nach bestimmten Dingen zu verlangen. Hoffen heißt, voll Vertrauen auf etwas zu warten, das man nicht kennt, aber es von jemandem zu erwarten, dessen Liebe man kennt. Man empfängt in dem Maß, wie man hofft.“

Gerade in Umbrüchen brauchen wir diese Hoffnung. Ihre Wirkkraft ist unsere Tatkraft. Weil Gott uns entgegenkommt aus dem Nebel der Zukunft, weil das Leuchten des neuen Morgens schon zu sehen ist im Grau, darum können wir zuversichtlich sein: der kommt ist der, dessen Liebe wir kennen. Was können wir tun, um uns und anderen den Rücken zu stärken auf dem Weg? Ich erinnere mich, dass ich vor vielen Jahren jeden Morgen über die Autobahn nach Düsseldorf hineingefahren bin. Das war, bevor es Handys gab – und es war immer Stau. Vor allem aber gab es kaum Schilder am Rand, sodass ich oft in Regen, Stau und Nebel nicht wusste, wo ich war und wie lange ich noch brauchen würde. Heute erzählen Schilder an der Autobahn von den Sehenswürdigkeiten in der Landschaft. Von Klöstern, Seen und alten Ortschaften. Das hilft, den Mut nicht zu verlieren – genauso wie das Handy mit der Verbindung zu Freunden.

Ich nehme diese Erinnerung als Hinweis. Wenn es schwerfällt, die Hoffnung aufrecht zu halten, dann brauchen wir Freunde auf dem Weg. Und wir brauchen die Bilder, Hinweise und Geschichten, die unseren Alltag berühren. Von historischen Persönlichkeiten, von Autorinnen und Autoren, aus dem Kirchenjahr. Lichterketten im Dunkeln, die uns Orientierung geben. Viel muss es gar nicht sein – vielleicht im Gegenteil. Vergessen wir nicht: das Neue beginnt oft ganz unerwartet. Und anders, als wir denken.

Amen.

Cornelia Coenen-Marx, Rothenburg 2018