Zur Zukunft diakonischer Gemeinschaften

1. Worum es mir geht

Gäbe es die diakonischen Gemeinschaften nicht, man müsste sie neu erfinden. Und sie werden ja gerade neu erfunden: in den Sorgenden Gemeinschaften von Ehren- und Hauptamtlichen in den Nachbarschaften. In den „Tischgemeinschaften“ der Älteren im Gemeindehaus. In den internationalen Gärten, in denen Migrantinnen und Migranten miteinander kochen. An den Orten der Gastfreundschaft in den Quartiersläden. In Selbsthilfegruppen, Trauergruppen und genossenschaftlich getragenen Dorfläden. In den Wohngemeinschaften von Demenzkranken und ihren Angehörigen. Da ist eine Bewegung im Gang, die die effektiv gesteuerten Sozialunternehmen aufs Beste ergänzt – mit Empathie und Begeisterung und mit vielen neuen Ritualen.

Manche diakonische Gemeinschaften sind Teil dieser Bewegung geworden. Teilweise sind es gerade die, die ihre Krankenhäuser abgeben mussten und sich dann neu eingelassen haben auf Wohnprojekte oder Engagementförderung. Anderen fällt es noch schwer, sich zu vernetzen mit Initiativen oder mit Angehörigen. Oder einfach in Freiheit neue Themen aufzugreifen. Vielleicht hindern alte Traditionen und Denkmuster den Neubeginn. Um das zu begreifen, muss man auf die grundlegenden sozialen Veränderungsprozesse der sechziger und siebziger Jahre schauen. Mit der Entwicklung zum „Wohlfahrtsstaat“ wurden die Rechtsansprüche des Einzelnen an die sozialen Sicherungssysteme formuliert. Soziale Einrichtungen erhielten eine auskömmliche Deckung der Selbstkosten. Und die soziale Arbeit wurde professionalisiert. So entstanden nicht nur in der Altenpflege und im Gesundheitssystem neue Berufe. Am Dienst der Gemeindeschwester lässt sich die damalige Differenzierung beispielhaft ablesen: Was heute Quartiersmanager, Sozialarbeiterin, Pflege- und Hauswirtschaftskräfte nur noch im Team leisten können, wurde bis in die achtziger Jahre von den Generalistinnen in der Schwesternstation gemanagt – inklusive Seelsorge und Begleitung der Familie. Aber ohne Einstufung, Abrechnung und Qualitätskontrollen – und auch ohne Wochenende und Vertretungsmöglichkeiten.

Vor fünfzig Jahren veränderten die Emanzipations- und Bürgerbewegungen Organisationen, Berufs- und Geschlechterrollen. Die sogenannten Frauenberufe wurden professionalisiert, die Berufstätigkeit von Frauen wurde selbstverständlicher. Zugleich entwickelten sich freie Partnerschaften neben der Ehe, die Zahl der Scheidungen nahm zu. Institutionen, Traditionen und Hierarchien wurden in Frage gestellt; es kam verstärkt zu Kirchenaustritten. Beruf, Lebensform und Glauben fielen auseinander. Diakonische Gemeinschaften öffneten sich für Mitarbeitende, die nicht evangelisch, aber Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) waren. Und in den Unternehmen schlossen sich unterschiedliche Gemeinschaften zusammen: Diakonen- und Diakonissengemeinschaften oder später dann Schwesternschaften aus Diakonissen und diakonischen Schwestern. Zugleich nahm die Bedeutung der Gemeinschaften ab; man setzte mehr und mehr auf Fachlichkeit, Professionalität und unternehmerisches Denken – und auf ein privates Leben nach Feierabend.

Heute zeigt sich: Am Ende des Professionalisierungswegs, unter dem ökonomischen Druck in allen Berufsfeldern, wächst der Wunsch nach Sinnerfahrung und Erfüllung im Beruf, nach freundschaftlichen Beziehungen und verlässlicher Zusammenarbeit am ArbeitsplatzDie Ideen des Anfangs werden wieder attraktiv. Menschen suchen persönliche Entwicklung in Bildungs- und Sabbatzeiten – es geht um Haltung, Ethik und Spiritualität. Gerade in sozialen Berufen will man ernst machen mit dem Slogan, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Assistenzdienste, Casemanagement, die Orchestrierung um die Leidenden und Sterbenden in der Palliativarbeit zeigen die Richtung. Dies geht einher mit der wachsenden Freiwilligenbewegung – in den Quartieren und auch in den Unternehmen. Wohnprojekte, Mehrgenerationenhäuser, Stadtteilarbeit und Sorgende Gemeinschaften gewinnen an Bedeutung. Neue Rituale an Schwellenzeiten entstehen. Das alles ähnelt den Ideen der Gründerzeit in der Diakoniebewegung. Auch damals ging es um Bildung, Beruflichkeit und Haltung. Gemeinschaften als Wahlfamilien und integrative Quartiersarbeit waren der entscheidende Gegentrend zu Globalisierung, gesellschaftlicher Spaltung, Überlastung von Familien und der Vernachlässigung von Kindern, Pflegebedürftigen, Sterbenden. Die Gründerinnen und Gründer schufen Netzwerke der geschwisterlichen Liebe gegen die globalisierten Netzwerke der Industrie und des Handels. Soziale Professionalität braucht Selbstreflexion, Beziehungs- und Gemeinschaftsorientierung. Und in den eigenen Leidenserfahrungen wachsen Empathie und Compassion. Diakonische Arbeit braucht Zusammenarbeit mit Patienten bei der Heilung, Zusammenarbeit untereinander und mit Akteuren von außerhalb, Zusammenarbeit bei der Bewältigung des schwer Erträglichen und eine gemeinsame Suche nach spirituellen Kraftquellen. Hier liegt die Bedeutung diakonischer Gemeinschaften als Impulsgeber für Unternehmen, Gemeinden und Dienstleister.

2. Beispiele für Vortragstitel

Diakonie als Lebensform und Lebensinhalt

„Grenzen, Gräben, Brückenbauer“ – Gemeinschaft als Akteure in diakonischen Unternehmen

Die Glut unter der Asche neu entfachen. Wie diakonische Gemeinschaft wärmt und trägt

3. Mein Erfahrungshintergrund

Zwischen 1998 und 2004 war ich Vorsteherin der Kaiserswerther Schwesternschaft, die sich in einem dreijährigen Prozess aus drei unterschiedlichen Gemeinschaften heraus entwickelte. In dieser Zeit entstand auch die Fliedner-Kulturstiftung. Während meiner Jahre in der EKD war ich für die unterschiedlichen diakonischen Gemeinschaften vom VEDD bis zum Kaiserswerther Verband, vom Zehlendorfer Verband für Evangelische Diakonie bis zur Johanniterschwesternschaft zuständig. Seitdem bin ich immer wieder in unterschiedlichen Gemeinschaften unterwegs – zur Beratung wie zu Vorträgen.

4. Mein Buch zum Thema und andere Publikationen

Die Seele des Sozialen, Neukirchen 2013

Eintrag „Diakon, Diakonisse“ im Evangelischen Soziallexikon, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2016

Interview über „Herausforderungen und Chancen von Gemeinschaften in Diakonischen Einrichtungen“ in: Neuerkeröder Blätter Nr. 103/2016